1990

Februar 1990

Auszug zweier Wohngruppen aus dem Stadthaus Schlump nach Lurup und Altona
Die WG 104 und 105 ziehen nach Lurup und Altona um. Sie verlassen ihren alten Wohnraum, die Krankenhausstationen des ehemaligen Rotkreuz-Krankenhauses am Schlump, um in neu gebaute 3- bis 5-Zimmer-Wohnungen zu ziehen.

Ein Mitarbeiter der Wohngruppe 105 kommentiert in einem Artikel des Umbruchs die Bedeutung neuer Organisationsstrukturen im Unternehmen:

„Eine VerĂ€nderung von einer Anstaltskultur hin zu einer Lebensweise fĂŒr behinderte Menschen, die einer sozialintegrativen und kulturellen ‚Allgemeinform‘ entspricht, muß sich seiner behindernden Mechanismen entledigen. Ein behindernder Mechanismus ist eine zentrale Lenkung und Planung der Versorgung von ĂŒber tausend behinderten Menschen vom Essteller ĂŒber Möbel bis zur Zahnpasta [
]. Entscheidungskompetenzen und mehr LebensnormalitĂ€t sowie Autonomie fĂŒr die Mitarbeiterteams werden sich unmittelbar auf das Leben der behinderten Menschen auswirken, und dann könnte ein Leben in NormalitĂ€t und im Gemeinwesen da ankommen, wo es dringend gebraucht wird – bei den institutionalisierten behinderten Menschen!“

(s. Frank, Rudolf [WG 105/Stadthaus Schlump] 1990, Zentral gelenkte Normalisierung? Unsere Erfahrungen vor dem Umzug, in: ESA [Hg.], Umbruch. Mitarbeiter-Zeitschrift der Ev. Stiftung Alsterdorf Nr. 2/Februar 1990, ArESA, Hamburg, S. 5)

MĂ€rz 1990

Die Regionalisierung auf dem PrĂŒfstand
Die neuen Strukturen sind etabliert, die Regionalleitungen und WohnstĂ€ttenleitungen sind vollstĂ€ndig. Dennoch fehlt es an Mitteln, um zusĂ€tzliche Freizeitangebote und Lernmöglichkeiten zu etablieren. Pastor Rudi Mondry unterstreicht hierbei zwei wichtige Dinge: Erstens gilt fĂŒr die Wohngruppen, die auf dem GelĂ€nde verblieben sind, dasselbe wie fĂŒr die Außenwohngruppen. Auch sie sollen kleiner werden und von neuen, individualisierten Hilfsangeboten profitieren können. DarĂŒber hinaus sieht er die Notwendigkeit, das GelĂ€nde zu öffnen und auch der umgebenden Bevölkerung Angebote zu machen. Dabei sind sich jedoch die vier Regionalleitungen einig, dass dies nicht ohne eine finanzielle StĂŒtzung durch die BAGS (Behörde fĂŒr Arbeit, Gesundheit und Soziales) geht.

(Vgl. GR [VerfasserkĂŒrzel] 1990, Wie weiter mit der Regionalisierung. Nach der Neugliederung des Behindertenbereichs, in: ESA [Hg.], Umbruch. Mitarbeiter-Zeitschrift der Ev. Stiftung Alsterdorf, Nr. 3/MĂ€rz 1990, ArESA, Hamburg)

Konzept zur Regionalisierung der Behindertenhilfe in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, Pastor R. Mondry“ in: ArESA DV 1922 06/1988 und ArESA BWB 20

April 1990

Ideen zur Umgestaltung des AnstaltsgelÀndes
Zur Gestaltung des ZentralgelĂ€ndes heißt es im Umbruch:

„Seit lĂ€ngerem gibt es PlĂ€ne: das GelĂ€nde sollte sich zum Stadtteil öffnen und mit Freizeit-, Sport- und Einkaufsangeboten die Nachbarn anlocken; die Straßen könnten Namen, die HĂ€user statt altertĂŒmlicher Anstaltsnamen Hausnummern bekommen; nicht behinderten Menschen sollten Wohnungen auf dem GelĂ€nde angeboten werden; die HĂ€user könnten mehr als bisher einzelne GĂ€rten erhalten [
].“

(s. o. N. 1990, Ein Ortsteil im Stadtteil. Wie weiter mit dem ZentralgelÀnde, in: ESA [Hg.], Umbruch. Mitarbeiter-Zeitschrift der Ev. Stiftung Alsterdorf Nr. 4/April 1990, ArESA, Hamburg, S. 1)

Der Weg der Selbstbestimmung als Entwicklungsweg, nicht als Entwurzelung
Im April erscheint ein umfĂ€ngliches Konzeptpapier der neuen Regionalleitungen (Anna-Maria Baresch, Thomas DĂŒhsler, Heinz-Adolf Giese, Klaus Kern, Theodorus Maas u. a.). Im Kapitel „Ausblick“ formuliert Thomas DĂŒhsler:

„Der Paradigmenwechsel fĂŒr die Behindertenhilfe hat fĂŒr die Ev. Stiftung die Konsequenz, im Gruppenalltag von einem Overprotektionsverhalten bei Betreuern dem Behinderten gegenĂŒber zu einer lebensbegleitenden Hilfe zu kommen [
]. Je nach Schwere der Behinderung und zu bewĂ€ltigender Lebenssituation geht es dabei darum, – daß der Einzelne die Dinge selbst tun darf, die er tun kann, dazu angeregt, ermuntert und angeleitet wird, – daß er lernen darf, was er noch nicht kann und dafĂŒr Hilfestellung erfĂ€hrt, daß andere fĂŒr ihn Dinge tun, die er selbst nicht und noch nicht kann.“

(s. DĂŒhsler, Thomas 1990, Regionalisierte Wohnformen fĂŒr Behinderte der Evangelischen Stiftung Alsterdorf; ArESA, DV 1922, Hamburg)

Anna-Maria Baresch, verantwortlich fĂŒr die pĂ€dagogische Leitung der Region Nord, spricht von einer notwendigen Behutsamkeit und SensibilitĂ€t im Entwicklungsvorgang der Selbstbestimmung fĂŒr Menschen mit Behinderung. Es gilt, das Ausmaß der Verhaftung an die alte Lebensweise der Bewohner*innen sehr ernst zu nehmen und nicht zu ĂŒbergehen. Hilfsangebote mĂŒssen den Einzelnen in seiner konkreten Lebenssituation erreichen.

(vgl. Baresch, Anna-Maria / u. a. 1990, 04 / 1990 – VerĂ€nderungen in der Behindertenhilfe, Perspektiven der 90er Jahre in der Ev. Stiftung Alsterdorf. Stellenbedarfe, ArESA DV 83, Hamburg)

Juni 1990

Die Entwicklung der ESA in der 1990er-Dekade
Vorstand und Stiftungsrat geben eine Pressekonferenz zur Entwicklung der ESA in den 1990er-Jahren. Pastor Rudi Mondry verdeutlicht in seinem Beitrag die Eckpfeiler der zukĂŒnftigen Entwicklung, deren Verwurzelung im Leitbild, aber auch die dringend erforderlichen Rahmenbedingungen:

„1. Unser diakonischer Auftrag
Der diakonische Auftrag fordert die ESA heraus: Unsere Aufgabe: Schaffung eines attraktiven Lebensraums fĂŒr Hilfe-Empfangende und Hilfe-Leistende, in dem etwas von der befreienden Kraft Gottes geglaubt und gespĂŒrt werden kann [
].

2. Die Angebote der Stiftung mĂŒssen weiterentwickelt werden
Wir waren eine Anstalt: Die behinderten Menschen [Menschen mit Behinderung] lebten in einem Ghetto in großen Gruppen, anstaltsmĂ€ĂŸig gekleidet, verpflegt, versorgt, entmĂŒndigt. Seit einigen Jahren verbessern wir in großen Schritten die Lebens- und Wohnbedingungen bei uns. Wir folgen dem Normalisierungsprinzip [
]. Wir finden [
] bei unserem KostentrĂ€ger grundsĂ€tzliche UnterstĂŒtzung fĂŒr unsere Ziele und PlĂ€ne [
]. Das Gesamtpaket ist höchst dringlich: Wenn wir nicht bald die Arbeitssituation, auch und vor allem durch eine verstĂ€rkte Regionalisierung, durch weitere Verkleinerung der Wohngruppen und durch eine Aufstockung des Stellenplans entscheidend verbessern, wird auch bei uns der Pflegenotstand Einzug halten [
].

3. FĂŒr die Entwicklung der Stiftung mĂŒssen auch die Rahmenbedingungen stimmen

  1. Ertragssicherung und wirtschaftliche SoliditÀt sind die Basis.
  2. Zentrale Versorgung und Verwaltung mĂŒssen sich den neuen Strukturen der Behindertenhilfe anpassen.
  3. Dezentralisierung bedeutet auch eine neue FĂŒhrungskultur.“
(s. Mondry, Rudi 1990, Die Entwicklung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in den 90er Jahren, in: ESA [Hg.], Umbruch. Mitarbeiter-Zeitschrift der Ev. Stiftung Alsterdorf Nr. 7 und 8/Juli und August 1990, ArESA, Hamburg, S. 3 f.)

Oktober 1990

Die Heilerzieherhelfer-Ausbildung wird eingestellt
Seit zehn Jahren gibt es in Alsterdorf neben der Kinderpfleger*innen-Schule zwei weitere pĂ€dagogische Qualifizierungsmöglichkeiten: Die seit Mitte der 1970er-Jahre bestehende Fachschule fĂŒr Heilerziehung, hier werden grundstĂ€ndig in einer dreijĂ€hrigen Fachschulausbildung angehende staatlich anerkannte Heilerzieher*innen qualifiziert, und die seit zehn Jahren bestehende Heilerzieherhelfer-Ausbildung, die separat zur Fachschule fĂŒr Heilerziehung organisiert ist. Die berufsbegleitende Heilerzieherhelfer-Ausbildung wird im FrĂŒhjahr 1991 mit Auslaufen des letzten Kurses eingestellt.

In einem Interview mit dem Umbruch berichtet die Leiterin, Brigitte McManama, von strukturellen Problemen des Ausbildungsangebots und Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit anderen Stiftungsbereichen:

„Hier zeigte sich der erste Geburtsfehler der neuen Heilerzieherhelfer-Ausbildung: Sie war nicht mit den beiden anderen Alsterdorfer Ausbildungsangeboten koordiniert, Zielsetzungen und StoffplĂ€ne waren nicht abgestimmt. Übergangs- und Aufbaumöglichkeiten nicht geregelt, so blieben RivalitĂ€ten nicht aus – zu Lasten der SchĂŒlerInnen und MitarbeiterInnen. [
]

10 Jahre lang hat die Heilerzieherhelfer-Ausbildung versucht, als Heilerziehungs-Pflege-Ausbildung anerkannt und aufgewertet zu werden – vergeblich. Denn das hĂ€tte wiederum der Alsterdorfer Heilerzieher-Schule Probleme bereitet, die beiden Ausbildungen wĂ€ren unmittelbare Konkurrenten geworden.“

(s. GR [VerfasserkĂŒrzel] 1990, Fachlich, aber nicht staatlich anerkannt. Heilerzieherhelfer-Ausbildung wird eingestellt, in: ESA [Hg.], Umbruch. Mitarbeiter-Zeitschrift der Ev. Stiftung Alsterdorf Nr. 10/Oktober 1990, ArESA, Hamburg, S. 1)