01 / 1999 – Interview mit Stefani Burmeister, Claudia Orgaß und Ilse Westermann

Teilnehmende

Monika Bödewadt

Stefani Burmeister

Claudia Orgaß

Ilse Westermann

Reinhard Schulz

Interview / Text

Bödewadt: Ich begrüße Sie hier zum Interview. Mein Name ist Monika Bödewadt. Wenn Sie sich einmal bitte vorstellen mögen.

Burmeister: Hallo, mein Name ist Stefani Burmeister. Ich bin aktuelle Geschäftsführerin der alsterarbeit gGmbH und habe in der Stiftung Alsterdorf 1999 als damalige Wohnhausleitung des Wohnhauses Lohbrügger Landstraße in Bergedorf angefangen.

Orgaß: Hallo, ich bin Claudia Orgaß. Ich bin seit 34 Jahren in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, habe 1987 im Carl-Koops-Haus angefangen und bin heute seit zehn Jahren im Sozialraum tätig, habe acht Jahre im Q8-Projekt gearbeitet und bin aktuell Projektleitung in dem Projekt Nachbarschaftszirkel.

Westermann: Hallo, mein Name ist Ilse Westermann. Ich bin inzwischen Rentnerin und habe meine Tätigkeit gerade beendet. Insgesamt war ich von 1976 bis 1988 in den damaligen Alsterdorfer Anstalten tätig und habe dann von 2003 bis 2021 noch mal meine Tätigkeit in unterschiedlichen Funktionen aufgenommen.

Schulz: Ja, mein Name ist Reinhard Schulz. Ich organisiere das Projekt Entwicklung der Eingliederungshilfe der letzten vier Jahrzehnte in der Stiftung Alsterdorf und freue mich auf das Interview mit Ihnen zusammen.

Sie haben schon begonnen mit der Beantwortung der Frage, wie lange Sie dabei sind. Mögen Sie noch mal kurz sagen: Wie waren Ihre Eindrücke, als Sie damals in der Stiftung begonnen haben?

Burmeister: Als ich 1999 in Bergedorf als Wohnhausleitung in der Lohbrügger Landstraße angefangen habe, fand ich das unglaublich spannend, weil wir uns auf den Weg gemacht haben. Es hieß: Wir müssen das Stiftungsgelände auflösen. Ich habe in Bergedorf angefangen. Ich fühlte mich als Leitung total verortet dort, hatte eigentlich mit der Stiftung Alsterdorf gar nicht so viel zu tun, bin immer nur nach Alsterdorf gefahren, weil ich zur Personalabteilung musste – früher musste man ja noch die Sachen hin- und herbringen, das ging ja noch nicht mit Mail und so schnell –, und dann bin ich immer mal mit dem Bus nach Alsterdorf gefahren, habe Bewohner mitgenommen und wir haben einen Ausflug dorthin gemacht, wo die Menschen vorher gelebt haben. Und das war aufregend, spannend und interessant. Sonst ging es immer so ein bisschen darum, dass das Stiftungsgelände sich weiter auflösen und entwickeln musste. Das war das Spannende damals, zu Anfang der Arbeit in der Stiftung.

Schulz: Wie war’s bei Ihnen? [zu Frau Orgaß gewandt]

Orgaß: Als ich 1987 das erste Mal aufs Gelände der Stiftung Alsterdorf kam, gab es noch die Alsterdorfer Anstalten. Das war damals in meinem Bewusstsein komplett richtig so. Ich konnte mir noch gar nicht vorstellen, wie es anders hätte sein können. Also da lebten 1.200 Menschen mit Behinderung auf dem Gelände. Es gab bei mir noch keine Fantasie, wie das anders hätte sein können. Es ging relativ schnell los, dass sich meine Vorstellungen völlig auf den Kopf gestellt haben, dass ich dachte: Nein, das ist nicht normal, so wie es ist! Ich habe dann immer schon angefangen, alles Mögliche außerhalb des Stiftungsgeländes zu tun, was auf Widerstand stieß, weil viele von den Mitarbeitenden das überhaupt nicht wollten.

Schulz: Wie war’s bei dir?

Westermann: Ich habe ja 1976 die Alsterdorfer Anstalten über meine damalige Kirchengemeinde kennengelernt und mich hat das sehr berührt. Mir war bis dahin gar nicht klar, dass so viele Menschen unter solchen Bedingungen so ganz anders lebten, als wir damals schon lebten. Ich habe dann dort ein Jahr ehrenamtlich gearbeitet und habe mich danach für eine Ausbildung in der Stiftung entschieden und bin dann in dieses Zeitalter der Normalisierung hineingewachsen. Das war für uns damals der Start, um die Situation zu verändern und zu verbessern.

Schulz: Dann hast du ein zweites Mal wieder in der Stiftung angefangen?

Westermann: Genau. Ich habe 1988 aufgehört, denn ich habe immer mit Menschen mit umfänglichem Assistenzbedarf gearbeitet und hatte das Gefühl, ich muss mal raus, sonst schaffe ich das nicht mein Leben lang. Und habe dann 2003 im Bergedorfer Kontext wieder angefangen unter anderen Bedingungen, habe aber Menschen wiedergetroffen, die ich noch aus den 1970er-Jahren kannte, was mich persönlich sehr berührt hat. Und da haben mich Menschen mit meinem damaligen Mädchennamen begrüßt, was mich, glaube ich, noch einmal mehr motiviert hat, dann in Bergedorf diese Tätigkeit als Wohnhaus- oder Assistenzteamleitung aufzunehmen.

Schulz: Das führt direkt zu dem Thema Wohnangebote in Bergedorf. Die 1990er-Jahre standen unter der Überschrift Selbstbestimmung und Ende 1990 gab es die große Bewegung, dass große Wohnhäuser aufgelöst wurden, Stichwort Karl-Witte-Haus. Was gibt es da sozusagen an Erfahrungen in Richtung Bergedorf?

Orgaß: Ich glaube, dazu kann ich etwas sagen, weil ich 1999 das Auszugsprojekt aus dem Karl-Witte-Haus mit zwei Kollegen zusammen geleitet habe. Da waren noch knapp 180 Menschen im Witte-Haus, die alle ausziehen sollten. Es war eine Riesenaufregung, was soll das werden! Also die, die dort ihr Leben verbracht hatten, fragten sich, was für eine Zukunft sie dort haben würden. Und die Menschen, die da arbeiteten, waren genauso aufgeregt. Da gab es wesentlich mehr Widerstand als bei den Menschen, die ausziehen sollten, und da wurden so Sachen gesagt wie: Wir sind doch alle eine Familie! Ihr könnt uns doch nicht auseinanderreißen! Und es wurde geweint und es war ein Aneinanderklammern. Und diese Prozesse vom Auszugsprojekt haben wir versucht zu begleiten. Wir haben Foren gemacht, Beteiligungsforen hauptsächlich für die Bewohner damals, aber auch für die Mitarbeitenden, für die gesetzlichen Betreuer, für die Eltern. Das war ein großes Umdenken für viele, weil die dachten, so ist das Leben für meinen Angehörigen für mich genau richtig. Und man konnte sich das gar nicht anders vorstellen. Es gab eine Mutter – daran muss ich immer wieder denken –, die traf ich im Aufzug und die sagte mir – die hat mich erkannt als die da vom Auszugsprojekt: Ach, – über ihren Sohn sagte sie das –, ach, und ich habe gehört: Horst kommt weg! Ja, genau, diese Sprache, so war das vorher, die kamen einfach weg! Die wussten manchmal nicht, wohin sie am Abend nach der Arbeit oder von der Werkstatt nach Hause kamen, wo ihr Bett stand. Über all das wurde einfach so verfügt! – Und da habe ich ihr gesagt: Ja, damals hieß es so: Jetzt kommen sie weg! Und heute ist die Frage: Wo möchtest du hinziehen? Und du wirst beteiligt am Prozess. Und meine Aufgabe stand deutlich dafür, die Leute an diesen Prozessen zu beteiligen. Das war sehr komplex, weil es da zum Teil natürlich, zum wichtigsten Teil, um die Bewohner ging, aber auch um die ganze Mitarbeiterschaft, und das war viel herausfordernder, fand ich.

Westermann: Genau, das kann ich nur bestätigen, dass die Klientinnen und Klienten letztendlich die Gelasseneren waren, die auch mutig waren, weil sie schon so viele Umbrüche und unglaubliche Erlebnisse im Laufe ihres Lebens erfahren hatten. Die Mitarbeitenden musste man erst mal dafür begeistern und die mussten sich erst mal darauf einlassen. Und trotzdem habe ich auch noch Menschen kennengelernt, die zeit ihres Lebens oder vielleicht ein halbes Jahr in ihrer eigenen Wohnung um den Kühlschrank herumschlichen, bis sie sich trauten, selbstständig die Coca-Cola herauszunehmen, weil sie vorher unter Lebensbedingungen gelebt hatten, wo immer entschieden wurde: Jetzt darfst du etwas trinken, oder Menschen, die mit einem Mitarbeitenden gemeinsam am Tisch saßen und immer darauf warteten, dass der Mitarbeitende Guten Appetit sagte, denn erst dann durfte man essen. Es war schon spannend zu sehen, dass es lange, lange brauchte, bis sich solche Muster veränderten, und die Menschen wirklich den Weg zur Selbstbestimmung noch gefunden haben und die Coca-Cola gekauft haben, wann sie wollten, und dann auch getrunken haben, wann sie wollten.

Orgaß: Ganz kurz zur Ergänzung dazu – es gab einen Bewohner, der hatte irgendwann einen kleinen Koffer gepackt und den stellte er vor mein Büro und sagte: Und ich werde jetzt entlassen und ich hab’s auch verdient! Ich werde entlassen und ich habe es auch verdient! Und – das sehe ich noch so vor mir – das war für diesen Menschen: auf zu neuen Ufern! Das waren auf jeden Fall interessante und berührende Prozesse, denn diese Menschen haben ihr Leben dort verbracht und waren zum Teil bereit, das aufzugeben und in die Welt zu kommen.

Schulz: Die Welt in Bergedorf, wie war die?

Burmeister: Na ja, wir waren ja in Bergedorf erst nur ganz klein vertreten. Da gab es ja erst das Wohnhaus Lohbrügger Landstraße und den Henriette-Herz-Ring, diese beiden Einheiten bzw. Wohngruppen damals. Und wir hatten den Auftrag, auch immer nach Wohnraum zu gucken. Und ich weiß noch – ich komme selber aus Bergedorf –, ich bin immer mit dem Fahrrad rumgefahren und habe geguckt, wo Baulücken waren, wo etwas Neues gebaut wurde. Dann habe ich die Zollstraße damals entdeckt. Da wurde viel Neues gebaut und dann kam die Idee, dass das möglicherweise etwas für das Auszugsprojekt wäre, und darüber habe ich dann Frau Orgaß und das Auszugsteam, das Projektteam, kennengelernt. Und ich erinnere mich noch an eine Fahrt, eigentlich die tollste, – wir haben uns getroffen und haben mit Menschen, die im Karl-Witte-Haus gelebt haben, Ausflüge nach Bergedorf gemacht und haben denen vorher erzählt: Wir fahren in die Zollstraße nach Wentorf, machen eine kurze Rast vorher in der Lohbrügger Landstraße im Wohnhaus, dass ihr gucken könnt, wie das ist, wenn man nicht auf dem Anstaltsgelände wohnt, sondern in einer eigenen Häuslichkeit. Und da war eine ältere Dame dabei und – ich weiß nicht, ob du [Claudia Orgaß] dich an sie erinnerst – die kam mit und die hatte sich vorne eine Wohnung angeguckt und sagte: Und ich will hier einziehen! Diese Dame ist fast gleich in der Lohbrügger Landstraße geblieben und sagte so vehement: Ich möchte hier einziehen! Erst mal gab es auch Widerstände von den Bezugsbetreuerinnen, von den Angehörigen, gesetzlichen Betreuern: Sie ist doch schon so alt! Das kann sie doch alles gar nicht! Und das war totaler Quatsch. Die Frau ist richtig alt geworden in der Lohbrügger Landstraße und hat das total genossen, in ihrer eigenen Wohnung zu leben. Die hatte sich dann auch Wellensittiche angeschafft. Das war richtig, richtig gut!

Orgaß: Davon gibt es viele Geschichten. Die Möglichkeit, ein eigenes Zimmer zu haben und das Zimmer gesehen zu haben – teilweise war das unter der Heimmindestbauverordnung und hätte gar nicht vergeben werden dürfen. Ein ehemaliger Bewohner des Karl-Witte-Hauses sagte: Ich will hier nicht mehr raus! Also das war alles egal: Hier will ich jetzt bleiben!

Burmeister: Das war eine Mega-Aufbruchstimmung, als es erst mal losgetreten war. Man musste natürlich viel über Ängste und Sorgen sprechen. Du hattest uns ja auch eingeladen aus der Lohbrügger Landstraße, dass wir dazukommen konnten, wenn ihr eure Foren hattet im Karl-Witte-Haus, um zu erzählen, wie es ist, sozusagen Eins-zu-eins-Erfahrungsberichte zu geben, um auch Angehörigen und Bewohnerinnen und Bewohnern die Ängste und Sorgen zu nehmen.

Orgaß: Ja, parallel dazu gab es ja auch die Ängste: Wie wird es auf dem Gelände werden? Viele haben gesagt: Wir wollen dableiben! Dann gab es die Ängste: Ja, da wird Straßenverkehr sein, das ist viel zu gefährlich, da kann man überhaupt nicht mehr sein! Das war eine turbulente Mischung von Argumenten: Hauptsache, bitte schön, verändert nicht so viel! Das war kaum auszuhalten für viele.

Westermann: Genau. Ich habe ja dann 2003 in der Zollstraße auch noch Menschen kennengelernt, die alle aus sogenannten Wachsälen kamen, einige aus sogenannten geschlossenen Wachsälen. Die waren ja lange noch geschlossen untergebracht, wo wirklich noch immer Zweifel bestanden: Können Menschen aus einer geschlossenen Unterbringung in einer eigenen Wohnung in einem Stadtteil leben? Das ging, aber das war auch ein spannender Prozess! Das ging nicht automatisch so, das brauchte schon Begleitung und Offenheit von den Menschen drum herum. Da ergaben sich auch schwierige Situationen und Konflikte mit Menschen aus dem Stadtteil und die mussten moderiert werden. Die konnten in der Regel auch geklärt werden. Es konnte dann gut laufen, wenn die betroffenen Menschen sich auf eine Veränderung einließen. Es waren oft eher die Geschäfte, die erst mal Probleme hatten und sagten: Den dürft ihr doch nicht mehr alleine lassen, der muss begleitet werden, sonst erteilen wir hier Hausverbot! In einem offenen Haus konnten wir den Menschen nicht verbieten, das Haus zu verlassen. Und irgendwann ließen die Anmerkungen nach und dann sagten auch die Geschäfte: Wir können damit umgehen, bis dahin, dass man sich dann so gut kannte, dass bestimmte Marktstände auf dem Wochenmarkt auch schon wussten: Ah, Herr Sowieso ist Diabetiker, dem geben wir nicht so viel Obst zum Probieren! Das soll nicht so gut für ihn sein! Und dann lief das.

Orgaß: Ja, das war wichtig, dass man die Menschen im Stadtteil nicht ganz alleine damit ließ. Ein gewisser Moderationsprozess war ganz schön wichtig, weil das für viele eine echte Überforderung war. Die kannten das nicht. Die Menschen waren vorher in der Anstalt und die mussten sich ja auch teilweise an die Regeln anpassen, die draußen galten. So war der Prozess.

Burmeister: Das war auch von beiden Seiten …

Orgaß: Ja, auf jeden Fall.

Burmeister: … denn wir hatten ja auch Menschen, die auf dem Anstaltsgelände groß geworden waren. Die kannten Einschränkungen gar nicht, hatten sich da frei bewegt, wie sie wollten und wann sie wollten, immer genau bis zum Zaun. Aber darin war das sozusagen ihr Reich, also sozusagen ihr Zuhause. Und als wir dann in die Wohnhäuser gezogen waren – das weiß ich auch aus der Lohbrügger Landstraße –, mussten Menschen dann auf einmal das lernen: Es gibt Nachbarn, wo das nicht okay ist, wenn ich mich da frei bewege oder vielleicht nicht komplett angezogen bin oder so, dass das dann manchmal auffällt. Da gab es dann immer Gespräche und Vermittlung. Also – ich sag mal so – wir Profis waren eigentlich immer Brückenbauer. Wir waren immer unterwegs, sprachen mit allen Menschen, die wir trafen, um das bekannt zu machen und um Barrieren abzubauen. Und, wie du eben sagtest, über die Zeit hat sich das reguliert. Heutzutage ist es völlig normal, dass zum Beispiel die Menschen in der Zollstraße leben und sich da auf dem Markt tummeln. Das wird nicht mehr infrage gestellt.

Westermann: Insgesamt war die gesellschaftliche Entwicklung auch noch nicht so weit. Ich kann mich noch daran erinnern, wir bekamen 2004/2005 noch Post vom Amtsgericht Reinbek mit der Aufschrift Außenstelle der Alsterdorfer Anstalten. Das war 2004/2005 und das fand ich auch unglaublich. Da haben wir schon noch mal angerufen, haben das erklärt und das haben die verändert.

Orgaß: Ja, aber es gab auf jeden Fall eine wachsende Offenheit, allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Und aktuell erlebe ich das eher teilweise ein bisschen rückläufig, weil es etwas komplexer wird und die ganzen Anforderungen in den Quartieren auch höher geworden sind: Viele Menschen, die aus anderen Ländern dazugezogen sind, Wohnraum wird verdichtet, die Stadt wächst. Diese sozialen Komponenten muss man gut mitbeachten. Dazu gehören auf jeden Fall auch unsere Klientinnen und Klienten als welche, die das für andere Menschen zu herausfordernd machen. Wenn da auf einmal 20 Menschen mit Behinderung deine neuen Nachbarn sind, dann geht das nicht ganz konfliktfrei. Und auch diese Prozesse müssen – das haben wir ja jetzt neu aufgenommen mit dem Projekt [Nachbarschaftszirkel] – moderiert werden.

Schulz: Ja, genau, Thema Nachbarschaft bzw. gute Nachbarschaft. Ja, wenn man so zurückschaut: Wie viel Anstalt musste eigentlich überwunden werden, damit die Menschen wirklich im Stadtteil angekommen sind? Und gab es dazu Konzepte? Habt ihr damals mit Konzepten gearbeitet? Habt ihr selber welche entwickelt?

Orgaß: Ich weiß, wir hatten riesige Checklisten, was man alles beachten musste, also vom Ummelden bis zum Kofferpacken, das war im Auszugsprojekt wichtig, was sollten die Menschen alles gesehen und erlebt haben, dass sie dann auch ausziehen konnten. Doch, wir hatten Konzepte und mussten die auch immer fließend anpassen an die Realität, die wir vorfanden. Und dann ging eigentlich das los, worüber wir gerade sprachen, also die Vermittlungsprozesse.

Burmeister: Also bei uns ging das los, das war ja sozusagen kurz vor der Ambulantisierung und dann gab es die Ambulantisierungskonzepte, mit denen wir in den 2000er-Jahren angefangen haben. Ich weiß, dass wir am Anfang geguckt haben: Wie können Menschen im Quartier leben? Und dann gab es Wohnkonzepte dazu. Ich hatte damals den Auftrag, für das Wohnhaus Lohbrügger Landstraße ein neues Konzept zu verfassen – da hatten wir ja auch eigentlich einen alternativen Wohnraum gesucht – und zu gucken, was man da alles bedenken musste. Wir haben dann Anfang der 2000er-Jahre die Treffpunkt-Konzepte als Begleitmaßnahme entwickelt, zum ersten Mal professionalisiert zum Thema sozialräumliches Arbeiten in den Quartieren.

Westermann: Und das Konzept Persönliche Assistenz wurde sicherlich auch immer erweitert, angepasst, verändert und weiterentwickelt. Wir haben in den 2000er-Jahren eine Art Qualitätsprozesse gemacht. Die waren sehr auf Netzwerkarbeit hin orientiert. Das waren so die Schlagworte, wo es darum ging, sich nicht nur für das eigene kleine Haus etwas Gutes zu überlegen, sondern auch für den Stadtteil, die Umgebung, die Nachbarschaft mitzudenken. Und das brauchte Menschen, auch in der Kirchengemeinde, die offen dafür waren. Die musste man suchen. Aber das ist, glaube ich, damals schon so gewesen und das ist heute auch noch so, immer wieder Menschen zu finden, die offen dafür sind oder die das spannend finden, die neugierig sind und dann was Neues entstehen lassen.

Orgaß: Das regt mich gerade so an – es war ganz wichtig, dass man für die Leitung der neuen Wohnprojekte Leute hatte, die eine Idee oder eine Vision hatten, wie das werden sollte, denn es gibt anscheinend sonst so ein Zurück zur Schwerkraft. Man konnte mitten auf dem Lande oder sonst wo mitten in der Stadt leben und es war doch ein Heim. Man konnte sich wirklich fast hermetisch abriegeln mit allem, was zu tun war. Dass das nicht passiert, dafür war es eben wichtig, dass man immer die Fühler nach außen streckte. Und das war eine neue Aufgabe, die war für die Mitarbeitenden ungewohnt, das musste man auf dem Gelände nicht machen und das war schon eine ganz schöne Hausnummer für viele!

Burmeister: Neue Anforderungen und Kompetenzen gab es ja auch an die Leitungstätigkeit …

Orgaß: Absolut!

Burmeister: … absolut, weil viele, die damals als Wohnstättenleitungen im Verbund gearbeitet hatten, andere Zielvorgaben hatten, waren andere Kompetenzen gefragt, und wenn man als Wohnstättenleitung auch ins Quartier gezogen war, musste man sich komplett umstellen und mit ganz anderen Anforderungen umgehen und sich einlassen können.

Westermann: Genau! In der Praxis war das so, wenn beispielsweise Besucherinnen oder Besucher ins Haus kamen, konnten die gleich zu den Menschen in die Wohnung gehen und dort klingeln und die Menschen öffneten die Tür. Mitarbeitende bekamen das vielleicht gar nicht mit. Also solche Diskussionen haben wir da auch geführt: Ist das eigentlich okay, wenn hier Leute im Haus sind, die sich bei den Mitarbeitenden nicht vorgestellt haben? Das war okay, davon ganz abgesehen, aber das waren die Diskussionen damals.

Orgaß: Dazu gehörte nahtlos auch: Klopfe ich eigentlich an, bevor ich irgendwo reingehe? Also das war auch ein Thema, das uns die ganzen Jahre verfolgt hat. Das war so selbstverständlich, irgendwo einfach reinzuplatzen. Privatsphäre und eigener Bereich, das war für alle ein Riesenlernprozess.

Burmeister: Oder zu sagen: Wir brauchen doch hier gar keinen Kühlschrank zu installieren und extra zu kaufen, den benutzt er doch sowieso nicht! Das waren Sachen, wogegen man anarbeitete, wo man sagte: Nein, wir halten das vor und wir üben! Und dann kann der Mensch selber entscheiden, ob er den Herd benutzen möchte oder den Kühlschrank oder was auch immer. Das war ein richtiges Umdenken von allen Kollegen! Man selber hatte ja manchmal auch eine Schere im Kopf. Man war ja gar nicht frei davon, dass man vermeintlich dachte: Das ist richtig und das ist aber totaler Quatsch! Man musste sich immer reflektieren und brauchte immer auch Partner und Partnerinnen, mit denen man das besprechen konnte. Also, wir haben viel geredet und diskutiert und uns ausgetauscht, um uns gemeinsam weiter nach vorne zu bringen.

Orgaß: Man musste lernen, ein gutes Maß an Freiheit und an Begleitung zu finden. Den Rahmen musste man völlig neu entwickeln – und zwar für die Einzelnen. Die Menschen, die ausgezogen sind, erlebten und erfuhren es einfach auch unterschiedlich. Einige konnten relativ schnell damit umgehen und andere brauchten viel Begleitung, teilweise einen noch engeren Rahmen, damit sie das auch hinkriegten und die Sicherheit fanden.

Schulz: Wenn ihr mal zurückschaut auf die letzten 20 Jahre dieser Entwicklung, wie viel Heim gibt es noch in den Wohnsituationen in Bergedorf oder wie wenig gibt es nur noch, und wie gut ist das sozusagen verändert worden?

Burmeister: Ich war auch mal Bereichsleitung in Bergedorf. Über zehn Jahre war ich dafür verantwortlich, ob da viel Heim zu finden ist oder wenig. Ich würde sagen, es ist deutlich weniger Heim. Was bleibt in dem Moment, wo mehrere Menschen zusammenleben, ist die Institution. Da können wir noch so viel In-den-eigenen-Wohnraum-Konzepte haben, wir haben nun mal vorgefertigt nur soundso viel Personal, nur soundso viel Zeiten, um bestimmte Dienstleistungen zu erbringen, und die müssen aufeinander abgestimmt werden. Ich sag mal, diese Strukturen abzuschaffen, die einen hindern, völlig frei so zu leben, wie ich es brauche, nur nach meinen Bedürfnissen, ist immer schwierig – auch heute noch, wobei wir natürlich weit, weit davon entfernt sind, denn jetzt wird eher geguckt: Was will der Mensch? Welchen Willen hat er? Was ist ihm wichtig? Und danach wird dann das Dienstleistungsangebot gestrickt. Ich würde mal sagen, wir haben uns in Bergedorf wirklich gut weiterentwickelt. Da gibt es mittlerweile tolle Wohnangebote an unterschiedlichsten Orten.

Schulz: Auf einer Skala von eins bis zehn – wo seid ihr in Bergedorf?

Burmeister: Ich bin ja immer optimistisch. Ich würde mal sagen, siebeneinhalb bis acht.

Orgaß: Ich hätte jetzt auch sieben gesagt, denn es wird ja jetzt auch in der Lohbrügger Landstraße neu gebaut, das lässt, finde ich, auch auf etwas Gutes hoffen, weil da Leute eingezogen sind, die sehr komplexe Beeinträchtigungen haben und ein ganz bestimmtes Maß an Begleitung brauchen. Da wird einfach für die einen und die anderen, je nach Unterstützungsbedarf, etwas Tolles gebaut! Das lässt hoffen, dass wir auch noch auf siebeneinhalb bis acht klettern können. Ich glaube, da gibt es gute, treibende Kräfte.

Westermann: Das glaube ich auch. Gute räumliche Bedingungen sind schon eine wichtige Grundlage. Die Haltung der Mitarbeitenden spielt sicherlich eine ebenso wichtige Rolle. Aber wenn die räumlichen Bedingungen katastrophal sind, so wie wir sie in den damaligen Alsterdorfer Anstalten erlebt hatten, dann nutzt auch die beste Haltung der Mitarbeitenden nichts mehr. Also das muss nebeneinanderher gehen und die räumlichen Bedingungen haben sich wirklich deutlich verbessert. Sie sind die Grundlage dafür, dass eine individuelle Lebensweise möglich ist, die dann gut begleitet werden muss.

Burmeister: Und die neuen Kolleginnen und Kollegen, die kommen, die gehen auch ganz anders daran. Für die ist es völlig normal, dass ein Mensch in seiner eigenen Wohnung lebt und dass er da Assistenz bekommt. Wir sind ja alle mal anders sozialisiert worden, als solche, die wir schon lange in der Stiftung Alsterdorf gearbeitet haben. Wir mussten uns verändern vom Denken her. Das war nicht nur falsch. Wir mussten nur Veränderungsprozesse mitgehen. Aber die neuen Kolleginnen und Kollegen, wie ich sie heute kennenlerne, ob das jetzt im Arbeitsbereich ist oder im Wohnbereich, die haben einen ganz anderen Angang. Für die ist es normal, dass Menschen in der Gesellschaftsmitte miteinander leben.

Schulz: Aktuell haben wir das Thema Sozialraumquartier. Welche Herausforderungen für Menschen mit Behinderung sind gerade dran zum Thema Wohnen im Sozialraum bzw. Wohnen im Quartier?

Orgaß: Eine gute Frage. Ich bin gerade mit so speziellen Sachen befasst, die in Nachbarschaften passieren. Ich weiß nicht so genau, ob man die verallgemeinern kann. Aber es geht auch um herausforderndes Verhalten in der Nachbarschaft. Und das kann bei Menschen ohne Behinderung genauso vorkommen. Trotzdem entfacht sich das noch mal anders, wenn der Mensch mit Behinderung für den Nachbarn schwer einzuschätzen ist, wenn es Berührungsängste gibt, wenn es Abwehr gibt, wenn da innere Befürchtungen sind, die gar nicht reflektiert werden können. Und wenn keiner einen dabei unterstützt, dann fühlt man sich allein gelassen. Also diese Prozesse zu unterstützen, das ist auf jeden Fall mein Fokus für die nächsten drei Jahre. Da gibt es einfach sehr unterschiedliche Sachen. Lärm spielt immer mal eine Rolle und auch so herausforderndes Verhalten im Quartier wie, dass Leute unverständlich laut schreien, weil sie irgendwelche Ängste ausleben. Ungewohntes Verhalten ist schwer auszuhalten für Menschen mit Behinderung, die Regeln brauchen, wie wir uns zu verhalten haben.

Westermann: Ja, das geht mir aber auch so. Das gehört ein Stückchen dazu. Es ist sicherlich unsere Aufgabe, dieses auch gut zu begleiten. Und trotzdem ist das auch immer ein Prozess, also auch in Bürgerhäusern, Kirchengemeinden oder in anderen sozialen Institutionen sind Menschen mit Behinderung immer willkommen, das erlebe ich schon so, aber da muss immer eine Begleitung dabei sein. Über diese Brücke zu gehen, dass die Menschen auch ohne Begleitung kommen können, das ist wieder ein Prozess und das ist Arbeit. Aber das geht auch. Und es kann auch so sein, dass es mal – das geht anderen alten Menschen ja auch so, die vielleicht zu irgendeinem in die Kirchgemeinde gehen – eine Zeit lang gut geht, und sie kommen ohne Begleitung und dann wiederum brauchen sie auch eine Begleitung. Das muss man ein Stückchen so annehmen. Ich glaube, da immer nur hinterherzulaufen, dagegen anzuarbeiten und das größte Glück darin zu sehen, dass die Menschen ohne Begleitung alles nutzen, das muss gar nicht sein. Das entwickelt sich. Bei manchen klappt’s und bei anderen eben nicht.

Orgaß: Ich habe jetzt einige Jahre in dem Bereich gearbeitet, um auch Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, gerade für die Kirche oder für Freizeitaktivitäten und so etwas, miteinzubinden, damit da eine Begegnungsmöglichkeit ist und um die Schwellen zu überwinden. Ich sehe überall diese inneren Schwellen bei den Menschen, wo sie wirklich auch Unterstützung brauchen, und habe es häufig erlebt, wenn die Menschen ohne Behinderung es geschafft haben, eine Begegnung auszuhalten, dass sie dann manchmal mit einem Lächeln weitergehen, weil auch sie froh sind, dass sie das geschafft und nicht die Straßenseite gewechselt haben. Das ist nach wie vor so. Das war früher viel mehr, aber auch heute erlebe ich das. Diese Energie spürt man sehr deutlich, wenn man solche Begegnungen mitkriegt.

Westermann: Genau, und das ist ja auch eines meiner Lieblingsthemen, das Ehrenamt und ehrenamtliches Engagement. Ich glaube, das ist gerade für Menschen mit Behinderung oder Menschen mit Assistenzbedarf ganz wichtig. Es ist nicht gut, nur von Profis umgeben zu sein. Die kennen einen bis aufs letzte Hemd und wissen, wie man splitterfasernackt aussieht. Aber jemand, der mich ehrenamtlich in die Kirche zum Kirchenbesuch begleitet oder ins Bürgerhaus oder zu irgendeinem Kurs, der kennt nur einen Teil von mir. Das hat auch etwas mit Lebensqualität zu tun. Es müssen nicht immer alle alles von mir wissen, die mich umgeben. Das sind so die Themen und Herausforderungen, an denen wir jetzt arbeiten.

Schulz: Ja, schön. Die Zeit ist jetzt fast vorbei. Wie wäre die Entscheidung mit dem Wissen und mit der Erfahrung, die ihr alle geradezu über Jahrzehnte gemacht habt, wenn ihr heute vor der Frage stehen würdet: Bewerbe ich mich bei der Evangelischen Stiftung Alsterdorf?

Orgaß: Entscheidung in dem Sinn, für welchen Bereich man sich entscheiden würde, zu arbeiten?

Schulz: Ja, das, was bis jetzt beruflich passiert ist, wieder aufzunehmen.

Orgaß: Ich persönlich fühle mich da ganz gut angekommen mit diesem Projekt Nachbarschaftszirkel, um weiterhin zu versuchen, diese Schwellen zu überwinden und dabei zu unterstützen. Ja, es geht weiter um Begegnungsmöglichkeiten. Was dieses Sozialräumliche angeht, da ist noch viel Luft nach oben. Das würde ich gerne weiterbegleiten – das mache ich ja jetzt auch – und sehe auch immer noch viel Bedarf, die Energie bei den Mitarbeitenden zu wecken, also ein Stück mehr den Geist nach vorne zu richten und Möglichkeiten zu schaffen, mitzugestalten. Also Mitgestaltung – das finde ich auch etwas Wichtiges!

Westermann: Ja, genau. Ich hatte das Glück, zweimal bei den Alsterdorfern angefangen zu haben, und habe das nie bereut, eher im Gegenteil. Mir ist klar geworden, die Rückkehr hat mir sehr entsprochen, denn ich hatte viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten als bei anderen Hamburger Trägern der Behindertenhilfe. Das habe ich persönlich so erlebt. Ich habe sicherlich auch noch mehr gearbeitet, aber das gehört dann vielleicht auch dazu – und habe das nie bereut.

Schulz: Schön.

Burmeister: Also ich habe ja 20 Jahre Stiftung Alsterdorf hinter mir, aber auch noch 15 Jahre vor mir. Und ich habe das überhaupt nicht bereut, hier angefangen zu haben. Vorher habe ich auch bei anderen Trägern gearbeitet. Ich finde das toll, dass wir in der Stiftung immer die Chance haben, zu entwickeln und zu gestalten, und ich will das auf jeden Fall noch die nächsten 15 Jahre machen. Und wenn man mich heute fragen würde: Ja, ich würde meine Bewerbung noch mal genau so wieder abschicken und an denselben Adressaten. Das war damals der Geschäftsbereich Hamburg-Stadt. Da habe ich angefangen, da bin ich groß geworden, die haben mich wahnsinnig geprägt. Diesen Geist trage ich auch immer noch ein bisschen in mir und muss manchmal auch zusehen, mitzugehen, um auch wieder anderen Gedanken Platz zu machen.

Schulz: Okay. Ja, sehr schön. Frau Bödewadt, haben Sie spontan noch eine Frage oder wollen wir abmoderieren?

Bödewadt: Ja, mir schwirrt immer so ein bisschen im Kopf herum, was ich selber mal machen möchte, wenn ich in Rente bin. Also, ich habe zwei Wünsche: Ich würde gern auch als behinderter Mensch in einem Mehrgenerationenhaus wohnen – also ich bin ja psychisch behindert – und würde das toll finden, in einer normalen Umgebung eine Wohnung zu haben, wo ich mich vielleicht nützlich machen könnte. Und dann habe ich noch eine andere Idee, dass ich als Mensch mit Behinderung auf einen Bauernhof ziehen könnte und mich da auch vielleicht noch nützlich machen würde. Ich schätze, es ist noch daran zu arbeiten, dass vielleicht auch mal ein bisschen in diese Richtung geguckt wird.

Schulz: Ja, das ist ja die spannende Frage an die Konzepte der Zukunft.

Bödewadt: Genau.

Schulz: Spannend ist, wenn man sich überlegt, was wird wohl 2031 sein? Wird es dann die Mehrgenerationenhäuser geben, wird es dort Leben auf dem Land inklusiv geben, wird es eine tolle Quartiersentwicklung gegeben haben? Das wissen wir heute, 2021, nicht, umso besser, dass wir jetzt die Vergangenheit belebt bzw. ins Erleben gebracht haben.

Ich bedanke mich bei den Teilnehmerinnen in dieser Runde. Alles Gute!