04 / 1999 – Interview mit Ralf Schlesselmann

Teilnehmende

Ralf Schlesselmann

Reinhard Schulz

Monika Bödewadt

Interview / Text

Bödewadt: Ich begrüße Sie zur Diskussion. Mein Name ist Monika Bödewadt. Wenn Sie sich bitte einmal vorstellen mögen.

Schlesselmann: Mein Name ist Ralf Schlesselmann. Ich bin Betriebsstättenleiter in der Alsterarbeit gGmbH und arbeite seit 1989 in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf.

Schulz: Ich bin Reinhard Schulz. Ich betreue das Projekt „Dokumentation der Entwicklung der Eingliederungshilfe in den letzten vier Jahrzehnten in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf“ und freue mich, dass wir jetzt in diesem Format ein Interview und eine Diskussion mit Herrn Schlesselmann führen können.

Herr Schlesselmann, wie hat alles angefangen?

Schlesselmann: Am 01.02.1989 bin ich damals als Zivildienstleistender in der Stiftung angefangen. Ich habe vorher eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann gemacht, fühlte mich superwohl in meinem Autohaus und bekam dann die Aufforderung, Zivildienst zu machen. Ein Freund von mir arbeitete bereits in Alsterdorf und hatte gesagt: Du, frag doch mal in den Alsterdorfer Werkstätten nach, die suchen immer Zivis! Da habe ich mich dort vorgestellt und die konnten mich auch gleich gebrauchen. So bin ich im Prinzip einen Monat nach der Vorstellung, am 1. Februar, dort angefangen. Tiefere Gründe, warum ich jetzt unbedingt in der Eingliederungshilfe arbeiten wollte, gab es eigentlich nicht. Ich wurde aufgefordert und ich habe mich beworben.

Schulz: Sie hatten noch die Möglichkeit, Zivildienst zu machen. Das können die jungen Menschen jetzt nicht mehr. Insofern hatten Sie damals die Chance, hier einzusteigen. Erinnern Sie noch die Bilder, die sich aus der ersten Zeit von damals bei Ihnen eingebrannt haben, als Sie in Alsterdorf eingestiegen sind? Gibt es Bilder, die noch präsent sind?

Schlesselmann: Oh, ja, sehr viele. Ich hatte ja überhaupt keinen Kontakt zu Menschen mit Handicaps. Und als ich mich vorstellen sollte, das war zwischen Weihnachten und Neujahr, da war es so, dass ich durch eine Pforte treten musste und man mir sagte: Laufen Sie mal quer über das ganze Gelände und in dem Gebäude, in dem Flachdachbau auf der anderen Seite, dort sitzt der Geschäftsführer und da stellen Sie sich jetzt mal vor. Und dieser Zaun drum rum, die Schranke, durch die ich da treten musste, und dann dieses Ungewisse haben mir durchaus Angst gemacht und Beklemmungen verursacht – Auf was habe ich mich hier jetzt denn eingelassen! Das waren schon spannende 500 Meter, die ich über das Gelände der Stiftung Alsterdorf laufen musste!

Schulz: Also es gab schon auch bedrückende Momente am Anfang. Gab es auch schöne Momente?

Schlesselmann: Oh, eigentlich sehr, sehr viel schöne Momente, weil man mit sehr, sehr viel Wohlwollen und mit viel Wertschätzung aufgenommen worden ist, was man auch zurückgeben konnte. Und ich selber, der ich ja eigentlich dorthin gegangen war, weil ich Zivildienst machen musste, habe relativ schnell erfahren, dass meine Art, mit Menschen umzugehen, eine Wertschätzung empfing, was dazu führte, dass ich dachte: Hey, hier fühlst du dich wohl! Hier ist Arbeit nicht bloß ein schnödes Geld verdienen, sondern hier ist Arbeit auch, einfach viel zu bekommen und viel geben zu können!

Schulz: 1989 haben Sie angefangen, wenige Jahre später stand die Stiftung wirtschaftlich als Sanierungsfall da. Wie haben Sie die Sanierungssituation als Mitarbeiter in den Alsterdorfer Werkstätten damals erlebt?

Schlesselmann: Ganz, ganz brutal am Anfang, muss ich ehrlich sagen. Ich konnte relativ schnell Karriere machen, bin nach dem Zivildienst dageblieben und zwei Jahre später, als ganz junger Knopf sozusagen, schon Abteilungsleiter geworden. In der Sanierungssituation habe ich erlebt, wie viele Teilbereiche geschlossen wurden, um auch Abteilungsleiter freizusetzen. Das hieß interne Versetzung und interne Kündigung in der Stiftung Alsterdorf und ich hatte richtig Angst um meinen Arbeitsplatz. Wenn der damalige Leiter von den Alsterdorfer Werkstätten, Herr Lühr, nicht gesagt hätte: Okay, wir übernehmen hier einen zusätzlichen Mitarbeiter, dann wäre es um mich vielleicht geschehen gewesen, nach relativ kurzer Zeit in der Stiftung. Also von daher: Ich habe die Gründe für die Sanierung richtig hautnah gespürt.

Schulz: Im Rahmen dieser Sanierungssituation von 1995 bis 1996, die ja dann – was die wirtschaftliche Frage anging –, erfolgreich war, gab es das sogenannte Bündnis für Investition und Beschäftigung. Können Sie dazu noch etwas erzählen? Wie haben Sie das Zustandekommen damals und auch das Mehrheitsvotum für dieses Bündnis damals erlebt?

Schlesselmann: Also das Mehrheitsbündnis entstand im Wesentlichen nicht, weil man die Mitarbeiterschaft befragt hatte, sondern weil die Mitarbeitervertretung sich gemeinsam mit der Gewerkschaft und den Arbeitgebern auf dieses Bündnis geeinigt hatte. Uns blieb gar keine andere Wahl wegen der Gründe, so wie sie vorlagen: Entweder geht die Stiftung den Bach runter oder wir investieren die Lohnerhöhung in die Sanierung der Stiftung. Für uns war dann klar: Dann investieren wir in die Sanierung der Stiftung. Also von daher war eine wirkliche Mitbestimmung gar nicht möglich. Was für mich dann allerdings spannend war, schon deshalb spannend, weil ich gerne auch über den eigenen Tellerrand hinausgeguckt habe, war die Möglichkeit, sich als Mitarbeiter in den Prozess der Sanierung einbringen zu können. Und da ich gelernter Kaufmann bin, dachte ich: Okay, das ist vielleicht eine Aufgabe, auch aus Sicht der Mitarbeiterschaft zu gucken: Wird das Geld denn auch wirklich sinnvoll eingesetzt? Das war mein Anspruch. Und so habe ich mich für die Wahl als Mitarbeitervertretung aufstellen lassen, für einen Teilbereich der damaligen Eingliederungshilfe, den Wohnbereich und die Alsterdorfer Werkstätten, die je einen Mitarbeitervertreter in den Investitionsrat entsenden konnten.

Schulz: Und da wurden Sie gewählt?

Schlesselmann: Da wurde ich gewählt. Es gab noch zwei weitere Bereiche, einmal die Holding der Stiftung – mit den Schulen und den zentralen Dienstenund dann die Krankenhäuser, die eine weitere Mitarbeitervertretung stellen konnten.

Schulz: Mögen Sie erzählen, was Ihre Aufgaben in dem Investitionsrat waren? Der war ja paritätisch besetzt. Was hieß das?

Schlesselmann: Paritätisch bedeutete, es gab neun Mitarbeitervertreter. Das waren insgesamt neun Personen: drei von der Gewerkschaft, drei aus dem Kreis der Mitarbeitervertreter und drei von den gewählten Mitarbeitern. Auf der anderen Seite saßen Geschäftsführer, leitende Mitarbeiter der Stiftung, der Vorstand, und – ich weiß den Namen nicht mehr – jedenfalls ein Jurist, der im Prinzip auf Arbeitgeberseite das Ganze mit vertreten hat.

Schulz: Sind Ihnen die Aufgaben, die Sie hatten, noch präsent?

Schlesselmann: Oh, ja!

Schulz: Was haben Sie damals gemacht, was haben Sie damals bewegt?

Schlesselmann: Ich bin mit viel Idealismus in diese Aufgaben reingegangen! Und meine Aufgaben waren, jedes Bauprojekt nach drei Kriterien zu überprüfen: Ist es wirtschaftlich sinnvoll? Ist es eine Verbesserung für die Menschen mit Handicap? Und dient es der Sicherung der Arbeitsplätze in der Stiftung Alsterdorf? Das waren die drei Aufgaben. Das war eine total spannende Zeit! Wir saßen jede Woche einmal, glaube ich, in diesem großen Gremium zusammen. Wir haben uns Bauprojekte, immer wieder auch Bilanzen und Unterlagen angesehen und haben im Prinzip viel über die Projekte gestritten, die anstanden. Manches war auch ein Prestigeprojekt, wo wir als Arbeitnehmer sagten: Nein, das wollen wir aber nicht! Und es gab auch Projekte, die wir Mitarbeiter wollten, aber die Arbeitgeberseite sagte: Nein, also hört mal, kommt nicht in Frage! Das war die Herangehensweise. Die Realität sah dann ein bisschen anders aus.

Schulz: Okay. Wie sah die aus?

Schlesselmann: Ja, in der Realität war es dann oft so, dass auf Hinterbühnen irgendwelche Streitfelder waren, die wir als Mitvertreter gar nicht so unbedingt hundertprozentig verstanden haben, aber wo der Vorstand mit der MAV [Mitarbeitervertretung] irgendwelche Themen hatte, personalrechtliche Themen oder Abstimmungsthemen oder Streitthemen, die die nutzten, um gewisse Projekte nach vorne oder nach hinten zu schieben oder einfach auch zu blockieren, sodass es immer wieder Geschichten gab, wo wir uns anguckten und sagten: Das ist doch sinnvoll, warum passiert hier jetzt nichts? Aber es passierte nichts, weil auf irgendwelchen Bühnen am Rande andere Dinge geklärt werden mussten.

Schulz: Auf den Hinterbühnen wahrscheinlich. Sie haben ja aber auch Entscheidungen treffen können, glaub‘ ich. Gibt es Entscheidungen nach zwanzig Jahren, die in ihnen immer noch präsent und wirksam sind, weil sie nachhaltig waren?

Schlesselmann: Ja, zum einen hat Alsterarbeit davon profitiert, –.im Prinzip auch meine eigene Betriebsstätte –, da kann ich gerne ausführlich zu erzählen. Aber es gab auch Projekte wie z. B. der Neubau der Bugenhagenschule, der mit einer neuen Konzeption einherging, wo also neue Lernmethoden umgesetzt worden sind, oder eine Erweiterung des WOI [Werner-Otto-Institut], was durchaus dann zu weiteren Erneuerungen und zu einer besonderen Tragweite führte auch über die Stiftung Alsterdorf hinaus. Also von daher sage ich: Ja, so ein ganz kleines bisschen habe ich auch mitwirken dürfen. Das war spannend!

Schulz: Sie haben das Thema ihres eigenen Arbeitsplatzes gerade angedeutet. Welche Rolle spielte der Investitionsrat bei der Konzipierung des Alsterdorfer Marktes, den es ja 1999 noch nicht gab?

Schlesselmann: Eine sehr, sehr große Rolle, weil der Alsterdorfer Markt eine komplett neue Konzipierung erfahren sollte und im Rahmen dieser Konzipierung gab es die Möglichkeit, alle Angebote der Alsterdorfer Werkstätten, die irgendwie mit einzelnen Kunden zu tun hatten, zusammenzufassen und davon profitieren zu lassen. Da es ja die Idee gab, Edeka und Aldi – damals hießen die noch nicht Edeka und Aldi – zu einem D-Zentrum (kleines Einkaufszentrum für täglichen Bedarf), einem bürgernahen Einkaufszentrum zu entwickeln, war es so, dass wir die Möglichkeit hatten und ergriffen, unsere eigenen Angebote, die einfach auch Kunden benötigten, damit zu integrieren. Und da das ehemalige Waschhaus – es war wirklich ein Waschhaus gewesen – und der Hohe Wimpel, das ein Haus mit ehemals vielen Wohngruppen war, auch leer standen, weil sie vom Konzept her abgelebt und alt waren, konnten wir über den Investitionsrat Mittel beantragen, die dazu führten, dass das für uns, für die Alsterdorf Werkstätten, ein bezahlbarer Mietraum wurde. Also das war Klasse! Davon profitierte ich auch selber. Ich sag es mal so: Man lernt auch aus Verhandlungen zu anderen Projekten, was die Schwerpunkte sind und wie man seine eigenen Projekte aufstellen muss, um sinnvoll und nachhaltig für die Stiftung aber eben auch gerade für die damals noch Alsterdorfer Werkstätten – Alsterarbeit gab es noch nicht – etwas auf die Beine zu stellen.

Schulz: Es gab in diesen drei großen Bereichen, von denen Sie schon sprachen, auch Strategievorlagen für den Investitionsrat. Haben Sie diese wahrgenommen, waren das inhaltliche Dinge, die Sie gut bewegen konnten? Unter anderem war in diesen Strategievorlagen eine Vorlage, Ende des Jahres 1999, für einen neuen Bereich, der Alsterarbeit hieß. Wie haben Sie das erlebt?

Schlesselmann: Also weniger im Zusammenhang mit dem Bündnis für Investition, mehr als eine inhaltliche Sache, die innerhalb der Stiftung passierte und ganz nah an meiner eigenen Arbeit war. Plötzlich waren Dinge wichtig wie, die Tagesförderung zu integrieren, ein Thema, mit dem wir uns bisher – den Begriff, und die Gruppen kannte man, hatte auch Kontakt zu Kollegen aus den alten Häusern, wo Tageförderung stattfand – nicht inhaltlich auseinandergesetzt hatten. Von daher war das für mich keine Geschichte, die im Zusammenhang mit diesem Bündnis für Arbeit und Investition stattfand, sondern eher eine inhaltliche Sache, die ganz direkt mit einem neuen Bereichsleiter, Herrn Schulz [gemeint ist Reinhard Schulz], und den dazugehörigen Arbeitsbereichen, die ja im wesentlichen Tageförderung waren, zu uns kam. Und daraus entstand dann das Projekt alsterarbeit und ein paar Jahre später auch das eigene Unternehmen.

Schulz: Wenn Sie noch mal an diese Gründungssituation denken: Was hat Ihnen daran gefallen? An welcher Stelle haben Sie gesagt: „Ganz komisch, müssen wir das irgendwie jetzt hinnehmen“? Dieser Zusammenhang mit Innovation und Weiterentwicklung, wie war der wahrnehmbar für Sie als bereits schon verantwortlicher Mitarbeiter?

Schlesselmann: Für mich kamen da zwei oder im Prinzip drei Dinge zusammen. Für das Kerngeschäft Alsterdorfer Werkstätten hatte ich nun schon zehn Jahre lang geübt, das kannte ich, aber parallel zu dem Thema Tagesförderung, also Menschen mit Schwerst-Mehrfachbehinderung, habe ich auch das Thema Eingliederung von Menschen mit psychischen Erkrankungen bearbeiten und im Rahmen der Entwicklung des Alsterdorfer Marktes zusammenführen müssen. Das war schon eine spannende Zeit, weil in diesen Alsterdorfer Markt zogen nicht nur klassische Werkstatt-Beschäftigte der damaligen Zeit ein, sondern eben auch Menschen von Pflegen und Wohnen aus Farmsen, Arbeitsgruppen nur für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Dann kam die Tonwerkstatt dazu und unter anderem auch das Atelier Lichtzeichen, die sich im Wesentlichen aus Tagesförderangeboten gegründet haben. Das war zu Anfang schon schwierig und auch verbunden mit viel Angst und Abgrenzung der Kollegen zueinander, die so ganz unterschiedlich Herangehensweisen hatten: im Hinblick auf Menschen mit psychischen Erkrankungen, die oft einfach zur Lösung ihrer Probleme ganz ernsthafte und tiefgründige Gespräche erforderten; im Hinblick auf Menschen im Werkstattbereich, die im Wesentlichen damals über das Thema Wohlfühlen kamen, also man musste sich wohlfühlen in der Gruppe, und dann im Hinblick auf Menschen im Tagesförderbereich, die ganz andere Sorgen und Probleme hatten, oft auch Hilfeleistung im sanitären und im pflegerischen Bereich und eben auch in der Versorgung benötigten.

Schulz: Die 2000er-Jahre, um die es ja dann ging, standen in der Eingliederungshilfe unter der Überschrift „Teilhabe in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung“. Wie konnte sich das in Ihrem Arbeitsumfeld realisieren? Sie haben schon einige Hinweise gegeben: Weg von den klassischen institutionellen Strukturen. Wie hat sich das für Sie dann weiterentwickelt am Anfang der 2000er-Jahre?

Schlesselmann: Also das war ein Prozess, den wir aufgrund des Einzelhandels und dem direkten Kundenkontakt sowieso hatten. Mit einem Wandel unserer Beschäftigten vollzog sich auch eine Neuausrichtung zum Thema Kontakt zu Kunden, zum Thema Teilhabe am gesellschaftlichen, am ganz normalen Leben. Aus Sicht des Investitionsrates, der auch noch Anfang 2000 da war und dann im Prinzip mit der Eröffnung des Alsterdorfer Marktes endete, war das teilweise sehr, sehr problematisch, das muss man sagen, weil es durchaus Menschen gab, die sich in eher geschlossenen Zusammenhängen wohler fühlten und auch einen gewissen Schutz erlebten dadurch, dass eine Straße eben nicht öffentlich war, dadurch dass sie sich mehr mit vertrauten Personen auseinandersetzen konnten und teilweise ihre, ich sag mal, besonderen Eigenschaften und Macken so angenommen worden sind, wie sie eben waren. Wir erlebten dann auch, wie sich Menschen in Wohngruppen in Bargfeld-Stegen und wo auch immer wiederfanden, bis dahin, dass ich heute noch Leute treffe beim Einkaufen, die damals einfach für das Alsterdorfer Gelände, ich sag‘s mal bösartig auch aus Sicht eines Mitarbeitervertreters, nicht mehr unbedingt tragbar waren oder wo die Kompetenzen der Mitarbeiter nicht ausreichten, um das auch entsprechend der Bevölkerung zu vermitteln.

Schulz: Wenn Sie sich das mit dem Blick zurück anschauen, wie fühlt sich der Alsterdorfer Markt, auf dem ja wenig Wohnplätze für Menschen mit Behinderung sind, jetzt für Sie an?

Schlesselmann: Nach über 30 Jahren ist das mein Zuhause. Ich glaube auch nicht, dass ich vor der Rente noch mal wechsle, einfach weil ich mich da so wohl fühle. Das ist schwer in Worte zu fassen, weil ich mir dazu keine Gedanken mache. Für mich sind das Kollegen, sind das Themen, die ich jeden Tag habe, aber die ich nicht anders für mich erlebe, als wenn ich in einem anderen Unternehmen arbeiten würde. Und von daher: Für mich fühlt sich das an wie Normalität, wie absolute Normalität.

Schulz: Wir sind in den 2010er-Jahren mit den Themen Inklusion und Sozialraum und Quartier unterwegs. Finden Sie das im Alsterdorfer Markt realisiert? Und wenn ja, wie gut finden Sie das realisiert

Schlesselmann: Also es gibt zwei Arten von Inklusion: Die eine ist Rausgehen in den Stadtteil, wo es kaum oder wenig Angebote für Menschen mit Handicap gibt und dort Inklusion zu leben, in Gruppen, in Einzelarbeitsplätzen, im sozialen Umfeld usw. Es gibt aber auch die Variante in die andere Richtung: Rauf auf den Alsterdorfer Markt, dort eher weniger Menschen mit Handicap in stationären Gruppen zu beschäftigen, eher auch einzeln zu beschäftigen und viel mehr Angebote für den normalen Handel und normale Betriebe zu machen, Beides erlebe ich, finde es aber deutlich schwerer als in anderen Stadtteilen, Inklusion auf dem Alsterdorfer Markt in der letzten Konsequenz umzusetzen. Das ist ein dickeres Brett, was man da bohren muss.

Schulz: Woran liegt das? Was sind die Hauptgründe aus Ihrer Sicht?

Schlesselmann: Also ich glaube, viele – auch externe Firmen – kommen mittlerweile auf den Alsterdorfer Markt, weil sie sagen: Das ist attraktiv! Wir profitieren davon! Da geht es um Kommerz. Man kommt miteinander klar, man versteht sich. Es gibt immer wieder direkte Kontakte. Aber wenn es dann darum geht, Menschen mit Behinderung zu begeistern, die dann bei Edeka oder bei Aldi oder in anderen Firmen mitarbeiten dürfen, dann ist es so, dass jeder doch ein stückweit für sich bleiben möchte. Und soweit ich weiß, gibt es da wenig Arbeitsangebote für Menschen mit Behinderung auf dem Alsterdorfer Markt in den Fremdfirmen, schon mal als Boten oder in der Zuarbeit, aber nicht in der direkten Anstellung.

Schulz: Was sind denn für Sie aktuell die Herausforderungen – Sie haben Sie ja schon angedeutet – vielleicht auch von Alsterarbeit, aber in Richtung Inklusion am Alsterdorfer Markt auch zum Thema „Arbeit“.

Schlesselmann: Direkt am Alsterdorfer Markt [lange Pause] wird es schwer. Da verliere ich ehrlich gesagt, auch ein stückweit die Motivation, Kollegen aus anderen Branchen noch mal und noch mal und noch mal anzusprechen. Ich selber habe aber in anderen Arbeitsgruppen, für die ich zuständig sein darf außerhalb des Alsterdorfer Marktes, auch erlebt, dass da viel geht und dass es eine Offenheit für Neues gibt. Ich behaupte jetzt mal: Der Schlüssel dazu ist ein unvoreingenommenes Herangehen. Die Firmen, die auf dem Alsterdorfer Markt sind, sind nicht mehr unvoreingenommen. Also wenn ich an eine große Firma herantrete, die bisher noch kaum Beziehung dazu hatte, geht relativ viel mit ein bisschen Engagement. Wenn ich aber auf dem Alsterdorfer Markt mitbekomme, was da in anderen Bereichen passiert, dann habe ich eine Vorerfahrung. Ich glaube, hier muss man vor allem mit einem offenen Visier und möglichst bei null anfangen können, um etwas aufbauen zu können.

Schulz: Haben Sie noch eine Frage Frau Bödewadt?

Bödewadt: Das ist interessant, was Sie da erzählen, dass die am Ort ansässigen Firmen nicht so viel umdenken. Also das Umdenken findet praktisch da statt, wo man es gar nicht erwartet, und da, wo man es eigentlich erwartet, fehlt es noch. Aber es ist ja wichtig, dass die Arbeitgeber umdenken. Es ist wichtig, dass die behinderten Menschen mehr Zeit bekommen, sich einzuarbeiten und dass man dafür sorgt, dass sie mit nicht-behinderten Menschen gleichgestellt sind. Schade, ich hätte mir da vom Alsterdorfer Markt mehr erwartet. Ich habe eigentlich gedacht, dass es gerade da anderes ist, dass die Arbeitgeber da offener sind und mehr Behinderte einstellen.

Schlesselmann: Also, wir haben das ja ein paar Jahre lang über Mietverträge versucht: Man bekommt nur Mietflächen, wenn man entsprechend auch Arbeitsplätze für Menschen mit Handicaps anbietet. Das ist an der Stelle immer irgendwie gescheitert. Das war immer wieder auch schwierig. Aber ich glaube nicht, dass deshalb die Themen „Inklusion“, „Akzeptanz“ und „Anerkennung“ gescheitert sind! Mitnichten! Wenn ich da nur den Second-Hand-Shop nehme – mein Büro liegt im Second-Hand-Shop, wir dürfen jetzt seit 1 ½ Wochen wieder öffnen – da kauft jeder ein, mit einer absoluten Selbstverständlichkeit, auch jeder, der sozusagen in Büros am Alsterdorfer Markt arbeitet, in Arztpraxen, im Krankenhaus, Patienten. Jeder kauft da ein! Da macht sich niemand Gedanken drüber, dass es da vielleicht eine Hürde geben könnte. Die gibt’s nicht! Wenn ich jetzt das Kesselhaus nehme, wo wir in die Arbeit mehr und mehr Menschen mit Handicap einbinden, die dort mit bedienen, die einfach dabei sind, durchaus auch Tagesförderung-Beschäftigte in dieser Zusammenarbeit, das ist überhaupt kein Problem! Es wird nicht drüber nachgedacht! Man nimmt den Service in Anspruch, man nimmt Catering in Anspruch. Alles kein Problem! Das Thema ist, glaube ich, vielleicht auch eine arbeitsrechtliche Hürde, die es da gibt, die gerade die Firmen am Alsterdorfer Markt noch haben. Also von daher geht es mir gar nicht darum, jemanden abzustempeln, nein, ich glaube: Wir kriegen auch ein Stück weit Normalität, indem wir nebeneinanderher arbeiten und voneinander profitieren. Aber wenn es um das Thema „Inklusion“ im Gedankengang der 2010er- bis 2020er-Jahre geht, dann muss ich einfach sagen, es ist leichter, dieses in der Stadt Hamburg zu versuchen.

Bödewadt: Es ist also praktisch der Arbeitsminister gefragt?

Schlesselmann: Auch.

Schulz: Das heißt, das Quartier Alsterdorf kann da noch einiges auf den Weg bringen. Was denken Sie denn, wie wird es 2031aussehen?

Schlesselmann: Das ist spannend. [Lange Pause] Das Jahr 2031 am Alsterdorfer Markt? Ich glaube, dass es noch weniger Arbeitsangebote dort geben wird. Ich glaube, dass man den ein oder andern Bereich, den man schon sehr, sehr lange im Rahmen der Stiftung betreibt, einfach nicht mehr betreiben wird. Das hängt aber auch zusammen mit einem Wandel unserer Beschäftigten oder Klienten, die einfach jetzt eine andere Arbeit erwarten als vor zehn Jahren. Und in zehn Jahren werden es garantiert noch mal andere Menschen sein. Als ich angefangen bin, hatten wir fast einhundert Prozent Menschen mit geistiger Behinderung – oder Lernschwäche hieß das damals. Ich weiß nicht wieviel, aber heute haben wir eher Menschen mit einer psychischen Erkrankung, die ja eine ganz andere Geschichte mitbringen, die oft eine Ausbildung und Vorerfahrungen mitbringen, die oft ein sehr hohes Niveau haben, und die eine andere Arbeit machen möchten als die, die wir vor zehn Jahren angeboten haben, die wir heute durch Umstrukturierung noch anpassen können, aber, ich denke, vielleicht in zehn Jahren so nicht mehr darstellen können.

Schulz: Die Zeit für unsere Interviewzeit ist fortgeschritten. Von mir noch eine letzte Frage: Wenn Sie mit Ihrem heutigen Erfahrungswissen wieder vor der Frage stehen würden: Mache ich die gleiche Karriere nochmal, wie würden Sie heute antworten?

Schlesselmann: Ich bin ein gläubiger Mensch und ich glaube, dass es gut so ist, dass ich meinen Zivildienst in Alsterdorf machen durfte. Und ich würde keinen Schritt anders machen wollen als den, den ich bisher in Alsterdorf gemacht habe, aber immer wieder auch mit dem Blick über den eigenen Tellerrand hinaus. Das war mir immer sehr wichtig, mich auch zu interessieren für Kollegen, für Beschäftigte, für sozialpolitische Themen, die eigentlich nur am Rande was mit meiner Arbeit zu tun haben. Das würde ich mir gerne erhalten wollen. Und von daher: Ich glaube, ich würde den Weg so wiedergehen.

Schulz: Ja, schön, okay, haben Sie [zu Frau Bödewadt] noch eine Frage?

Bödewadt: Ja, ich kann eigentlich nur sagen, diesen Alsterdorfer Markt, den finde ich schon toll. Das hat sich gut entwickelt und ich habe das damals kennengelernt, als das alles noch nicht war. Da bin ich einmal mit meinem damaligen Freund drüber gelaufen und dachte: Was ist das denn hier? Und Jahre später war das dann so wie es heute ist. Das ist schon eine tolle Entwicklung! Manchmal denke ich, jeder Stadtteil könnte das ein bisschen gebrauchen, so einen Marktplatz, wo Leben herrscht. In Bergedorf, wo ich herkomme, ist das nicht so. Da ist man dann mehr so unterwegs. Das würde ich schön finden, wenn es in jedem Stadtteil so etwas geben würde. Vielleicht wäre es auch der ganzen Sache, der Inklusion, förderlich.

Schlesselmann: Ja, ich glaube, es ist vielleicht von Vorteil, dass auf dem Alsterdorfer Markt doch so viele Menschen mit Handicap, so viele Arbeitsgruppen unterwegs sind und auch die ganze Struktur der Stiftung Alsterdorf da ist, eben dann auch mit den Möglichkeiten, Inklusion immer wieder zu fördern zu pushen und anzuschieben über den Alsterdorfer Weihnachtsmarkt, über den Kartoffelschmaus, über Frühlingsfeste, über Flohmärkte, über den Gemüsemarkt jeden Freitag.

Schulz: Herzlichen Dank, dass Sie hier waren. Vielen Dank auch für das Interview

Schlesselmann: Sehr gerne.

Schulz: und das Gespräch, was wir führen konnten. Alles Gute!