Das Inklusive Sengelmann-Quartier 2010-2020

Von Thies Straehler-Pohl

2010: Blick zurück

Die Eröffnung des Alsterdorfer Marktes liegt zu Beginn der Dekade knapp 8 Jahre zurück. Nach den umfangreichen und kostenintensiven Neubau-, Umzugs- und Abrissprozessen folgte die langjährige Begleitung, Moderation und Mediation der dadurch ausgelösten tiefgreifenden sozialen Veränderungsprozesse. Ob die Umsetzung der Vision der Öffnung einer seit vielen Jahrzehnten abgeschirmten Sonderwelt gelingen würde war 2003 schwer abzusehen. Ebenso stand es in den Sternen, ob die „Wünschenswerte Normalität“ auf dem Alsterdorfer Markt einkehren würde, wie es die damalige Bürgerschaftspräsidentin Dorothee Stapelfeldt bei ihrer Eröffnungsrede formulierte.

Das Quartierszentrum Alsterdorfer Markt

Im Jahr 2010 kann festgestellt werden: der Konversionsprozess war ein voller Erfolg. Deutschlandweit, aber auch aus dem Ausland kommen regelmäßig Besuchergruppen aus dem Bereich der Behindertenhilfe, um den Alsterdorfer Markt zu besichtigen und mehr über den Weg dorthin zu erfahren.

Die Lokale Ökonomie ist auch 2010-2020 für die Belebung ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Pull-Faktor, der den Alsterdorfer Markt belebt. Das zu Beginn der Eröffnung etablierte Prinzip aus zugkräftigen Ankermietern wie Edeka, Aldi und Rossmann funktioniert. Zusammen mit der Gastronomie und den kulturellen Angeboten, wie dem stets gut besuchten Sommerkino, tragen die Einkaufsmöglichkeiten mit ihren engagierten Mitarbeiter*innen viel zu den alltäglichen Begegnungen von Menschen mit und ohne Behinderung und einem inklusiven Miteinander bei. Darüber hinaus stärkt das Sengelmann-Quartier in dieser Dekade seine Funktion als Kompetenz-Cluster für Beratung und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung. Neben etablierten Innovationseinrichtungen wie beispielsweise dem sozialpädiatrischem Werner-Otto-Institut, entsteht am Ev. Krankenhaus das Sengelmann Institut für Medizin und Inklusion. Das Hamburger Autismus Institut ebenso wie das neu gegründete und vom Hamburger Senat geförderte Kompetenzzentrum für Barrierefreiheit werden Mieter*innen am Alsterdorfer Markt (Lageplan).

Im Jahr 2016 kann die Stiftung, ermöglicht durch die Spende eines privaten Unternehmens, endlich einen Geburtsfehler des Marktplatzes beheben. Die Geschäfte am Markt waren zwar von Beginn an mit ebenerdigen Zugängen geplant worden, der Weg dorthin aufgrund des Kleinsteinpflasters jedoch alles andere als Barrierefrei. Bei der Umplanung im Jahr 2016, bei der die Nutzer*innen des Marktplatzes von Beginn an einbezogen werden, wird ein Wegesystem aus ebenem Pflaster entwickelt, das alle Eingänge erschließt. Der haptische Unterschied zwischen Wegen und umliegender Pflasterung hilft auch blinden und sehbehinderten Menschen, die mit einem Langstock unterwegs sind, bei der Orientierung. Im Zuge des Umbaus werden zudem eine bessere Beleuchtung und mehr Sitzgelegenheiten realisiert.

Nach Abschluss des Marktplatzumbaus beginnt die die Stiftung mit der Überplanung der in Nachbarschaft zum Markt glegenen, verwilderten Grünfläche. Auch hier ist das Ziel mehr Barrierefreiheit und mehr Aufenthaltsqualität. Drei Jahre später ist die Umwandlung des ehemaligen Anstalt-Parks zu einem inklusiv nutzbaren Quartierspark abgeschlossen.

Abgesehen von Marktplatz und Park, bleibt die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum während der Jahre 2010-2020 an vielen Stellen ein Flickenteppich. Für umfassende Maßnahmen im gesamten Quartier fehlen der Stiftung die finanziellen Mittel. Entsprechend finden Verbesserungen punktuell und Abschnittsweise dort statt, wo ohnehin Bauarbeiten durchgeführt werden müssen.

2018 gelingt schließlich ein wichtiger Meilenstein, sowohl was die Gewerbeentwicklung als auch die Entwicklung hin zu einem inklusiven Quartier angeht: Der ansässige Edeka-Markt hat nach jahrelanger Planung und über einjähriger Bauphase die Verdopplung seiner Verkaufsfläche von 1.000 auf fast 2.000 m² abgeschlossen. Die Erweiterung wurde verknüpft mit verschiedenen Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit, wie breiteren Gängen, guter Beleuchtung, einer schalldämmenden Deckenabhängung, gut lesbaren Preisschildern, Sitzgelegenheiten und einer barrierefreien Toilette. Die Bauabteilung der ESA begleitete die Planungen eng und bezog auch die Experten des Vereins Barrierefrei Leben zur Begutachtung der geplanten Maßnahmen ein.

Das Miteinander von Gewerbetreibenden, Besucher*innen sowie neuen und alten Anwohner*innen wird in den Jahren dieser Dekade nicht mehr so intensiv begleitet werden, wie zu Beginn der Öffnung. Das wird von den Gewerbetreibenden bemängelt, wenn es zu Konflikten zwischen Menschen mit Behinderung mit ihren Kunden bzw. Angestellten kommt. Aber auch Menschen mit Behinderung finden sich in den Geschäften nicht immer angemessen behandelt. Für diese Konflikte, so hat die Erfahrung gezeigt, lassen sich seitens der Stiftung keine endgültigen Lösungen finden. Vielmehr sind dies notwendige Aushandlungs- und Lernprozesse auf dem Weg zu einem inklusiven Miteinander im Quartier. Und genau weil der Alsterdorfer Markt, wie kein anderer Ort in Hamburg Begegnung und Kommunikation zwischen Menschen mit und ohne Behinderung ermöglicht, wird er schließlich im Jahr 2017 vom Hamburger Senat als „Wegbereiter der Inklusion“ ausgezeichnet.

Wohnen im Sengelmann-Quartier

Zu Beginn der Dekade, 2010, leben geschätzt etwa ca. 600 Menschen im Quartier, darunter viele Menschen, die schon zu Zeiten des Zauns hier gewohnt haben. Die letzten Wohn-Neubauten gehen auf die Zeit der Eröffnung des Alsterdorfer Marktes zurück und wurden ausschließlich für Menschen mit Behinderung geplant. Bevor es zu den ersten Schritten einer inklusiven Nachverdichtung mit „durchmischten“ Nachbarschaften kommt, wird im Jahr 2011 die Wohnunterkunft Carl-Koops-Haus abgerissen, in der einst bis zu 220 Menschen mit Behinderung in 2-3-Bett-Zimmern lebten. Zwei Jahre später ziehen die letzten Menschen aus dem Wilfried-Borck-Haus aus, dem letzten Relikt der Heimstrukturen im Quartier. Damit ist ein wichtiger Meilenstein erreicht: Alle Menschen mit Behinderung im Sengelmann-Quartier leben nun statt in Mehrbett-Zimmern in Einzelappartements oder Wohngruppen.

Mit Fertigstellung des Neubau-Projektes „Alsterdorfer Gärten“ im Jahr 2013 ziehen nach Jahrzehnten des Einwohnerrückgangs, gut 300 Menschen mit und ohne Behinderung und mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen in das Sengelmann-Quartier: Ein wichtiger erster Schritt in Richtung inklusives Wohnen für die Stiftung. Entwickelt wurde das Projekt in einer töchterübergreifenden Kooperation von alsterdorf assistenz west und ost, dem psychosozialen Zentrum Trevita sowie der Immobilienabteilung der Stiftung. Da es eine solche Kooperation bei den ansonsten sehr eigenständig agierenden Stiftungstöchtern Neuland ist, ist es nicht verwunderlich, dass der Entwicklungsprozess von einigen Beteiligten als holperig beschrieben wird. Ein Knackpunkt ist die Konkurrenz bei der Reservierung von Wohnungen für die jeweiligen Klienten*innen. Dies führt dazu, dass der Anteil von Menschen mit Unterstützungsbedarf im Quartier relativ hoch ist. Vor diesem Hintergrund und aus der Erkenntnis heraus, dass in den ersten Jahren die entscheidenden Weichen für ein gelingendes Miteinander gelegt werden, entscheidet sich die Stiftung, der Nachbarschaft für zunächst drei (später verlängert auf fünf) Jahre, eine Quartiersbegleitung an die Seite zu stellen. Angedockt an den Bereich Q8 – Sozialraumorientierung, unterstützt Quartiersbegleitung erfolgreich die Nachbar*innen beim Ankommen, Zusammenwachsen und bei der Eigenorganisation. Über die gemeinsame Finanzierung und die inhaltliche Begleitung der Stelle durch regelmäßige Arbeitstreffen, entwickelt sich auch das Verhältnis der Kooperationspartner weiter, hin zu einer vertrauensvollen und konstruktiven Zusammenarbeit.

Mit dem „Masterplan inklusive Wohnentwicklung Sengelmann-Quartier“ entwickelt die Stiftung im Jahr 2016 erstmalig eine Gesamtperspektive für das Thema Wohnen im Quartier. Es wird unter anderem das Ziel formuliert, dass alle Bewohner*innen des Sengelmann-Quartiers zukünftig in inklusiven Nachbarschaften leben sollen.

Basierend auf den inhaltlichen Eckpunkten des Masterplans, beginnt ab 2017 die Konzeptentwicklung für das Koops-Quartier, das auf dem Grundstück des ehemaligen Carl Koops-Hauses entstehen wird. An der inhaltlichen Ausgestaltung des Koops-Quartiers sind von Anfang an die beiden Assistenzgesellschaften, das Epilepsie-Projekt des Evangelischen Krankenhauses und die Immobilienabteilung beteiligt. Koordiniert wird die Konzeptentwicklung durch die Stelle der inklusiven Quartiersentwicklung, die ebenfalls am Bereich Q8 – Sozialraumorientierung angedockt ist. Auch vor dem Hintergrund des Lernprozesses aus der Entwicklung der Alsterdorfer Gärten, verläuft die Zusammenarbeit von Beginn an sehr konstruktiv. Kernelemente des gemeinsam entwickelten Konzepts werden die inhaltliche Grundlage für einen beschränkten städtebaulichen Wettbewerb (Programmheft). Der Gewinnerentwurf sieht eine offene, einladende Bebauungsstruktur vor, die die Integration des Quartiers sowohl in den Park als auch das gesamte Umfeld befördern soll.

In dem Entwurf enthalten sind u.a. eine fast durchgehende Barrierefreiheit von Wohnungen und Außenraum sowie vielfältige Wohnungsgrößen mit Grundrissen für unterschiedlichste Konzepte von Familien-, Paar- und Single-Wohnen. Es werden Wohnungen mit spezieller, Epilepsiegerechter Ausstattung geplant, Rollstuhlgerechte Wohnungen für Familien mit behinderten Kindern sowie zwei Gemeinschaftsräume. Mit dem Ziel, eine engagierte Nachbarschaft zu fördern, nimmt die Stiftung erstmalig in ihrer Geschichte eine Baugemeinschaft auf, die von Anfang an in die Planung einbezogen ist. Die Baugemeinschaft „Koopser Köppe“ hatte in einem seitens der Stiftung durchgeführten Casting-Verfahren mit ihrem Konzept gepunktet, das u.a. generationenübergreifendes Wohnen sowie eine in Eigenregie organisierte WG für Menschen mit Behinderung beinhaltet. Gut zwei Drittel der geplanten 90 Wohnungen des Koops-Quartiers entstehen im geförderten Wohnungsbau, ein Drittel als freifinanzierte Mietwohnungen.

Im Dezember 2020, kurz vor Weihnachten und kurz vor Abschluss der Dekade, erfolgt die Baugenehmigung. Mit einer Fertigstellung wird Mitte des Jahres 2023 gerechnet. Dann werden mit den über 200 neuen Bewohner*innen des Koops-Quartiers voraussichtlich gut 1.100 Menschen im Sengelmann-Quartier leben – und zu seiner Belebung beitragen.

2020: Blick nach vorne

Die Entwicklung des Alsterdorfer Marktes und der Abriss des Zaunes war von einer klaren Vision geprägt: Öffnung. Trotzdem wird sich dieses Quartier auch in Zukunft noch deutlich vom restlichen Alsterdorf und auch von anderen Hamburger Stadtteilen unterscheiden. Hier leben mehr Menschen mit Behinderung, das fällt auf und das ist auch gut so. Das Quartier war, lange bevor es zu einem Ort für Alle wurde, die Heimat, mit allen guten und schlechten Seiten, von Menschen, die in der Gesellschaft ausgegrenzt wurden und immer noch werden. Jetzt ist daraus ein Ort geworden, an dem Inklusion geübt werden kann. Als Such- und Lernprozess für ein besseres „Normal“, der noch lange nicht zu Ende ist. Ebenso war es in dieser Dekade ein Suchprozess, wie die Vision „Öffnung des Stiftungsgeländes“ zur Vision „Inklusives Sengelmann-Quartier“ weiterentwickelt bzw. mit Leben gefüllt werden kann. Dazu sind viele gute Pfade gelegt worden, längst nicht alle konnten in diesem Text aufgegriffen und ausreichend gewürdigt werden. Eine Erkenntnis ist, dass die Zeiten des ganz großen Wurfs, wie es die Eröffnung des Alsterdorfer Marktes und seiner Infrastruktur war, vorbei sind. Die Entwicklungen hin zu mehr Inklusion müssen nun kleinteiliger erfolgen. Es geht darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, dass sich inklusive Prozesse entfalten können. Dazu gehört der Ausbau von Barrierefreiheit, die inklusive Ausrichtung von Wohnen, sowohl im Neubau als auch im Bestand sowie das Schaffen von inklusiven Arbeitsplätzen bei den externen Mieter*innen, aber auch bei der Stiftung selbst.

Um hier voran zu kommen, braucht es Lust auf Innovation, Kooperation mit internen und externen Partner*innen und inklusive Beteiligungsprozesse, in denen sich die Menschen vor Ort bei der Weiterentwicklung einbringen können. Es sind also dicke Bretter, die noch gebohrt werden müssen. Und bei allem Gestaltungsanspruch, den die Stiftung hat, sollte sie darauf achten, dem Quartier, den Anwohner*innen, Gewerbetreibenden, Mitarbeitenden und Gästen genug Freiräume zu lassen und sie ermutigen selber (noch) aktiver Inklusion voran zu treiben.