11 / 2011 – Interview mit Christian Fricke, Michael Schmitz, Ulrich Scheibel, Thomas Liehr und Georg Poppele

Teilnehmer:

Christian Fricke

Ulrich Scheibel

Michael Schmitz

Thomas Liehr

Georg Poppele

Hanne Stiefvater [ist nicht auf dem Video zu sehen, da aufgrund der Pandemiesituation die Abstände zu den Personen beachtet werden mussten]

Transkription

Stiefvater: Heute haben wir fünf Protagonisten mit sehr viel Fach-Know-how hier, wichtige Akteure aus dem Bereich der Medizin und Pflege, die die ganze Phase der Umgestaltung und Veränderung der Stiftung Alsterdorf miterlebt haben. Fangen wir mit der Vorstellung an, gerne mit dem Herrn links von mir.

Fricke: Mein Name ist Christian Fricke. Ich bin von 1985 bis 2020 in der Stiftung gewesen, habe im Werner Otto Institut [WOI] als Assistenzarzt angefangen und war zuletzt ärztlicher Leiter und Geschäftsführer des Instituts.

Schmitz: Mein Name ist Michael Schmitz. Ich bin seit 1992 in der Stiftung tätig, habe als Pflegedienstleitung angefangen und bin seit 2005 in der Geschäftsführung des Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf [EKA].

Scheibel: Ulrich Scheibel ist mein Name. Ich habe 1992, also vor rund 30 Jahren, als Student im Immobilienbereich angefangen, hatte mich damals um die Auflösung der Wäscherei kümmern müssen und habe meine Diplomarbeit über die Großküche geschrieben, die schon damals ein betriebswirtschaftliches Problem darstellte. Danach war ich Controller, erst mal in der Eingliederungshilfe bei Michael Wunder, dann im EKA und jetzt bin ich seit 13 Jahren Mitglied im Vorstand der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Zwischendurch war ich auch Mitglied im Stiftungsrat.

Liehr: Mein Name ist Thomas Liehr. Ich bin seit 1975 in der Stiftung beschäftigt, habe dort in der Behindertenhilfe als Pflegehelfer angefangen, habe dann eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolviert, bin relativ schnell, 1980, glaube ich, in die Kliniken gewechselt, war eine ganze Zeit Stationsleitung auf einer Intensivstation und bin dann in die Pflegedienstleitung gewechselt. Im Jahr 1995 habe ich eine Ausbildung zur Pflegedienstleitung gemacht, war dann eine Zeit lang mit Herrn Schmitz zusammen als Pflegedienstleitung am Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf [EKA] tätig, bin 1997 in das Heinrich Sengelmann Krankenhaus (HSK) gewechselt, war dort zunächst Pflegedienstleitung und ab 2005 Geschäftsführer.

Poppele: Mein Name ist Georg Poppele. Ich habe 1980 im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf mit dem Zivildienst angefangen und war nach dem Medizinstudium vier Jahre Assistenzarzt in Alsterdorf, bin dann zur Facharztausbildung in ein anderes Krankenhaus gegangen, habe dort in der Inneren Medizin und Kardiologie gearbeitet und bin 1990 als Oberarzt zurückgekommen [an das EKA]. Ende des Jahres 2001 bin ich dort Chefarzt der Inneren Abteilung geworden und habe mit der Entwicklung des Sengelmann Instituts für Medizin und Inklusion [SIMI] die ärztliche Leitung dieser Spezialambulanz übernommen.

Stiefvater: Man kann also sehen, Sie haben alle fünf die entscheidenden Jahre der Auflösung der Anstalt erlebt. Im Jahr 1979 ging es durch einen ZEIT-Artikel mit einem richtig großen Ruck los, ausgelöst auch durch Mitarbeiter der Stiftung. Die folgenden Jahre waren durch viele Aufbrüche und Umbrüche gekennzeichnet. Wie haben Sie diese mit dem Blick aus der Medizin oder aus der Pflege gesehen? Was war für Sie das Besondere, wo Sie gemerkt haben: Ja, das ist richtig! So kann es nicht bleiben! Das muss verändert werden! An welcher Stelle haben Sie gemerkt, dass es wirklich losgeht? Gab es da besondere Ereignisse für Sie?

Fricke: Für mich war das eigentliche Ereignis die physische Auflösung der Anstalt. Als ich angefangen habe, gab es einen Zaun rings ums Gelände, es gab ein abschließbares Tor für den Parkplatz vor dem Werner Otto Institut. Wenn man freitagnachmittags übers Gelände ging, gab es klassisches Anstaltsleben, und als dann diese Aufbruchstimmung da war, sodass viele Menschen vom Zentralgelände in Wohngruppen außerhalb wegzogen, war das ein ganz entscheidender Schritt. Die medizinischen Einrichtungen sind immer am Standort geblieben, aber die ganzen anderen Wohneinheiten zogen schrittweise vom Gelände weg. Und gegenüber vom Werner Otto Institut befand sich das Carl-Koops-Haus. Da haben wir schon mitgekriegt, wie sich das so langsam entvölkerte, und haben dann natürlich auch hautnah den Abriss erlebt. Aber das war sehr viel später. Für mich war diese Geländeöffnung schon ein sehr entscheidender Schritt. Als Kinder- und Jugendarzt hat man natürlich immer gesehen, was eigentlich mit Kindern auf dem Stiftungsgelände passierte. Es gab anfangs noch eine Wohngruppe für Jugendliche, die wurde dann auch aufgelöst. Das war aus der Sicht der Kinder- und Jugendmedizin so ein erster entscheidender Schritt.

Stiefvater: Carl-Koops-Haus ist das Stichwort. Ging Ihnen das auch so oder waren es andere Ereignisse? [zu Herrn Schmitz]

Schmitz: Ich kann mich Herrn Dr. Fricke nur anschließen. Das war tatsächlich so ein Highlight, denn man merkte: Es verändert sich tatsächlich etwas! Also gemeint ist das Thema Öffnung des Geländes / Gestaltung des Alsterdorfer Marktes, vor allen Dingen auch Bauten, die sich verändert haben, Abrisse, Neubauten. Ich finde, da hat man wirklich gemerkt: Die Stiftung geht einen anderen Weg!

Stiefvater: Herr Poppele, fanden Sie das richtig?

Poppele: Das ist gut, dass Sie fragen, denn ich habe es nur zum Teil richtig gefunden. Als ich 1990 zurückkam, da hieß es nicht mehr Alsterdorfer Anstalten, sondern Evangelische Stiftung Alsterdorf. Das fand ich gut, weil in diesem Begriff Anstalten nur sehr wenig Augenhöhe drinsteckt. Auch weil das Carl-Koops-Haus kein schönes Gebäude war, habe ich es zum Teil sehr positiv erlebt, dass die Wohngruppen, die Menschen andere Möglichkeiten außerhalb fanden.

Was ich aber nicht gut fand, war, dass das medizinisch nicht vorbereitet war. Die Medizin ist auch wichtig! Wir können später noch mal darüber sprechen, was sich da bei mir auch verändert hat. Die Menschen sind aus der medizinischen Versorgung, wie gut auch immer, in die Stadtteile gekommen und dort oft medizinisch nicht gut versorgt worden. Es war, wie gesagt, von uns aus dem Krankenhaus oder aus der Stiftung diesbezüglich nicht gut vorbereitet, weil es viele Menschen mit Krankheiten gab, auf die die Ärzte in den Quartieren nicht vorbereitet waren, durch Fragen wie zum Beispiel: Wie ist das bei demjenigen mit dem Diabetes oder mit der Verhaltensstörung oder mit der Medikation oder mit der Epilepsie? Also das war wirklich nicht gut vorbereitet! Wir von der Medizin waren aber auch viel zu defensiv und haben eher geklagt als gehandelt.

Stiefvater: Das sind Erfahrungen, die eine Rolle spielen. Wie haben Sie das erlebt, Herr Scheibel, Herr Liehr?

Liehr: Ich glaube, ich bin der Einzige in der Runde, der diese Schlangengrube [gemeint sind die Alsterdorfer Anstalten; die Bezeichnung ist dem ZEIT-Artikel entnommen] noch live miterlebt hat. Ich habe 1975 angefangen. Da war ich total jung und auch total unpolitisch, aber irgendwie hat mir mein moralischer Gradmesser gesagt, dass das, was da passiert, nicht richtig sein kann. Ich habe mich dann relativ schnell an diesen Freundeskreis angedockt [gemeint ist der Kollegenkreis, eine Gruppe von Mitarbeitenden, die als Erste mit den Zuständen in den Anstalten an die Öffentlichkeit gingen], der sich um Horst Wallraht und … Starnke – wie hieß der noch mal, weiß ich gar nicht mehr –, Horst Wallraht war das jedenfalls …

Stiefvater: … Thomas Hülse.

Liehr: … genau und um Thomas Hülse gebildet hatte. Das war eine Zeit, wo man wirklich die Anstalt noch in ihrer schlimmsten Form erlebt hat, also wo Menschen gefesselt wurden, wo Menschen mit Behinderung gemaßregelt wurden, wo bestraft wurde. Ich erinnere mich noch, ich habe da eine richtige Aversion auch gegen die Schwesternschaft entwickelt – da waren auch sehr nette und kompetente Frauen –, weil es wirklich Furien gab. Erst viel später habe ich begriffen oder auch gelernt – in der Weiterbildung hatte ich einen Professor, der sich sehr intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat –, da waren eben auch ganz viele Leute – ich will jetzt nicht behaupten, dass die Nazis waren –, die noch aus dieser Zeit kamen und sehr alt waren. Das Schlimme war, wenn man nicht mitgemacht hat – ich erinnere mich, ich reagierte einmal mit Widerworten, das war auf einer Station, wo morgens 20 bis 30 Bewohner durch ein Badewasser gezogen wurden –, auf meinen Hinweis, dass das doch eigentlich nicht sein kann, wurde ich zum Direktor vorgeladen und mir wurde unmissverständlich klargemacht, wenn ich nicht spuren würde, dann würde ich rausfliegen. Also das war für mich eine Zeit, da wusste ich, wenn ich nicht in die Klinik [Evangelisches Krankenhaus Alsterdorf] käme, dann würde ich auch weggehen. Das habe ich nicht ausgehalten. Das waren so meine ersten Erfahrungen in der Stiftung.

Scheibel: Bevor ich zu meiner Sicht komme, will ich noch einmal kurz abtauchen in die Vergangenheit. Das Krankenhaus in Alsterdorf ist ja vom Ursprung her die letzte Baumaßnahme von Pastor Sengelmann gewesen, die er 1896, glaube ich, fertiggestellt hat. Und die Funktion des Krankenhauses war von vorneherein nicht die, ein Krankenhaus für Menschen mit Behinderung zu sein, sondern ein Krankenhaus, das das Stiftungsgelände versorgen sollte, also auch die Mitarbeitenden – natürlich auch die Menschen mit Behinderung –, das umliegende Umfeld, die Nachbarn und so weiter. Dann ging es los mit dem Aufbrechen der Anstalten, mit dem Wegzug der Menschen mit Behinderung in die Stadt, in die Quartiere hinein und wir hatten eine Situation im Krankenhaus, die gepaart war mit einem finanziellen Problem.

Es ging dem Haus 1996 finanziell nicht gut. Ein Riesenfinanzdrama! Wir haben vonseiten der Behindertenhilfe – jetzt Eingliederungshilfe – gespürt, dass dieser Aufbruch zu einem Krankenhaus, einem ehemaligen Anstaltskrankenhaus, das finanziell nicht gut funktionierte, nicht passte. Es wurde eher als Ballast empfunden, sodass man als verantwortliche Person im Krankenhaus schon spürte, dass man innerhalb der Stiftung Alsterdorf allein klarkommen und irgendwie Wege finden musste, um das Krankenhaus praktisch neu zu erfinden. Wir haben uns damals sehr konzentriert auf Themen, die gut zur Stiftung, zum Krankenhaus passten, wie Menschen mit Epilepsie, psychischen Erkrankungen, Kinder, sehr junge Kinder, also auch Frühintervention war ein Thema. Mit dem Werner Otto Institut zusammen haben wir das Thema Menschen mit Behinderung beziehungsweise mit geistiger Behinderung im Krankenhaus lange kritisch diskutiert. Es hieß immer: Bloß nicht Menschen mit geistiger Behinderung so stark in den Vordergrund rücken, sonst kommen die anderen Patienten nicht! Diese Haltung hat mich zunehmend gestört, weil ich den Aspekt Menschen mit Behinderung schon immer als ein wesentliches Merkmal des Krankenhauses empfand.

Wir haben – das ist noch gar nicht so lange her – erst ab dem Jahr 2009 angefangen, dieses Thema aktiv anzupacken mit dem Ziel, es modern weiterzuentwickeln, also modern zu interpretieren: Wie versorgen wir jetzt in der heutigen Zeit vor dem Hintergrund Integration und Inklusion Menschen mit geistiger Behinderung? Mit Herrn Poppele sind wir da sehr aktiv gewesen. Und auch Herr Fricke, Herr Schmitz, Herr Liehr waren gut involviert in der Weiterentwicklung dieses Themas. Erst da, eigentlich erst, als ich 2009 in den Vorstand gekommen bin, haben wir zusammen mit der Vorständin Frau Schulz, die für die Eingliederungshilfe zuständig war, angefangen, die Brücke zwischen Medizin und Eingliederungshilfe aufzubauen, die vorher nicht vorhanden beziehungsweise nicht besonders groß war.

Stiefvater: Also die Denkweisen zur Auflösung von Sondereinrichtungen sind schon sehr grundsätzlich gewesen – nehmen wir mal die Schule, da ging es von der Abschaffung der Förderschule, denn eigentlich ist die Förderschule eine Sondereinrichtung, bis hin zur Beschulung von allen Kindern mit Behinderung in der Regelschule.

Gab es Diskussionen zu den Fragen: Ist das EKA, ist das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf eine Sondereinrichtung fĂĽr Menschen mit Behinderung und mĂĽsste man das dann eigentlich auch schlieĂźen oder, wenn ĂĽberhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand? Wie war das?

Scheibel: Hinter vorgehaltener Hand ist fast zu wenig. Es gab richtige Angriffe, sodass man sagte: Dieses Haus belastet uns! Es wurde eben als ehemaliges Anstaltskrankenhaus empfunden, nach dem Motto: Wozu brauchen wir das? Bis dahin, dass man es aus Prinzip ablehnte und sagte: Wir wollen unsere Menschen mit geistiger Behinderung dort nicht behandeln lassen, denn wir gehen in die Quartiere! Man muss aber auch sagen, dass in Bezug auf dieses ganze Thema die Eingliederungshilfe von der Denke und von der Diskussion her viel weiter war als die Medizin. Das habe ich zunehmend im Stiftungsrat und auch als Vorstand mitgekriegt. In der damaligen Behindertenhilfe, jetzt Eingliederungshilfe, war schon eine andere Haltung, eine andere Diskussion, eine andere Suchbewegung als in der Medizin. Das heißt, man hatte gerade auch wegen der damaligen finanziellen Probleme im Krankenhaus andere Themen zu bewältigen und konnte sich erst nach einer geraumen Zeit, als es finanziell wieder besser lief, auch inhaltlich tiefer mit diesem Thema beschäftigen. Also man hat schon gespürt, Medizin neigt sehr dazu, sich zu spezialisieren und dann mit Spezialwissen Menschen an sich zu binden. Die Inklusionsbewegung geht aber einen anderen Weg. Das ist ein interessantes Thema, das auch heutzutage immer noch gilt.

Wenn ich vielleicht noch eine Ergänzung machen kann zu dem, was aus meiner Sicht – Herr Poppele hat es schon angedeutet – nicht gut war. Das war die Vorbereitung der Stadtteile und Quartiere auf das Öffnen der Anstalten und den Auszug der Menschen in die Quartiere. Man hatte damals in den 1980er-/1990er-Jahren eine Ärzteschwemme und hat sich überhaupt nicht darum gekümmert oder sich Gedanken gemacht, auch nicht vonseiten der Sozial- und Gesundheitspolitik, ob die Ärzte auf diese Menschen vorbereitet waren.

Es gab da nicht nur bauliche Barrieren, sondern auch Kommunikationsbarrieren – leichte Sprache oder unterstützte Kommunikation sind auch heute für viele Ärzte noch Fremdworte – oder das medizinische Fachwissen kam zu kurz oder der zeitliche Aufwand wurde unterschätzt. Da stieß man in den Quartieren auf Ärzte, die überhaupt nicht vorbereitet waren, und das merkt man auch heute noch. Also diesem Thema jagen wir auch heute noch hinterher.

Poppele: Ich würde das gerne bestätigen wollen. Die Eingliederungshilfe war deutlich weiter und innovativer als wir von der Medizin. Wir waren da viel konservativer, was auch seine Gründe und zum Teil auch gute Gründe hatte.

Diese Öffnung war kein medizinisches Verdienst. Es gab für mich eine Situation, das war gerade so die Zeit Ende 2008, als ich Herrn Eckhart Drews kennenlernte und hitzig mit ihm diskutierte und gesagt habe: Ja, klar, die Medizin ist das Wichtigste, da geht es um die Existenz, und darum muss eigentlich der Mediziner oder die Medizinerin bei Menschen mit Behinderung, bei Menschen mit seelischen Behinderungen oder Erkrankungen und auch generell das letzte Wort haben! Wir waren sehr hitzig in der Diskussion. Und hinterher habe ich gedacht: Das ist eine falsche Denke! Wir müssen miteinander reden. Jeder ist wichtig! Und diese Diskussion, die war dann eigentlich erst ab 2008 oder 2009 möglich. Vorher waren zwischen der Medizin und der Pädagogik ganz viele Tabus und ein großer Graben, vielleicht auch in Bezug auf die Theologie, aber das ist noch mal ein anderes Thema.

Stiefvater: Ja, das hat sich über die ganzen Jahre gezogen, dieser Streit oder dieses Ringen darum, wer die Dominanz hat, die Medizin oder die Pflege oder die Pädagogik. Früher hießen die Menschen mit Behinderung Pfleglinge oder Zöglinge, also auch die Sprache zu Zeiten von Pastor Lensch spiegelt die Rolle der Oberärzte und der Chefärzte in der Stiftung Alsterdorf wider, die auch eine ganz andere Bedeutung und viel mehr Einfluss hatten, auch auf der Vorstandsebene.

Die Kollegen, die dort arbeiteten, waren meist Pflegekräfte. Der Schwerpunkt war nicht die Pädagogik. Erst über die Jahre hat sich das verändert und es ist ein anderes Denken eingezogen. Viele Jahre hat das gedauert!

Liehr: Also in der Zeit [gemeint: 1980er-/1990er-Jahre] galt absolut das Primat der Medizin und der Pflege. Das änderte sich, glaube ich, mit den ersten Heilerziehungspflegerinnen. Da kippte das Ganze leicht in die Pädagogik rüber.

Was ich immer höchst bedauerlich fand, war, dass das immer so eine Versus-Diskussion war. Das Pendel kippte ganz weit rüber in die Pädagogik und dann spielten Medizin und Pflege gar keine Rolle mehr, und das, was ich immer nicht so toll fand, war, dass letztendlich eigentlich Menschen mit Behinderung auf diese Weise aus ideologischen Gründen immer auf der Strecke blieben, denn das Problem dieser Zeit war auch, dass viele in den Bereichen ihre Menschen mit Behinderung in andere Krankenhäuser schickten, und diese kamen dann relativ schnell wieder ins EKA, weil die Ärzte [in den Quartieren] schlicht und ergreifend total überfordert waren. Sie hatten gar nicht die Fachkompetenz, mit solchen Menschen umzugehen. Und ich fand es immer bedauerlich, dass das nie so richtig thematisiert worden ist. Das war immer ideologisch besetzt!

Stiefvater: Herr Schmitz, ich denke noch mal an die Ambulanz, auch an die hausärztliche Ambulanz, haben Sie das auch so erlebt?

Schmitz: Das habe ich genauso erlebt. Was ich spannend finde, ist: Diese ganze Diskussion Wer oder was ist richtig für den Menschen mit Behinderung oder mit Beeinträchtigung? zeigt auch: Es wurde gar nicht im Sinne des Menschen geguckt, weder von der Medizin noch von der Pädagogik, sondern es wurde geguckt, wer hat für sich den Anspruch Ich mache es richtig. Das war ja genau der Punkt, der falsch war.

Das Thema Ambulanz – ich finde nach wie vor, dass das auch ein heißes Thema ist; müssen Menschen in einer Spezialambulanz behandelt werden? – kann man nicht pauschal bejahen. Aber man kann auch nicht pauschal Nein sagen. Ich sag immer: Wenn es Zentren gibt, wo eine bestimmte Erkrankung gut behandelt wird, wo Spezialisten sitzen, dann finde ich es richtig, dass es solche Zentren gibt. Was man nicht sagen kann, ist, dass alle Zentren alles richtig machen, also auch in der Versorgung von Menschen mit Handicap.

Poppele: Also ein Beispiel fand ich sehr spannend. Als wir die ersten Überlegungen zu diesem medizinischen Zentrum für erwachsene Menschen mit Behinderung, SIMI, anstellten, haben wir ein Schaubild gemacht und da war dieses Zentrum in der Mitte. Und dann kam Frau Helmer von der Eingliederungshilfe und sagte: Also, da stimmt etwas überhaupt nicht! Das war wirklich ein Schlüsselerlebnis, diese Frage Wer gehört eigentlich rein in die Mitte des Schaubilds? Da gehört der Mensch mit Behinderung rein, was Sie, Herr Schmitz, sagten mit den Worten Von den verschiedenen Seiten aus zu denken. Wenn man das macht – und wir haben es dann auch überwiegend gut gemacht, haben also von allen Seiten geschaut, von der Pflege aus, von den verschiedenen medizinischen Bereichen, von den therapeutischen Bereichen und von der Pädagogik aus –, dann wird das was! Und da ist der Dialog zwischen der Eingliederungshilfe und der Medizin und den anderen Bereichen, Pflege und so weiter entstanden, der bis 2008 gefehlt hat.

Stiefvater: Wenn Sie selber sagen, Sie hatten Befürchtungen oder waren nicht genug vorbereitet in den Quartieren, kam denn bei Ihnen auch etwas von den Angehörigen und von den Menschen mit Behinderung selber an? Hatten die auch Angst, dass sie vor Ort nicht genügend medizinisch versorgt würden?

Fricke: Im Kinder- und Jugendbereich haben wir lange schon diese spezialisierten sozialpädiatrischen Zentren wie das Werner Otto Institut. Wir haben viele Eltern erlebt, die große Ängste hatten, dass, wenn die Kinder 18 Jahre alt werden würden, sie dann nicht mehr bei uns betreut werden könnten, weil die einfach dann in eine Struktur entlassen wurden, wo sie sich die ganze Expertise selber zusammensuchen mussten. Es gab eben keine zentrale Ansprecheinheit für schwierige Fragestellungen. Es ist ja nicht so, dass die Kinder und Jugendlichen monatlich bei uns auftauchen, sondern die kommen in der Regel in größeren Abständen. Manche werden therapeutisch betreut, aber in der Regel geht es um Beratung, um Wegweisung und Weichenstellung, darum, schwierige Phasen mit zu begleiten. Gerade die Phase von der Adoleszenz ins Erwachsenenleben ist mit ganz vielen Themen verbunden wie unter Umständen Auszug aus dem Elternhaus, Selbstständigwerden, all diese Themen. Da hatten viele Familien große Sorgen. Gerade die Jugendlichen mit komplexen Problemen wie die, von denen Herr Poppele gerade gesprochen hat, mit bestimmten Erkrankungen wie Epilepsien u. Ä. hatten die Frage: Ja können wir nicht bei Ihnen weiterbehandelt werden? Das ging aber aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht. Und deshalb haben wir gemeinsam lange dafür gekämpft, dass es jetzt so ein Zentrum für Erwachsene gibt, was mittlerweile bundesweit auch gesetzlich verankert ist. Und wir aus der Kinder- und Jugendmedizin sind extrem froh, dass das so ist.

Noch einmal ganz kurz zum Thema Pädagogik und Medizin. Das Gegeneinander in der Diskussion war in unserem Bereich auch. Also das WOI ist ja 1974 gegründet worden und hatte damals schon einen Modellkindergarten – damals hieß es ja noch Integrationskita – und der Leiter der Integrationskita war der ärztliche Leiter des Instituts. Das hatte natürlich bei den Pädagogen zu erheblichen Widerständen geführt und noch vor meinem Beginn dort gab es letztendlich doch schon eine pädagogische Leitung für den Kindergarten. Das zeigt noch mal den Primat der Medizin. In den 70er-Jahren leiteten ein Arzt oder eine Ärztin einen Kindergarten und waren dem pädagogischen Personal vorgesetzt. Als der Umbruch in den 80er-Jahren anfing, war das schon undenkbar!

Stiefvater: Kam bei Ihnen was an von den Menschen mit Behinderung selber, dass die zum Beispiel sagten: Man, ich muss jetzt umziehen, ich ziehe jetzt nach Harburg oder ich ziehe nach Wilhelmsburg oder nach Schnelsen! Wie war das mit Angehörigen, denn die Veränderung der Behindertenhilfe ging nicht nur von Alsterdorf selbst aus. Irgendwann kam das Thema Ambulantisierung, die ganzen Vereinbarungen wie ambulant vor stationär dazu. Viele, zum Beispiel auch Leben mit Behinderung, haben sich auf den Weg gemacht, die damalige Behindertenhilfe in Hamburg zu verändern. Gab es da Sorgen, die auch bei Ihnen angekommen sind?

Schmitz: Wenn man über das Gelände ging, traf man Bewohner – man kannte ja den ein oder anderen –, die dann sagten: Herr Schmitz, stell dir mal vor, wir müssen jetzt hier wegziehen! Das finden wir aber gar nicht gut und wir werden dagegen demonstrieren! Wir wollen hier auf unserem Gelände bleiben, wir wollen hier in unserem Rahmen bleiben! Also diese Rückmeldung kam direkt von Klienten, wenn man in Kontakt war. Es kamen aber auch tatsächlich Rückmeldungen, das muss man auch sagen, von eigenen Mitarbeitern, die gesagt haben: Wir finden es nicht gut, dass plötzlich das Gelände so geöffnet ist, dass die Menschen diesen geschützten Raum verlassen! Aber das ist genau das, was Herr Scheibel sagte. Da ist die Medizin, da ist die Pflege in der Einsicht immer ein Stück langsamer gewesen, was für Vorteile das [der Auszug aus dem Gelände] für den einzelnen Klienten hat.

Aber tatsächlich sind solche Dinge umgesetzt worden. Und auch die Behörde, muss man sagen, unsere damalige Krankenhausbehörde, fand das auch alles nicht so richtig gut, nach dem Motto: Ja, wieso muss denn das Krankenhaus eigentlich da noch auf dem Gelände sein, wenn tatsächlich alle Klientinnen und Klienten dieses Gelände verlassen, und warum können das nicht andere Krankenhäuser übernehmen? Also, das war nicht ganz kritiklos.

Scheibel: Noch eine kleine Ergänzung. Es ist noch gar nicht so lange her – das war, glaube ich, im Jahr 2009 oder 2010 –, dass wir der Behörde unsere Gedanken zur gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung vorgestellt haben. Und da wurde uns vonseiten der Gesundheitsbehörde gesagt: „Sie sind doch in Alsterdorf selbst schuld mit Ihrer Auswilderung!“ Das ist noch nicht lange her – vielleicht elf Jahre –, dass solche Ausdrücke vonseiten der Gesundheitsbehörde benutzt wurden. Das sagt viel aus! Also auch da kann man sagen, dass der Gesundheitsbereich in der Denke noch nicht so weit war. Erst durch unsere Initiative und durch unsere wissenschaftliche Erforschung, die wir damals durch die Diskussion um das Sengelmann Institut für Medizin und Inklusion angestoßen haben, und durch die Tatsache, dass wir die Schwachstellen dargestellt haben, ist man in Hamburg ein bisschen aufgewacht. Ich glaube, das war vielen vorher nicht bewusst.

Poppele: Also die Rückmeldungen waren verschieden. Es gab sehr positive Rückmeldungen sowohl von Klienten wie von Angehörigen. Ich fand es auch zum Teil sehr schön, zu erleben, wie Menschen sich durch die Erweiterung ihrer Lebensmöglichkeiten veränderten. Es gab aber auch die andere Seite. Je stärker die Verhaltensauffälligkeiten waren oder je stärker die Mehrfachbehinderung war, umso schwieriger war es. Und da gab es eben schon die Situation, dass viele, und nicht nur einzelne Patienten, zum Beispiel mit einer schweren Lungenentzündung zurückkamen, weil das außerhalb nicht festgestellt worden war, weil die Pflege, weil die Beobachtung nicht da war, weil nicht erkannt wurde, dass der Mensch krank war. Aber es gab auch das Thema Verstopfung. Das war und ist ein großes Problem, das bis zum Darmverschluss gehen kann. Das gab es, weil die Pflege nicht so weit war. Aber man kann nicht sagen, dass es nur negative Kritik gab, sondern es war auch viel Positives zu sehen und zu hören.

Stiefvater: Herr Liehr.

Liehr: Ich kann mich noch gut an diese Diskussion erinnern – Herr Baumbach hatte ja so eine unnachahmliche Weise, wenn er was durchsetzen wollte –, wo er unbedingt diese schützende Hand aus dem Logo weghaben wollte und sagte – er war darin einfach unnachahmlich: Das kommt jetzt weg! Das will ich nicht mehr haben! Dieses Behütende dieser Anstalt, das will ich nicht mehr! Wir machen jetzt hier mal einen innovativen Prozess und das beginnt jetzt mit einem Corporate Design! Das habe ich erst gar nicht verstanden, ich wusste gar nicht, was er damit meint. Aber das wurde dann relativ schnell klar, dass er damit etwas in Bewegung gesetzt hatte.

Fricke: Ja, und auf dem Gelände sagte er: Das Gestrüpp muss weg! Das war ja zugewachsen und dann sagte er: Diese Allee muss jetzt freigeschlagen werden! Und innerhalb kürzester Zeit war da ein Gärtnertrupp, der haute das ganze Gestrüpp weg. Und siehe da, es waren dann ganz andere Sichtachsen da. Das ging wirklich in dieser unnachahmlichen Art los. Das wurde dann auch umgesetzt. Da gab es auch keine langen Diskussionen.

Liehr: Ich werde nie vergessen: Ich war mit Herrn Baumbach das erste Mal im Heinrich Sengelmann Krankenhaus – das war damals eher ein Krankenheim als Krankenhaus – und er machte die Tür auf. Alles war Plüsch und Sofa und uralt. Er guckte da rein und sagte dann: So, das kommt hier alles weg! Und das kam auch weg.

Stiefvater: Herr Baumbach war damals zuständig für den medizinischen Bereich.

Scheibel: Da fällt mir auch sofort noch eine Geschichte ein, Thomas [Liehr]. Und zwar saßen wir mit Herrn Baumbach zusammen – das war an einem Freitag, da haben wir irgendwas besprochen – und er musste das Gespräch beenden, weil das Hamburger Abendblatt sich zum Interview angemeldet hatte, das er dann auch gegeben hat. Am folgenden Samstag oder Montag wurde es dann veröffentlicht und ich hatte das zufällig auch gelesen. Das war ein relativ großer Bericht mit der Überschrift „Wir sind doch kein Pflegeheim“ mit einem Baumbach, der mit weit aufgerissenen, fast aggressiven Augen fotografiert worden war. Das führte in der Hamburger Bevölkerung zu einem richtigen Aufschrei, nach dem Motto: Wir geben Menschen dort in die Obhut und der Vorstandsvorsitzende sagt: Wir sind doch hier kein Pflegeheim! Aber das ist genau das, was du eben gesagt hast. Er hatte andere Ideen und ganz andere Gedanken. Die Menschen [mit Behinderung] sollten selbst entscheiden können, stärker autonom leben, in lichtdurchfluteten, modernen Räumlichkeiten, die auf Menschen mit Behinderung Selbstbewusstsein ausströmen, sodass man sich gleich ganz anders verhielt. Das waren seine Gedanken. Jetzt kam da so ein Abendblatt-Interview aus einer ganz anderen Welt, fragte nach und er sagte ganz entrüstet: Wir sind doch kein Pflegeheim! Das kam nicht gut an! Das war wirklich ein gesellschaftliches Drama damals mit Diskussionen, sodass sofort Spender kamen und sagten: Wir spenden nicht mehr!

Stiefvater: Bei dem Auflösungsprozess wurden natürlich auch Fehler gemacht, das liegt in der Natur der Sache, wenn man etwas macht, worin man bundesweit Pionier ist und auch kein Vorbild hat. Heute arbeiten in den Assistenzteams im Sinne einer integrierten Assistenz Pflegekräfte und Pädagogen wieder in einem Team zusammen. Es sind übergreifend auch Pflegeberater tätig, die in schwierigen und fraglichen Situationen hinzugezogen werden können und die man anrufen kann. Die kommen dann vor Ort und gucken sich die Situation an. Ein großes Thema war ja auch Schluckstörungen. Daran erinnere ich mich immer bei Ihnen, Herr Dr. Poppele.

Lassen Sie uns langsam zum Ende kommen. Wenn Sie auf diese Zeit zurückblicken, was würden Sie genauso wieder machen, was war richtig und, wenn Sie den Prozess noch mal neu auflegen könnten, was würden Sie heute anders machen?

Schmitz: Ich glaube, wenn man das heute noch mal so durchlaufen würde, wäre eine größere Beteiligung aller Bereiche notwendig, also die Medizin mit einzubinden und Verständnis zu wecken. Aber auch die Medizin muss dann Verständnis für die andere Seite haben, muss sich verabschieden von bestimmten Vorstellungen darüber, was für den Menschen gut ist. Dass das die Medizin entscheidet, das kann ja nicht sein! Ich glaube, deswegen müsste man da in die Diskussion gehen. Ich finde auch die Beteiligung von Menschen außerhalb des Geländes wichtig. Auch die Behörden und Elternverbände und so weiter sind intensiv mit einzubinden. Man muss aber auch sagen, dieser ganze Prozess in der Stiftung ist unterm Strich trotzdem gut gelaufen. Man muss ja nicht immer gucken, was nicht gut gelaufen ist. Ganz, ganz vieles ist gut gelaufen und viele Menschen profitieren von dem, was passiert ist. Das finde ich toll und mit allem kann die Stiftung stolz sein!

Fricke: Wenn man die Reaktion von Externen hört, die auf das Gelände kommen – ich habe viele Kollegen, die zu Besuch gekommen sind, weil wir auch immer wieder überregionale Meetings gemacht haben –, dann waren die immer total begeistert. Die kamen auch aus ähnlichen, sagen wir, Anstaltseinrichtungen, die aber noch lange nicht so weit waren. Diese Kollegen waren von der Gesamtkultur sehr angetan, aber auch von der ganzen Gebäude-Konversion. Da gibt es schon sehr viel Feedback, was extrem positiv ist. Was man früher hätte angehen können, wäre tatsächlich das, was ich gerade geschildert habe, diesen Übergang vom Ende der Jugend zum Erwachsenenalter, diese Versorgungsstrukturen. Das haben wir über viele Jahre diskutiert, da hätten wir, glaube ich, früher konsequent schon mal eine erste Lösung finden können, wobei die ganze Refinanzierung natürlich extrem schwierig ist. Aber das ist so ein Schritt, wenn man das jetzt mal auf das fokussiert, von dem wir gerade gesprochen haben, den man sicherlich hätte auf den Weg bringen können. Da haben wir schon relativ lange gebraucht.

Es gibt aus Kinder- und Jugendarztsicht auch noch viele andere Prozesse, zum Beispiel mit Schulen und Kitas. Da gibt es vieles, was eigentlich auch gut gelaufen ist, wobei es mit der Bugenhagenschule auch viele unterschiedliche Phasen gab. Eine Zeit lang haben wir sehr intensiv zusammen Dinge besprochen. Das ist dann durch vielfache Wechsel immer mal unterbrochen worden. Auch da, denke ich, kann man in Zukunft noch mehr miteinander arbeiten. Aber da ist ja die Stiftung auch in einem Prozess, das auf den Weg zu bringen und die Zusammenarbeit zwischen den Bereichen zu intensivieren.

Stiefvater: Eines muss man sagen – ich muss mich an dieser Stelle noch mal reinklinken –, was ja wirklich für die Eltern gut ist – nehmen wir mal die Kita auf dem Stiftungsgelände –, ist, dass man in den Kitaalltag bestimmte ergotherapeutische Maßnahmen, Logopädie und weitere Unterstützung einbauen kann, sodass die Eltern nicht noch nach der Kita irgendwo mit dem Kind hingehen müssen, um sich die für manche Kinder wirklich notwendigen, regelmäßigen Unterstützungen im körperlichen und seelischen Bereich oder im Sprechen zu holen. Das ist wirklich nach wie vor ein Vorteil. Das müsste es aber eigentlich flächendeckend in vielen verschiedenen Quartieren in Hamburg geben. Es ist nicht gut, dass es das nur in Alsterdorf gibt.

Fricke: Wobei, Inklusions-Kitas gibt es schon eine ganze Menge. Die Alsterdorfer Kita profitiert auch von der speziellen Expertise, die wir sowohl mit theravitalis als auch im WOI haben. Aber grundsätzlich ist das in Hamburg schon ganz gut umgesetzt, allerdings noch nicht im Krippenbereich. Ich bin jetzt im Rentenalter und berate die Behörde, was die Inklusion im Krippenbereich angeht. Das soll jetzt vorangetrieben werden, weil das im Landesrahmengesetz noch nicht so richtig verankert ist. Das ist auch noch mal ein wichtiger Schritt. Aber ich denke, dass das, was jetzt im Kitabereich hamburgweit schon gut umgesetzt ist – das muss man sagen –, diesen Modellkindergarten des WOI als Keimzelle hatte. Das war wirklich eine Keimzelle und da ist dann auch viel Positives übergeschwappt.

Stiefvater: Klasse! Zu der Frage, die ich gestellt hatte … [an Herrn Poppele gerichtet]

Poppele: Ich finde, wenn man fast 40 Jahre in Alsterdorf war, dann hat das viel auch mit einer persönlichen Entwicklung zu tun. Da kann ich auch gerade über die letzten zwölf Jahre sagen, dass ich sehr dankbar dafür bin, dass alles so eine gute Wendung genommen hat. Ich hätte mir gewünscht, dass sowohl ich als auch die Stiftung früher zum Dialog bereit gewesen wären, weil dieser Dialog, auch innermedizinisch, also zwischen den einzelnen Medizinern, nicht so einfach ist, auch im Krankenhaus nicht, weil jeder erst mal sich und die eigene Wichtigkeit sieht. Der Dialog ist im SIMI gut gelungen, eben nicht nur medizinisch, sondern mit der Pflege, mit den Therapeuten, mit den Angehörigen und mit anderen Verbänden. Da bin ich sehr froh, dass das möglich war. Es wäre schön gewesen, wenn das früher bei mir und im System möglich gewesen wäre, weil ich glaube, da hätte man manches anders machen und auch manches Leid verringern können. Aber ich finde, dass da auch strukturelle oder organisatorische Zuständigkeiten eine Rolle spielen. Das ist mir sehr klar geworden. Mir ist, weil ich aus verschiedenen Gründen großes Interesse an Menschen mit Behinderung habe, mehrfach geraten worden: Lass das Thema! Das ist ein heißes Thema! Da wirst du verbrannt! Aber es zeigt sich, wenn die richtigen Menschen zusammen sind, zum Beispiel die, die hier sind, insbesondere mit Herrn Scheibel an der entscheidenden Stelle, wie viel möglich ist, wo man vorher gedacht hatte: Da sind eigentlich Betonwände! Das ist ein schönes Erlebnis und ich bin sehr dankbar dafür, dass das möglich ist und auch so weitergeht. Ich sehe es ja von außen: Es geht weiter und das ist schön!

Liehr: In Vorbereitung auf dieses Gespräch habe ich noch mal überlegt. Fast 25 Jahre habe ich Station 17 fotografisch begleitet und ich habe mir die Frage gestellt: Warum hast du das eigentlich gemacht? Ich hätte es ja nicht machen müssen! Für mich war das die Keimzelle der Inklusion. Station 17 hat schon vor 26 Jahren Menschen mit Behinderung total normal behandelt. Mir hat das immer unheimlich imponiert. Ich bin mal mit denen mit dem Tourenbus nach London gefahren und habe im Vorweg gedacht: Oh Gott, was wird das denn? Das war total klasse und alle, die beteiligt waren, wurden gleichbehandelt. Da gab es keine Pflege und kein Betüddeln, sondern die Menschen mit Behinderung wurden als Musiker ernst genommen. Ich habe für mich und für meine Arbeit daraus ganz viel mitgenommen und gelernt!

Stiefvater: Und Station 17 gibt es immer noch. Herr Scheibel hat das Schlusswort.

Scheibel: Mit Rückblick – ich hatte ja 1992 angefangen – auf die Bilder, die ich noch alle vor Augen habe, war alles wie ein Novemberwetter, so wie jetzt gerade, ein bisschen nieselnd grau, ein November-Blues, so ein bisschen depressiv, immer problematisch, immer kein Geld da, Finanzprobleme und sehr kritische oder sehr schwierige Gespräche. Was dann die beiden Vorstände, Herr Baumbach und Herr Kraft, damals gemacht haben, hatte das Motto: Wenn schon kein Geld da ist, dann kann man’s ja auch ausgeben! Das war Irrsinn damals – wir haben uns alle an den Kopf gefasst –, diesen Marktplatz zu bauen und immer nur schick und schön! Ich erinnere mich noch gut, wie zum Beispiel ein MAV-Vertreter die Mitarbeiterschaft aufgerufen hat, sich am Sonntag auf dem Alsterdorfer Markt zu versammeln und in die Scheiben von Aldi und Edeka Steine zu werfen, um die Kapitalisten vom Hof zu jagen. Solche Situationen hatten wir auch. Dass insbesondere Herr Baumbach als Vorstandsvorsitzender diesen Widerständen standgehalten hat – wir kannten ihn ja gut, er hatte auch seine Schwächen und seine Unsicherheiten, aber er hat das trotzdem so in der Form durchgezogen –, das war für die Stiftung wirklich Gold wert im wahrsten Sinne des Wortes. Das war so der Schnitt. Wenn man jetzt zurückblickt, sind die Bilder danach bunt, vorher waren sie grau und trist und danach sind sie irgendwie selbstbewusst und bunt, obwohl das finanzieller Irrsinn war, der da gemacht wurde. Aber es hat sich im Endeffekt gelohnt, einfach gegen eine Logik zu handeln, die normalerweise vorherrscht, und gegen Widerstände etwas aufzubrechen, und zwar auch in Bereichen, die überhaupt noch nicht vorbereitet waren. Da hatten wir ja heute auch schon drüber gesprochen. Deswegen, wenn man damals zu viele Menschen hätte einbinden und überzeugen wollen, ich glaube, dann wäre nur geredet worden und es wäre nichts passiert. Man muss einfach mal Tacheles reden und durchziehen, weil gerade dieses Thema Menschen mit geistiger Behinderung in der Hamburger Gesellschaft nicht so präsent ist – das ist eine kleine Menschengruppe – im Vergleich zu vielen anderen Themen. Und dann muss man das einfach mal durchziehen und machen; trotz aller Widerstände – das war für die Stiftung Alsterdorf unheimlich wichtig.

Stiefvater: Ein schöneres Schlusswort kann man nicht sagen. Und wir werden Herrn Baumbach auch nicht vergessen. Wir kennen ihn ja alle noch. Vielen Dank!