Einleitung
Seit Beginn der 1980er Jahre arbeitet die Evangelische Stiftung Alsterdorf (ESA) konsequent an der Abschaffung der Sonderwelten in der Eingliederungshilfe. So sind in den letzten 40 Jahren zentrale stationĂ€re Heimstrukturen und das ehemalige âAnstaltsgelĂ€ndeâ in Alsterdorf sukzessive aufgelöst worden. Die meisten Menschen mit Behinderung leben heute stadtteilintegriert in ihren eigenen Wohnungen bzw. arbeiten in inklusiven Settings. Das StiftungsgelĂ€nde selbst wurde modellhaft zu einem inklusiven Quartier weiterentwickelt. FĂŒr diesen Weg gab es keine Blaupause, und die VerĂ€nderungsbereitschaft und SelbsterfindungskrĂ€fte der Mitarbeiter*innen, FĂŒhrungskrĂ€fte, der Menschen selbst und der Partner*innen v.a. in Behörden, Politik, Gewerkschaft, Kirche und der Wohnungswirtschaft waren enorm gefordert.
Der Transformationsprozess verlief dynamisch bzw. agil und war notwendig auf Kooperation zwischen allen Akteuren angelegt. Zugleich war der Prozess verbunden mit erheblichen WiderstĂ€nden, Unsicherheiten, Risiken und vielfĂ€ltigen Diskussionen. Die Orientierung und der Rahmen bilden der feste Wille und das gemeinsame Ziel, echte Teilhabechancen fĂŒr Menschen mit Behinderung zu verwirklichen und Strukturen fĂŒr gelebte Inklusion zu schaffen.
UnterstĂŒtzt hat uns in den letzten 20 Jahren die Aneignung und Weiterentwicklung des Fachkonzepts der Sozialraumorientierung – als konzeptioneller Hintergrund fĂŒr das Handeln in den zahlreichen Feldern der sozialen Arbeit.
Damit das Wissen und die Erfahrungen dokumentiert, bewahrt und eingeordnet werden können, hat die ESA diese Chronik der Eingliederungshilfe von 1980 bis 2019 in digitaler Form erstellt. Diese kann auch zukĂŒnftig als Fundament fĂŒr weitere Forschungen und Bewertungen herangezogen werden. Im Mittelpunkt dieser Chronik stehen die Art und Weise, wie die Institution der frĂŒheren âAlsterdorfer Anstaltenâ und die dort tĂ€tigen Menschen mit dem Wandel umgegangen sind. Dabei ist ein Mosaik aus Dokumenten, Bildern und Berichten von Zeitzeug*innen in Videos entstanden. Die einzelnen Phasen lassen sich mit den Ăberschriften von der âNormalisierungâ ĂŒber die âIntegrationâ bis hin zur âSelbstbestimmung, Teilhabe und Inklusionâ beschreiben.
Der Blick in die Chronik zeigt auch, wie wichtig es ist, immer wieder das eigene Handeln zu ĂŒberprĂŒfen. Die Wege zur Inklusion sind noch lange nicht zu Ende und bleibt eine Aufgabe aller in unserer Gesellschaft.
Unser Dank gilt all denen, die zum Wissensschatz dieser Chronik beigetragen und ihre Erfahrungen in Interviews und BeitrĂ€gen geteilt haben. Klar ist auch: Die Chronik hat keinen Anspruch auf VollstĂ€ndigkeit und kann weiter gefĂŒllt und ergĂ€nzt werden. Allen Nutzer*innen wĂŒnschen wir neue Erkenntnisse, viel SpaĂ beim Stöbern und Wiedererkennen.
Wir freuen uns ĂŒber Ihre RĂŒckmeldungen, .
Hanne Stiefvater, Herausgeberin und VorstÀndin der ESA seit 2014
Reinhard Schulz, Autor und ehemaliger langjĂ€hriger GeschĂ€ftsfĂŒhrer der alsterarbeit.
Hamburg, 2023
1980 – 1989
Normalisierung und Integration â und ihre Umsetzung in den Alsterdorfer Anstalten
âEs ist nicht Sinn und Ziel des Normalisierungsprinzips, Behinderte so normal, d. h. unauffĂ€llig und angepaĂt wie möglich zu machen. Im Gegenteil geht es darum, die Lebensbedingungen zu normalisieren, d. h. Behinderte in ihren Möglichkeiten allen anderen BĂŒrgern eines Landes gleichzustellen. Sie sind Teil des Spektrums der Unterschiedlichkeit der Menschen eines Volkes, das als normal anzusehen ist. Der Bezug zur Bevölkerung des Landes verleiht dem Normalisierungsprinzip weltweite GĂŒltigkeit.â
(Bank-Mikkelsen, Niels Erik 1985, Integration within the community, in: Hamburger Spastikerverein [Hg.] 1985, Internationales Symposium âWas heiĂt hier wohnen?â, Tagungsbericht 26.â30. April 1985, Hamburg, S. 201)
âIntegration ist nur das Mittel zur Erreichung des Hauptzieles sozialer und erzieherischer Einrichtungen, der Normalisierung.â
1990 – 1999
Das gesetzliche Recht auf Selbstbestimmung â seine Umsetzungspraxis in der Eingliederungshilfe der Evangelischen Stiftung Alsterdorf
âMenschen mit Behinderungserfahrungen haben einen Anspruch auf Entwicklung in gröĂtmöglicher UnabhĂ€ngigkeit von Fremdbestimmung. UnterstĂŒtzung und Assistenz sind somit unter BerĂŒcksichtigung eines individuellen HöchstmaĂes an Selbstvertretung und Autonomie zu realisieren.â
(s. Schuppener, Saskia 2016, Selbstbestimmung, in: Hedderich/Biewer/Hollenweger/Markowetz [Hg.], Handbuch Inklusion und SonderpĂ€dagogik, Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, S. 108â112)
2000 – 2009
Gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft â Umsetzung in der Eingliederungshilfe der Evangelischen Stiftung Alsterdorf
âWenn [âŠ] ein Leben in der Gesellschaft angestrebt wird, dann mĂŒssen die Barrieren in den Blick genommen werden, die fĂŒr Ausgrenzung und Besonderung verantwortlich sind. Die Gesellschaft mit all ihren Strukturen und Angeboten muss zugĂ€nglich sein. [âŠ]
(s. Ulrich Niehoff o. J., Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, www.lebenshilfe.de/fileadmin/Redaktion/Bilder/LandingPages/Geschichte/Downloads/2000Niehoff-Inklusion.pdf, Abruf: 03.05.2022)
Die Umwelt barrierefrei zu gestalten wird mit zeitlicher Verzögerung gegenĂŒber Menschen mit körperlichen und/oder SinnesbeeintrĂ€chtigungen nun auch fĂŒr Menschen mit intellektueller BeeintrĂ€chtigung aktuell, drĂ€ngend und relevant.â
2010 – 2019
Inklusion und Sozialraum â Umsetzung in der Eingliederungshilfe der Evangelischen Stiftung Alsterdorf
âSozialraumorientierung beinhaltet nicht nur den Impuls, langjĂ€hrig gepflegte Sonderwelten zu verlassen, sondern auch und insbesondere den Hinweis darauf, Lebenswelten (âsoziale RĂ€umeâ) jedweder Art zu nutzen, sich anzueignen und sie fĂŒr alle Menschen zu lebenswerten Orten zu entwickeln â auch in der Debatte um Inklusion geht es genau um diesen Impetus.â
(s. Hinte, Wolfgang Prof. Dr. 2021, Beitrag zum Dokumentationsprojekt Entwicklung der Eingliederungshilfe in der ESA 1980â2010, S. 1)