07 / 2003 – Interview mit Karin Otten, Hanne Stiefvater und Prof. Dr. Dr. Christian Bernzen

Teilnehmende

Karin Otten

Christian Bernzen

Hanne Stiefvater

Monika Bödewadt

Interview / Text

Bödewadt: Ich begrüße Sie zum Interview. Mein Name ist Monika Bödewadt. Wenn Sie sich bitte vorstellen möchten.

Otten: Mein Name ist Karin Otten. Ich habe vor 30 Jahren in der Stiftung angefangen und bin aktuell in Altersteilzeit und werde ab 1. Juli in Rente sein. Ich habe angefangen als kaufmännische Leiterin der damaligen Region Nord, bin dann Sanierungscontrollerin geworden und war die letzten zehn Jahre Vorstandsreferentin, erst bei Frau Schulz [Vorständin: Birgit Schulz] und dann bei Frau Stiefvater.

Bödewadt: Wenn Sie sich bitte vorstellen möchten [an Herrn Bernzen].

Bernzen: Ich bin Christian Bernzen, Jurist und Erziehungswissenschaftler, arbeite als Hochschullehrer und Rechtsanwalt und kĂĽmmere mich um die Organisation sozialer Arbeit.

Stiefvater: Mein Name ist Hanne Stiefvater. Ich bin seit 20 Jahren in der Stiftung tätig, seit 2000 in verschiedenen Führungsfunktionen und jetzt seit sieben Jahren im Vorstand unter anderem zuständig für die Eingliederungshilfe.

Dann kann ich gleich überleiten. Ich freue mich, dass Sie hier sind, um sich an unserem Dokumentationsprojekt der Entwicklung der Stiftung Alsterdorf von einer Sonderwelt, von der Sonderanstalt in die Quartiere zu beteiligen. Dafür gab es keine Blaupause und wir mussten uns immer gut überlegen in Hamburg, auch in Alsterdorf: Wie geht das eigentlich, wie kriegen wir den Wechsel, den Change hin? Und da sitzen neben mir ganz entscheidende Akteure, die an verschiedenen Stellschrauben mitgedreht haben, dass wir heute dort stehen, wo wir stehen. Ja, vielleicht noch mal, damals, Herr Bernzen, fangen wir mit Ihnen an. Sie sind Anfang 2000 auf den Plan gekommen, vielleicht mögen Sie noch mal schildern, wie Sie die Stiftung so erlebt haben. An welchem Punkt waren wir da gerade und wo gab es den Punkt zu sagen: Oh, da brenne ich für, daran mitzuwirken, dass das anders wird?

Bernzen: Als ich das erste Mal auf das Gelände kam, gab es noch eine Pforte, die war aber schon offen. Der Vorstand hatte seine Büros in so einem flachen Bau. Und etwas, das ich nicht vergessen werde: Es gab eine Besprechung bei Herrn Baumbach und es ging die Tür auf, und es kam ein Mensch herein, der sagte „Mmmh“ und setzte sich zu der Besprechung dazu. Rolf Baumbach wusste anscheinend, was zu tun war, nämlich, diesem Menschen eine Zigarette zu drehen – die wurde in der Veranstaltung geraucht – und auch eine Tasse dem Menschen einzuschenken, das wurde auch mit „Mmmh“ entgegengenommen, und dieser Mensch hatte den Namen Kurt und hatte die Vorstellung, auf seiner Wohngruppe gäbe es zu wenig Zigaretten und Kaffee, und er wusste, wo der Vorstand arbeitete, und in einer guten Sonderwelt war er ein Experte für sein Leben.

Stiefvater: Das stimmt! Sie waren also bei Herrn Baumbach. Der hat Sie angefragt, was genau zu tun?

Bernzen: Eigentlich hatte er mich, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, gewissermaßen ohne Umschweife weitergeleitet zu Herrn Kraft. Und Herr Kraft hatte damals unglaublich hakelige Gespräche mit der Stadt zu führen. Die Stadt wollte Plätze, Heimplätze zugeordnet haben zu irgendwelchen Einheiten, also zu Umland und Stadt [zu diesem Zeitpunkt war die Stiftung aufgeteilt in Alsterdorf-Hamburg-Umland, Alsterdorf-Hamburg-Stadt und Alster-Dorf] und solche Dinge. Und wir haben immer gesagt: Nein, wir wollen die aber verschieben können! Und die Stadt hat dann darüber fast die Vereinbarungen scheitern lassen. Und dann musste eine gemeinsame Perspektive gefunden werden. Der erste eigentlich große Schritt war, zu sagen: Wir wollen nicht jedes Jahr den gleichen tüdeligen Ärger haben, mal reden wir über Plätze, mal reden wir über Beförderungskosten, mal reden wir über irgendein anderes Detail, sondern wir schreiben jetzt mal alle Sachen auf einen Zettel und dann vereinbaren wir für ein paar Jahre, dass jetzt auch mal Ruhe ist. Und das war, glaube ich, wirklich der Start und da war Herr Kraft, der ja aus der Industrie kam, so ganz Kaufmann und sagte: Wenn das denn so sein muss, dass wir da mal eine Vereinbarung brauchen, wo die eine Seite was kriegt und die andere Seite was kriegt, dann ist das eigentlich ein bisschen egal, ob das sozialrechtlich so funktioniert. Und er war Jurist genug, dass man das vielleicht mit einem fachkundigen juristischen Rat noch mal sicherer machen konnte. Das war, glaube ich, der Start.

Stiefvater: Das war ja damals noch so eine Zeit, da waren wir noch ganz am Anfang, stationär waren 85 Prozent der Klientinnen und Klienten, ambulant 15 Prozent. Es standen noch die ganzen alten Gebäude, Carl-Koops-Haus, Karl-Witte-Haus, Wilfried-Borck-Haus, finanziell sah es auch nicht so besonders gut aus. Wir hatten damals den BIMO-Prozess [BIMO = Binnenmodernisierung], den Tarifvertrag, den besonderen. Und du [zu Frau Otten] bist dann ja so Ende der 90er-Jahre, als das auch finanziell alles noch sehr schwierig war, auf den Plan gekommen. Magst du noch mal aus deiner Perspektive schildern, wie du es erlebt hast?

Otten: Na ja, Ende der 90er-Jahre waren wir schon relativ, mehr oder weniger saniert. Die größten Probleme waren ja Anfang/Mitte der 90er-Jahre. Da hatten wir einen Schuldenberg von 40 Millionen DM aufgebaut und es gab zwei Vorstände, die damals zur Sozialbehörde gegangen sind, völlig unabgestimmt, und dort einen Pflegesatz von 260 DM angeboten haben. Das wäre der Tod im Topfe gewesen, da hätte die ESA Konkurs anmelden müssen! Das ist dann relativ schnell erkannt worden. Dann durften diese beiden Vorstände die Stiftung noch im selben Jahr verlassen und Herr Kraft wurde zum Sanierungsbeauftragten ernannt. Das war Ende 1994. Wie ging das weiter? Herr Giese und ich wurden damals beauftragt, ein entsprechendes Datenmaterial für die Behörde zu erarbeiten. Wir haben gearbeitet wie verrückt, drei Monate lang, Tag und Nacht! Wir haben morgens um acht angefangen, ich war abends zum heute journal [Nachrichtensendung um 20.00 Uhr] wieder zu Hause, und auch jeden zweiten Samstag haben wir gearbeitet, manchmal kam am Sonntag noch Herr Kraft mit einem Stück Kuchen vorbei und wir haben alles reflektiert, was wir erarbeitet hatten, haben neue Aufträge bekommen. Das war so ein Zeitraum von drei Monaten. Dann wurde das Ganze intern abgestimmt. Das ganze Konzept stand mehr oder weniger zur Mitte des Jahres 1994, nein 1995, 1995 war das, und wurde letztendlich Ende 1995 kurz vor Weihnachten im Dezember von den Vertragsparteien unterzeichnet. Das waren auf der einen Seite die ESA, dann die Banken, Deutsche Bank, EDG [Evangelische Darlehnsgenossenschaft], Hamburgische Landesbank und die NEK [Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche], die jeweils ihren Beitrag geleistet hatten zur Sanierung der Stiftung. Und es wurde ein Sanierungskontrollgremium eingerichtet, das dann vierteljährlich tagte, das heißt, wir mussten über die Fortschritte der Sanierung berichten, sodass Ende 1997 die Stiftung als mehr oder weniger saniert galt. Also, da waren die Strukturen einigermaßen sauber.

Stiefvater: Und da brauchte man natürlich auch gerade in der Behörde gute Partner. Ich glaube, damals gab es auf der anderen Seite unter anderem auch Max Veser.

Otten: Der trat 1997 auf den Plan, im Rahmen dieses Sanierungskontrollgremiums, ganz genau.

Stiefvater: Ja, das ist sehr wichtig – wir betonen das auch immer –, dass man einen Wechsel, einen Change nur hinbekommt, wenn man gute Partner hat, die das Ähnliche wollen, wie man selber auch will. Nach der Sanierung war aber klar, es gab trotzdem Modernisierungsstau. Wir hatten kein Geld für Investitionen in Strukturen und Gebäude oder in fachliche Personalentwicklung für die Mitarbeitenden und deswegen kam dann der BIMO-Prozess. Das ist aber an einer anderen Stelle. Trotzdem braucht man neben jemandem wie Herrn Fenker zum Beispiel, der den Tarifvertrag mit den Gewerkschaften ausgehandelt hat, auch in Bezug auf die Behörde Rahmenbedingungen, um solche Prozesse zu gestalten. Und damit sind wir in Hamburg, glaube ich, einmalig, dass wir solche mehrjährigen Rahmenvereinbarungen dann auch schließen. Wer ist da auf die Idee gekommen, die Entwicklung der Eingliederungshilfe mit Rahmenvereinbarungen zu fördern?

Bernzen: Das war bemerkenswerterweise ein schwieriger Prozess. Die Stadt wollte Ambulantisierung und die ESA wollte das eigentlich nicht, und zwar aus einem ganz naheliegenden Grund, weil Ambulantisierung die Einnahmen vollständig unkalkulierbar gemacht hätte, so, wie die Stadt sich das damals vorstellte. Denn die Stadt stellte sich das so vor: Bisher gibt es für eine Assistenz für einen Menschen, sagen wir mal irgendeine Zahl, 6000 DM im Monat. Und nun gibt es Fachleistungsstunden, die mal bewilligt werden und mal abgenommen werden und mal nicht, und keiner weiß, was da so richtig bei rauskommt. Und das war ein in diesem Sinne unannehmbares Angebot. Und auf der anderen Seite war klar: Man kriegt nur was zusammen hin! Und dann musste ein Prozess beschrieben werden, man sagte: Okay, ihr habt das Ziel und wir haben das Ziel. Und das Ziel auf der ESA-Seite war vollständig klar: Wir brauchen verlässliche Einnahmen, um einen Prozess des Wandels gestalten zu können. Und die Stadt hat gesagt: Ja klar, okay, da können wir irgendwie vielleicht drüber reden. Aber wir wollen bestimmte Ergebnisse. Dann war auch klar, das geht nicht in einem Jahr. Und es war eigentlich verstehbar, dass man sagte: Dann müssen wir uns eben mehr Jahre Zeit nehmen, aber wir haben ein Ziel und wir haben eine Vereinbarung über Geld. Und das ist ja für ein Unternehmen eine wunderbare Situation! Man weiß, was man im übernächsten Jahr für Einnahmen hat, dann kann man ja auch mal eine Idee haben, wenn was schon feststeht. Und das war ungefähr die Lage.

Stiefvater: Wie muss man sich das praktisch vorstellen? Ich war damals ja neu 2000, die erste Vereinbarung zur Ambulantisierung wurde, glaube ich, 2003 geschlossen – ist das richtig? –

Otten: Ich glaube, ja.

Stiefvater: Wer hat denn damals eigentlich verhandelt, wer hat denn dort gesessen? Wer hat denn da mit wem gesessen? Wer war das?

Bernzen: Also, ich hatte damals den Verhandlungsauftrag. Und es gab bei Wolfgang Kraft so eine Geschäftsführerrunde, oder Bereichsleitungsrunde – ich weiß gar nicht, wie diese Organisationseinheit hieß –, da wurde das vorbereitet und dann habe ich das mit der Behörde real beredet. Und die Behörde war – also heute ist das alles irgendwie so schön und friedlich und die Idee „Gemeinsame Interessen“ klingt gut –, aber das war damals eine durchaus hakelige Veranstaltung. Ich glaube, dass man sich das heute nicht wirklich vorstellen kann! Man hatte kein Vertrauen zueinander! Die ESA hatte eine Geschichte, von der wir eben gehört haben, die im Prinzip ja für die Stadt eine erschütternde Nachricht war. Diese hieß: Die können da wirtschaften, wie sie wollen, am Schluss gibt es die ESA sowieso weiter. Die war also sozusagen unkaputtbar. Und allen Beteiligten war klar: Wenn die viele Schulden machen müssen, tragen die anderen diese, die ESA trägt die nicht! Das war ja die Erfahrung von 1995 gewesen. Die Stadt war auch an kleinen Stellen ganz kritisch. Also „Beförderung von Tafö-Besuchern“ [Tafö = Tagesförderung] war ein Spitzenthema, darüber hinaus stritt man sich stundenlang über lange Listen, „Fehlplatzierte Menschen mit seelischen Behinderungen in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung“, solche Themen, da wurde wirklich an Einzelfällen diskutiert und „Bis kurz vor Monatsmitte gilt noch die Hilfebewilligung“ und solche Sachen. Es gab kein Vertrauen, das muss man sagen. Das war eines der Hauptprobleme. Das Vertrauen ist dann über vier, fünf Schritte jeweils so im Drei- bis Vier-, Fünfjahresrhythmus entstanden, weil man festgestellt hatte: Wir können Ziele zusammen verfolgen. Und die eine Seite erlebte, dass die andere verlässlich war und umgekehrt. Und das war überhaupt erst der Zugang zum Trägerbudget.

Stiefvater: Das kann ich mir vorstellen, wenn man so eine schwierige Verhandlungssituation mit der Behörde hat, dann ohne Vertrauen, das ist schwierig. Hast du das auch so erlebt? Warst du bei Verhandlungen dabei? [zu Frau Otten]

Otten: Ja, und es war ein langer Weg hin zu gegenseitigem Vertrauen, also das muss ich dazusagen. Es gab viele Vorbehalte der ESA gegenüber und viele, viele unendliche Abstimmungsprozesse. Aber irgendwann haben wir es hinbekommen. Und als es um die Budgetperiode ab 2014 ging – da haben wir das erste Trägerbudget ja vereinbart –, haben wir lange, lange miteinander gerungen. Es kam irgendwann, dass das Wort Budget ganz ominös wurde. Wir in der ESA haben uns überlegt: Budget, ja, für zwei Sozialraumprojekte in der alsterdorf assistenz west 100 Personen und in der ost 100 Personen. Das waren unsere Gedanken zum Trägerbudget. Dann haben wir das erste Mal ganz offiziell zusammengesessen. Herr Gitschmann eröffnete das Gespräch und sagte: Können Sie sich vorstellen, ein gesamtes Trägerbudget für die ESA zu vereinbaren über fünf Jahre? Wir denken für das erste Jahr an 100 Millionen Euro. Also das war, wir waren völlig erschlagen, wir wussten überhaupt nicht, wie wir damit umgehen sollten, haben das Gespräch gar nicht so weit ausgeführt, glaube ich. Wir haben einfach gesagt: Wir müssen uns erst mal intern zu diesem gewaltigen Thema beraten. Wo sind Chancen, wo sind Risiken? Ein Fünfjahresbudget bedeutet erst mal eine ganze Menge Planungssicherheit. Aber wo sind welche Risiken? Wer springt wann wo ein, wenn die Gelder doch nicht reichen? Wir haben unglaublich lange gerechnet, Herr Veser auf der einen Seite und wir in der ESA auf der anderen Seite. Und auch darüber haben wir Vertrauen hergestellt, dass wir uns in den Zahlen immer mehr angenähert haben. Denn es ging für die ESA nicht um 100 Millionen damals, sondern es hat sich dann auf ganze 85 Millionen belaufen. Aber daran erkennt man, wie ehrlich und offen wir waren und wie offen wir mit unseren Zahlen umgingen. Wir hätten uns auch irgendwas zusammenbasteln können, wo wir auf die 100 Millionen gekommen wären, vielleicht, ich weiß es jetzt nicht. Aber so ist Stück für Stück gegenseitiges Vertrauen entstanden.

Stiefvater: barner filmt ja hier, für die ist es möglicherweise immer noch wichtig, wenn wir schon über das Trägerbudget reden. Denn wir waren deswegen so mutig, das zu machen, weil alsterarbeit [barner 16 gehört zur alsterarbeit gGmbH] schon zu dem Zeitpunkt gemeinsam mit den Elbe-Werkstätten so ein Budget hatte, und zwar schon über zehn Jahre. Und von daher haben wir gedacht: Okay, wenn das für die Werkstatt funktioniert, warum soll das dann nicht auch für Wohnen oder für Tagesförderung gehen. Aber das ist eine andere Story. Und die kam später.

Ich will noch einmal zurück zum Thema Ambulantisierung. Als ich anfing, war da immer so eine Zahl: Ja, 400 werden ambulantisiert. Allein dieses Wort! Ich weiß gar nicht, ich glaube, das gibt es im Duden gar nicht. Ambulantisiert! Also das ist auch „Ich werde ambulantisiert“.

Stiefvater: 400 Plätze, kam irgendwann mal diese Zahl?

Bernzen: Ja, ein Drittel. Ein Drittel sollte ambulant werden. Im Nachklang klingt das alles schön. Aber was war das Interesse der Stadt? Das Interesse der Stadt war, den Bund an den Kosten erheblich zu beteiligen. Das Interesse der ESA, an den stationären Bezahlformen dieser Assistenz festzuhalten, resultierte aus dem schlichten Umstand, dass Einnahmen verlässlich sein sollten, und das Interesse der Stadt war, eine höhere Bundesbeteiligung durchzusetzen. Also aus heutiger Sicht gesagt: Da ging es auch nicht nur um Rechte von Menschen mit Behinderung, sondern da ging es sehr solide um Geld, auch wenn das heute vielleicht nicht mehr so schicklich ist, aber das Vertrauen und auch das Sprechen über die Verantwortlichen bei der Stadt im Bereich der ESA war auch nicht stets von großer Freundlichkeit gekennzeichnet. Das klingt jetzt alles ganz anders, weil man weiß, dass man zusammen wirklich beachtliche Sachen hingekriegt hat. Aber das war damals nicht die Lage.

Stiefvater: Genau, also wir mussten es beweisen, dass wir es ernst meinen. Also, ich stehe da ja auch für, weil das ja dann auch irgendwann mit handelnden Personen zusammenhängt, aber auch mit Fakten, mit Ergebnissen: Erreicht man die eigentlich oder erreicht man die nicht? Finden die Menschen ein neues Zuhause, werden die alten Häuser abgerissen, entsteht da was Neues, entsteht inklusives Wohnen, ja oder nein? Und man muss sagen, wir haben es in den Jahren ja auch wirklich bewiesen! Das kann man an Steinen sehen, aber auch am Verhältnis ambulant zu stationär, oder wie würdest du [Frau Otten] das sehen?

Otten: Und auch an der Öffnung des gesamten Stiftungsgeländes. Wir haben ja 2002 die Apartmenthäuser eröffnet, 2003 den Alsterdorfer Markt. Der Zaun war weg, die Pforte war weg. Es war ein offenes Gelände. Jeder konnte dort einkaufen, es wurden Einkaufsmöglichkeiten geschaffen, die es vorher nicht gegeben hat. Und viele Menschen haben sich, glaube ich, auch schwergetan, den Alsterdorfer Markt zu betreten. Es hat dann Menschen gegeben, die diese Kontakte hergestellt haben zwischen fremden Besuchern und den Menschen, die auf dem Gelände gewohnt haben. Da gab es viele, viele befremdliche Begegnungen, glaube ich. Es hat eine Weile Anlaufzeit gebraucht, und heute ist der Alsterdorfer Markt gut frequentiert.

Stiefvater: Was war denn gerade zur Zeit der Ambulantisierung, zur Zeit der Rahmenvereinbarungen? Was war genau deine Aufgabe? Was hast du gemacht zu der Zeit?

Otten: Das kann ich jetzt gar nicht so genau sagen.

Stiefvater: Du hast gerechnet.

Otten: Ich habe gerechnet, ich habe die Prozesse betriebswirtschaftlich begleitet, immer in enger Abstimmung mit der Behörde, in der Regel mit Max Veser als deren Vertreter. Ja.

Stiefvater: Was war aus deiner Sicht das Schwierigste fĂĽr dich in dem Zusammenhang?

Otten: Ja, das Schwierigste war, glaube ich, dieser Prozess, den wir vorhin schon beschrieben hatten, das gegenseitige Vertrauen herzustellen, sodass wir wussten, wir können miteinander arbeiten und auch gegenseitiges Vertrauen und Zutrauen haben. Ich glaube, eine wichtige Person in diesem Zusammenspiel war auch Birgit Schulz, die dann irgendwann auf den Plan kam und durch die die Behörde realisiert hat: Das ist eine Person, die wirklich mit Herzblut dabei ist, aber auch mit Fachlichkeit und mit unglaublichem Engagement, fachlich versiert! Und das hat, glaube ich, auch noch mal das Vertrauen bestärkt. Max Veser war zunehmend an Inhalten interessiert und gar nicht mehr an Zahlen. Es sagte: Mit den Zahlen, das läuft schon irgendwie, das kriegen wir schon hin in gegenseitiger Abstimmung. Lasst uns an die Inhalte gehen! Und das waren dann solche Themen wie Ambulantisierung, Sozialraumorientierung und so weiter.

Bernzen: Es gibt einen spannenden Aspekt daran, den wir auch in diesem Gespräch ganz genau sehen. Dieser Prozess, der immerhin 20 Jahre gedauert hat, ist ein Prozess, den diese vollständig gutwilligen Akteure, modernen, fortschrittlichen Akteure der Eingliederungshilfe selbstverständlich ohne jede Beteiligung von Selbstvertretung organisiert haben. Und auch in unserem Gespräch merken wir das. Wir reden darüber, wie sich Spitzenfunktionäre eines Leistungserbringers und eines Leistungsträgers über unvorstellbar große Beträge verständigt haben. Aber beispielsweise hat niemand einmal vor der Festlegung dieser Zahlen – 400 werden ambulantisiert – gesagt: Ich kenne Frau Meier und Herrn Müller und die wollen im Übrigen woanders wohnen, und deshalb machen wir das. Es war ein absolut top-down gesteuerter Vorgang, ohne jede Selbstvertretung, ohne jede Angehörigenbeteiligung. Heute stockt einem, finde ich, wenn man da so draufguckt, ein bisschen der Atem. Aber so war’s.

Stiefvater: Ja, ich würde das ganz gern – es ist gut, dass Sie das sagen – ein bisschen einschränken. Das ist zwar richtig, aber der Prozess ist nur gelungen, weil wir die Rahmenbedingungen verhandelt und die Betroffenen mitgenommen haben. Wir waren in einer Einbahnstraße angekommen, was die Menschen mit Behinderung angeht, die keine Wahlmöglichkeit hatten. Die waren festgelegt, ihr ganzes Leben dort zu leben und nichts anderes zu tun. So. Und wenn man einmal da drin ist, dann hat man auch gar keine Idee, dass es womöglich auch ein Leben da draußen gibt oder dass es anders geht. Und so ging es natürlich den Angehörigen auch, also mit dem Thema Sicherheit. Und das ist mit einer der Gründe, warum wir in der Ambulantisierungsvereinbarung in den sogenannten Treffpunkten den sozialräumlichen Gedanken schon mit eingebaut hatten. Aber ich sag jetzt mal, Entscheidungen wären ohne die kleinteilige Beteiligung jedes Einzelnen, ohne einen visuellen Eindruck, ein Transportieren auch von Wie sieht ein neues Wohnen aus?, nicht möglich gewesen. Es wurden Besuche in Stadtteile organisiert, „Guck mal, hier kann man wohnen!“, oder – dann wohnten schon die Ersten da – dann fuhr man dahin und hat sich das angeguckt. Und man hat so, über diesen Weg, einen Transformationsprozess initiiert, der die Beteiligten, die Menschen selber, ich sag mal, die ja auch hospitalisiert waren, das muss man ja auch sagen, und die Mitarbeiter mitgenommen, auf eine Reise mitgenommen hat. Auf eine große Reise, für die es keine Vorbilder gab! Und es gab natürlich Bedenken. Auch die Landesarbeitsgemeinschaft für Menschen mit Behinderung war mit im Boot und wir haben nachjustiert in dem Prozess. Wie gesagt, ich glaube, wenn wir das nicht geschafft hätten, den Einbezug, auch die Wahlmöglichkeiten – es gab auch welche, die gesagt haben: Ich will hier vom Alsterdorfer Markt nicht wegziehen, ich will hier wohnen bleiben! Das haben wir dann auch ermöglicht – …

Bernzen: Genau so war es und es ist gut geworden. Nur, wenn man das heute machen würde, würde sozusagen in der zweiten Planungsbesprechung irgendjemand so ein Wort sagen wie: Nichts über uns ohne uns! Hey, ohne Selbstvertretung können wir das doch nicht machen! Ich wollte eigentlich nur dies sagen – aber das war damals nicht die Situation! Sie haben viele gute Gründe gesagt, warum es die Sache befördert hat, das so zu machen, wie Sie es beschreiben. Keinen Einwand dagegen! Ich wollte einfach nur auf den Unterschied hinweisen, wie man das damals gemacht hat und wie man das heute machen würde. Ich beziehe mich da ja ganz mit ein. Also, wenn heute ein Mandant zu mir käme und sagen würde: Ich habe so ein Projekt vor, dann würde ich sagen: Weltklasse-Idee! Mal ’ne ganz andere Frage: Haben Sie denn von Ihrem Bewohnerbeirat auch das Go? Damals habe ich solche Fragen nicht gestellt, weil die mir nicht im Kopf waren. Ich finde, das ist auch ein Zeichen für das, was sich verändert hat. Wir haben damals mit viel Mühe und vollständig richtig die Verhältnisse zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer neu justiert und ich erlebe Bundesteilhabegesetz-Umsetzung so, dass viele immer noch denken, das ist das Allerwichtigste: Wie verstehen sich Leistungsträger und Leistungserbringer? Wo man sagen muss: Jetzt mal was Verrücktes. Eingliederungshilfe gibt es für Menschen mit Behinderung, nicht für Leistungsträger und nicht für Leistungserbringer! Aber: Das ist ein Weg und den waren wir damals noch nicht gegangen.

Stiefvater: Und wir haben 2000 auch eigentlich noch nicht von Inklusion gesprochen. Da war noch das Leitbild von Integration. Inklusion, die Behindertenrechtskonvention kamen ja erst später. Und diese ganzen Themen haben ja wirklich in den letzten 20 Jahren noch einmal einen enormen Schub bekommen. Wir sind aber nicht alleine. Wir haben uns nicht alleine auf den Weg gemacht, sondern auch mit anderen zusammen – wir sind ja Mitglied im Diakonischen Werk, aber auch mit anderen zusammen, die nicht im Diakonischen Werk sind, also diese ominösen 600 Plätze von Alsterdorf waren ja nicht die alleinigen. Wie war das damals noch mal? Wie war die Rolle im Kontext in der restlichen Szene in Hamburg? Es gab noch andere Träger wie zum Beispiel Leben mit Behinderung und BHH Sozialkontor.

Otten: Na, ich denke schon, dass wir in Alsterdorf Vorreiter waren in dieser Bewegung. Und mir ist eben noch mal eingefallen, es fing ja nicht an mit der Ambulantisierung, sondern schon in den 80er-Jahren, als Pastor Mondry noch da war, da ging es um Themen wie Normalisierung, Regionalisierung, Dezentralisierung. Da sind ja erste Wohngruppen dann vom Stiftungsgelände weggezogen, zum Beispiel in das Stadthaus Schlump, nach Schnelsen. Dieser Prozess hat schon viel, viel früher begonnen. Inwieweit andere Einrichtungen das auch gemacht haben, das weiß ich nicht oder wusste ich damals auch nicht. Da gab es auch eigentlich keinerlei Kontakte zu anderen Trägern. Das war die Konkurrenz und mit denen wurde eher nicht gesprochen. Wir haben uns eigentlich immer als Vorreiter gesehen, waren es vielleicht auch. Aber auch nur vielleicht.

Bernzen: Ganz sicher.

Otten: Ganz sicher, ja.

Bernzen: Dieses Trägerbudget, das republikweit ein Modell war, ist von und mit Alsterdorf entwickelt worden.

Otten: Das ist richtig.

Bernzen: Andere haben es nachgemacht in Hamburg und sich dem Modell angeschlossen. Viele haben es kritisiert. Und wir haben gut aufgepasst, dass die Risiken, die wir und auch andere gesehen haben, sich nicht verwirklicht haben. Aber das ist modellhaft entwickelt worden und das wäre ohne den Mut der damals Beteiligten niemals so weit gekommen.

Otten: Genau, und die anderen Träger sind im nächsten Schritt auf diesen Zug aufgesprungen. Und so kam es dann auch zu verstärkter Kooperation mit den anderen. Und auch da ging es Schritt für Schritt darum, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Das war zu Anfang auch durchaus nicht da. Und die ESA wurde durchaus kritisch beäugt.

Stiefvater: Ja, wir haben heute eine enge Zusammenarbeit mit Leben mit Behinderung, die ja wirklich klassisch in den 70er-Jahren auf Basis einer Elterninitiative gegründet wurden.Und die sind ja den Weg mitgegangen, auch zur Ambulantisierung. Und die haben wahrscheinlich auch aufgrund ihrer Geschichte tatsächlich noch mal eine andere Einbindung der Betroffenen selber und auch der Eltern. Die sind aber diesen Weg, diese Entwicklung auch mitgegangen, das muss man sagen, Leben mit Behinderung, BHH Sozialkontor, genau, Rauhes Haus ist jetzt dabei.

Bernzen: Es ist einfach so, dass in Hamburg sich etwas durchgesetzt hat, was sehr wichtig ist, nämlich das Verständnis: Wir haben gemeinsame Ziele in der Leistungserbringung, nämlich die Leistungsträger und die Leistungserbringer zusammen, und weil wir das haben, können wir auch das Geld vernünftig steuern. Und ich glaube, der nächste große Schritt, der ansteht, ist, in der Steuerung dieses Prozesses Selbstvertretung von vorneherein zu beteiligen. Und da sind wir lange noch nicht! Wir sind bei Weitem nicht gut genug in der vollständigen Beteiligung von Selbstvertretung und das liegt zu einem guten Teil daran, dass wir das noch nicht gut genug ausprobiert haben. Und jemandem, der sagt „Ich weiß, wie es geht“, würde ich immer sagen: Sie wissen vielleicht, wie wir es anfangen können, aber bestimmt nicht, wie es geht.

Stiefvater: Würden Sie auch so weit gehen bei einer nächsten Rahmenvereinbarung, auch andere Formen der Beteiligung zu finden? Haben Sie dafür Ideen?

Bernzen: Also, ich sag’s mal ganz simpel: Der Bundesgesetzgeber hat mitgedacht, dass man das machen sollte, wenn man sogar Landesrahmenverträge so verhandelt. Und ich finde, dass das jetzt dran ist, das gut zusammen auszuprobieren und sich einzulassen auf das Abenteuer, dass vieles, was Profis sich ausgedacht haben, noch mal ganz anders werden kann, wenn es von Selbstvertreterinnen und Selbstvertretern gesteuert wird. Und – ich erlebe im Vorstand der Bundesvereinigung Lebenshilfe, dass sich jedes Gespräch verändert, wenn Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter mit am Tisch sitzen. Und da sind wir in Hamburg einfach noch nicht gut genug. Das ist so ein bisschen noch eine ganz zugewandte paternalistische Tradition, die in dieser Stadt nicht ohne Bedeutung ist.

Stiefvater: Ja, genau. WĂĽrdest du das [gemeint ist Frau Otten] auch so sehen? Kannst du dir das vorstellen?

Otten: Ich denke, das ist der Trend der Zeit. Ja, so sollte es gehen, ja.

Stiefvater: Wäre das ein gutes Ende für unsere kurze Sequenz? Wir haben ungefähr eine halbe Stunde gehabt. Gibt es vielleicht von Ihnen [gemeint ist Frau Bödewadt] noch eine Frage?

Bödewadt: Ja, ich hätte noch eine Frage, und zwar: Was für Neuerungen würden Sie sich noch von Alsterdorf wünschen? Was ist noch zu tun? Was bleibt noch?

Bernzen: Ich glaube, dass es eine große Aufgabe ist, die Wirksamkeit der Leistung sichtbar zu machen. Wie verstehen Menschen, für die die Leistungen erbracht werden, was Gutes und was Schlechtes und wie sagen sie es? Und wie sagen Menschen, die denen nahestehen – Angehörige, vielleicht auch gesetzliche Betreuerinnen und Betreuer –, was gut und was richtig ist? Wie beschreiben Mitarbeitende das? Wie beschreiben Hilfeplanerinnen oder Hilfeplaner das? Und dann sind wir weg von so einer globalen Steuerung, die alles einheitlich macht, dann kommen wir in eine Situation, wo man sagen kann – die Dinge sind verschieden gut, zum Beispiel bei alsterspeiche ist das im Übrigen so: Das muss nicht in der ganzen Stadt sein wie bei alsterspeiche, aber bei alsterspeiche ist das gut so. Und das noch mehr in den Blick zu nehmen, das, glaube ich, ist der Schritt, der wichtig ist.

Bödewadt: Ja.

Otten: Dem könnte ich mich erst mal gut anschließen, ohne jetzt auf die Schnelle weitergehende eigene Ideen dazu zu haben.

Bödewadt: Ja, dann bedanke ich mich für das Mitmachen bei Ihnen, und bei Ihnen [gemeint ist Frau Stiefvater] liegt das Schlusswort.

Stiefvater: Ja, vielen Dank, das war wieder sehr spannend! Toll, dass wir jetzt diese wichtige Phase auch mit Ihnen als Akteure fĂĽr die Nachwelt festgehalten haben! Vielen Dank fĂĽr das Interview und die Zeit!

Bödewadt: Herzlichen Dank!