12 / 1991 – Interview mit Günther G. Hahnemann

Teilnehmende

Günther Hahnemann

Reinhard Schulz

Nico Kutzner

Transkription

Kutzner: Guten Tag, herzlich willkommen zum Interview hier im Studio von 17motion. Ich bin Nico Kutzner.

Hahnemann: Hallo, guten Tag und ich bin Günther Hahnemann.

Schulz: Ich bin Reinhard Schulz. Ich organisiere das Projekt „Vierzig Jahre Eingliederungshilfe-Entwicklung in der Stiftung Alsterdorf“ und freue mich, dass wir heute Günther Hahnemann zu Gast haben.

Kutzner: Wie war das damals, als Sie zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf gekommen sind?

Hahnemann: Es war sehr spannend, weil diese Stiftung gar nicht Stiftung, sondern Alsterdorfer Anstalten hieß. Das war deswegen für mich spannend, weil ich aus Süddeutschland neu nach Hamburg kam und Medizin und Psychologie studieren wollte. Irgendwann ging mir das Geld aus und, als ich von meiner Wohngemeinschaft in Wellingsbüttel zur Uni fuhr, stand links ein großes Schild Alsterdorfer Anstalten. Ich bog links ab und kam an eine Pforte mit einem Pförtnerhäuschen, die zugeschlossen war. Ich sagte: Hallo, hier bin ich und möchte gerne eine Arbeit haben! Ich bin Sozialpädagoge und evangelisch. Haben Sie einen Job? Das war 1975 im Juni. So war das für mich am Anfang.

Kutzner: Wie war die Situation damals?

Hahnemann: Seltsam. Völlig komisch und ich dachte: Hallo, lange bleibe ich hier nicht! Daraus sind dann über 40 Jahre geworden, das hat also einen längeren Weg hier mit mir genommen. Damals, wenn man es wohlwollend sagt, war es ganz befremdlich, und, wenn man es richtig ernsthaft meint, überwiegend schrecklich.

Schulz: Magst du erzählen, welche Bilder sich dir eingebrannt haben? Gibt es Bilder, die du noch abrufen kannst aus der Anfangssituation?

Hahnemann: Nun muss ich mal in meinem Register sortieren. Ich kann nämlich an der Stelle viele abrufen.

Schulz: Was liegt ganz obenauf?

Hahnemann: Ganz obenauf liegt, dass ich ins Michelfelder Kinderheim – jetzt Haus für Barrierefreiheit –, in einem weißen Kittel angefangen bin, den ich als Hilfspfleger anlegen musste. In einen relativ düsteren, hohen Flur schlug mir Mief entgegen. Es waren Jungs dort, die kreuz und quer auf dem düsteren Flur herumliefen und ich sagte: Mein Gott! Da soll ich arbeiten!? Das war so ein erstes Bild. Das war nicht so schön.

Ein anderes Bild war, dass die Schwestern, Schwesternschülerinnen und Zivis – natürlich alle in irgendeiner Pfleger- oder Schwesternbekleidung – mich sehr zugewandt und freundlich begrüßten. Die hatten wohl mitgekriegt, dass man, wenn man neu ist, einen kleinen Schock kriegt und den haben sie mir schnell genommen.

Ds dritte Bild ist, dass ich dort mit schwerstmehrfachbehinderten Jungs arbeitete und im Trainingssinne ziemlich erfolgreich war, also z. B. im Esstraining, Toilettentraining, Saubertraining, was meint, zu trainieren, wie kann man zum Klo geht, ohne dass man daneben macht, darin, wie man verschiedene andere alltägliche Verrichtungen wie Schuhe-Knöpfen, Bändel Auf-und-Zumachen lernt. Viele von ihnen konnten das lernen. Das ist also eher eine Erfolgsstory.

Kutzner: Das war also eine Situation so ähnlich wie im Krankenhaus oder wie kann man sich das vorstellen?

Hahnemann: Krankenhaus stimmt in mehreren Hinsichten, aber wiederum auch nicht, weil, im Krankenhaus ist relativ klar, dass jeder sein eigenes Bett hat. Dort hatte zwar auch jeder sein eigenes Bett, aber zuweilen war da das große Tohuwabohu und der eine lag im Bett vom anderen und der andere lag im Bett vom einen. Das war schon anders als im Krankenhaus. In der Regel kann im Krankenhaus etliches richtig befolgt werden. Bei den Jungs, mit denen ich zu tun hatte, war es nicht unbedingt so, dass die das machten, was wir fanden, dass sie es zu tun hatten.

Also Krankenhaus insofern, als dass es eine geschlossene Sache, eine Institution war. Wir würden vielleicht sagen eine Totale Institution. Es gab einen klugen Menschen damals, der hieß Goffman, der hat das Buch „Die Totale Institution“ geschrieben. Darin fand ich vieles davon wieder. Leider, muss ich sagen! Aber das hat sich toll verändert!

Schulz: Wie hast du damals, Ende der 1970er Jahre, die Situation erlebt, als im Zeit-Magazindie Anstalten alsSchlangengruben der Gesellschaft beschrieben worden sind?

Hahnemann: Schwierig! Auf der einen Seite, richtig und klasse – Gott sei Dank kam endlich mal etwas ans Tageslicht, was mich bedrängte, was ich im Kleinen versucht hatte, anderes zu machen! Die Kinder und Jugendlichen in Schutzjacken stecken, das machte ich nicht, das machten aber einige andere – und solch ein Bild, ein Junge, der in einer sogenannten Schutzweste traktiert wurde, war ja auf der Vorderseite des Magazins abgebildet. Das fand ich ganz fruchtbar und schrecklich. Ich war froh, dass das in die Öffentlichkeit kam, so dass man damit umgehen konnte. Wir waren eine Truppe von Menschen, die auf der einen Seite natürlich in Alsterdorf arbeiteten und Geld verdienten, damit musste ich meinen Lebensunterhalt bestreiten. Das war die eine Seite, aber die andere Seite war, diesem verknöcherte Anstaltshandeln und den Strukturen im Kleinen doch auch etwas entgegenzusetzen. Ich gehörte nicht zu denen, die die Revolution anpusteten, sondern ich dachte in kleinen Schritten, wie man das auch in der Therapie macht. Es geht manches nicht hau-ruck, sondern man muss die kleinen Schritte wagen, und jeder kleine Schritt trägt dazu bei, etwas zu verändern. Manchmal gibt es Leute, die können schnell große Schritte machen. Das ist vielleicht auch gut.

Kutzner: Wollten Sie die Situation damals verändern?

Hahnemann: Klar, sonst wäre ich nicht Psychologe und Sozialpädagoge geworden. Von meinem Inneren her bin ich sehr für Veränderungen, wenn sie, was die Leute betrifft, mit denen auf Augenhöhe abgesprochen sind. Veränderungen sind immer wichtig. Das Leben ohne Veränderung geht nicht, also auch das Leben in so einer Einrichtung geht nicht ohne Veränderung. Das ist nicht so erst, seitdem wir von der Anstalt zur Stiftung gekommen sind so, sondern seit Sengelmann, der übrigens heute gerade ein tolles Erinnerungsereignis hat. Es ist, glaube ich, heute oder demnächst die Kranzniederlegung in Moorfleet, wo er begraben ist. Sengelmann ist unser Stifter –

Kutzner: Die war schon –

Hahnemann: Die war schon? –

Schulz: Gestern. –

Hahnemann: Die war gestern? Na siehst du, ich werde 70. Der eine Tag ist halt verrutscht. Jedenfalls, seitdem der diese Idee hatte, dies zu tun [eine Behinderteneinrichtung zu gründen], ist diese Stiftung lebendig und in der Veränderung. Es gibt natürlich auch schreckliche Veränderungen, siehe Nazizeit, aber das ist vielleicht jetzt nicht gerade das Thema.

Schulz: Die 1980er Jahre, um die es geht, standen unter der Überschrift Normalisierung und Integration. Wie viel davon konnte im Rahmen deiner Möglichkeiten in den damaligen Alsterdorfer Anstalten entwickelt, bewegt und realisiert werden? Was hast du dazu erlebt?

Hahnemann: Sicher sehr Unterschiedliches. Einerseits habe ich etwas Konservatives in mir habe. Ich habe Veränderungen erlebt, wie z. B. dass es bestimmte Feste und Feiern nicht mehr gab, wo wir mit den Schwestern, den Pflegern und den Menschen, mit denen wir zu tun hatten, Konvente hatten, wo man in Massen Weihnachten feierte und ähnliches. So etwas wurde abgeschafft und das fand ich nicht immer so klug, weil es dazu nicht wirklich eine Alternative gab. Bestimmte Dinge, die wurden über die Zeit ersatzlos gestrichen und es wurde nicht überlegt, dass man vielleicht doch gerne etwas Gemeinschaftliches machen wollte.

Aber Individualisierung und Individualität waren die Highlights. Da sollte es hingehen und deswegen wurden größere Gruppenaktivitäten einfach gestrichen. Das fand ich nicht so optimal, wenngleich ich andererseits sagen muss, dass die Veränderungen, die es da dann doch gab, mir lieber waren und mir näher lagen, weil das Individuum mehr in den Fokus kam und nicht so sehr das Gruppengewese und Gruppengeschehen.

Zu dieser Normalisierungs-Thematik habe ich Klassenfahrten mit den Auszubildenden nach Schweden und nach Holland gemacht. Dort haben wir uns ganz praktisch etwas abgeguckt. Es war für mich sehr hilfreich, als Dozent mit den Schüler*innen irgendwo hinzugehen, wo schon gelebt wurde, was man theoretisch überlegte. Das war super!

Kutzner: Wie wurden die Klient*innen damals behandelt?

Hahnemann: Sicher sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite habe ich Situationen erlebt, die ich schrecklich fand. Das war keine Behandlung, sondern das war einfach unmenschliches Tun!

Auf der anderen Seite gab es auch sehr liebevolle und klare Beziehungen zwischen den Mitarbeitenden und den Klient*innen. Das war für manche sicher hilfreich, aber Professionalisierung ist auch eine schwierige Thematik. Professionalisierung heißt berufsmäßiges Handeln nach bestimmten ethischen und fachlichen Gegebenheiten, bedeutet aber unter Umständen auch eine gewisse emotionale Fremdheit und Distanz. Da kommt es in der Situation immer auf die Dosierung an. Das gilt, finde ich, heutzutage auch noch und, ich würde sagen, das war damals sehr in der Entwicklung. Meine älteren Kolleg*innen hatten sicher eine andere Haltung zu dem Thema als ich sie hatte. Manchmal eckte ich etwas an, will ich damit sagen.

Schulz: Stichwort Professionalisierung. Du bist als Diplom-Psychologe in der Stiftung weiterbeschäftigt worden. Es gab in den 1980er Jahren – wir hatten eben schon das Stichwort Kollegenkreis – Kolleg*innen, die mit Aktivitäten und Öffentlichkeit versuchten, Dinge zu verändern. Welche Rolle spielten in deiner Wahrnehmung die Themen Weiterbildung und Professionalisierung der Mitarbeitenden, Stichwort Heilerzieherhelferausbildung?

Hahnemann: Ich fing schon früh damit [mit der Professionalisierung] an. Der Kollegenkreis und andere wenige Kolleg*innen waren eher Mitarbeiter*innen, die sich gut in der Öffentlichkeit zeigen wollten und konnten. Ich war und bin ein Mensch, der eher hinter den Kulissen agiert als große politische Dinge tut. Was meinen Charakter anbelangt, glaube ich, bin ich dort erfolgreicher.

Aber die Weiterbildung der Kolleg*innen war natürlich schon eines der ersten Anliegen von mir. In der Abteilung 8 im Michelfelder Kinderheim, wo ich anfing, gab es viele Dinge, die auch die ausgebildeten Krankenschwestern oder Kinderpflegerinnen nicht kannten. Sie wussten z. B. nicht, wie man Dinge in kleinen Schritten macht, sie wussten nicht, dass man bestimmte Sinnessysteme fördern kann und wie man diese fördert. Sie hatten keine Ahnung was das Thema Heilpädagogik – so sagte man früher dazu – anging. Da wurde mir klar, wenn Kolleg*innen nicht wissen, was sie besser machen können und vor allen Dingen wie, wird sich nichts verändern! Daher gab ich Fortbildungen z. B. zur Herstellung didaktischen Spielmaterials. Das würde man heute auch nicht mehr machen. Aber solche Highlights oder Gesprächsführung waren dort möglich.

Kutzner: Wie wollte man diese Situation verändern?

Hahnemann: Erst mal gab es eine ganze Menge Menschen, die wollten gar nichts verändern. Die wollten so bleiben wie sie waren. Die waren relativ stoisch in ihrem Handeln und hatten keine Lust auf Veränderung, was ich nicht so gut fand. Denn das hieß natürlich, dass man die Ärmel kochkrempeln musste. Das war eine große Herausforderung. Wenn ich was anders machen will, dann muss ich eine gewisse Motivation haben. Wenn die nicht da ist, dann muss man die Bedingungen so machen, dass sie entsteht. Motivation kann man aus meiner Sicht nicht verordnen, sondern, man muss die Bedingungen gestalten, dass Jemand Lust hat, etwas zu machen. Und das brachte mir Spaß!

Schulz: Stichwort Motivation der Mitarbeiter*innen. 1990 begann die Arbeit einer neuen Abteilung in den damaligen Alsterdorfer Anstalten, die Arbeit der Abteilung Organisations- und Personalentwicklung. Magst du dazu was zu erzählen. Du warst Gründungsmitarbeiter.

Hahnemann: Es war so, dass ich zwei verschiedene Aufgabenfelder hatte, einmal war ich als Psychologe im damaligen psychologischen Dienst tätig – das ist schon seit mehreren Jahrzehnten das Beratungszentrum – und war am Anfang Heimpsychologe – auch interessant. Aber damals gab es nicht so üppige Stellenzuweisungen. Ich hatte eine halbe Stelle und die andere Hälfte war ich an der Heilerzieherhelfer-Schule in der Fortbildung tätig. Die Schule wurde geschlossen und es gab dann eine Situation, wo ein Problem zutage kam, das in dem alten System nicht so einfach zu lösen war. Das Problem war, dass schwerauffällige, systemsprengende Klient*innen von einem Heimbereich in einen anderen verlegt wurden. Von da, wo sie nicht mehr gut behandelt wurden oder nicht gut leben konnten, mussten sie weg und woanders hin. Ein anderer Heimbereich sollte sie dann nehmen. Da gab es gewisse Menschen, die durch verschiedene Heimsituationen wanderten. Es ist natürlich völlig unklug, so etwas zu tun, abgesehen davon, dass es unmenschlich ist.

Das war ein Grund zu sagen, die Leitungen müssen etwas anders machen. Daher wurde von mir eine Supervision für die Heimleitungen initiiert und daraus erwuchs die Idee, dass es nicht nur an den Leitungen, sondern auch am System, an der Organisation lag.

Daraufhin wurde die Organisationsentwicklung eingeläutet. Dieser Bereich wurde mit Mitarbeiter*innen aus der Heilerzieherhelferschule gegründet, darunter Karin Gerhard, Brigitte McManama und ich, wir waren ursprünglich mit Dr. Jürgensen in dieser neuen Abteilung. So kam das.

Kutzner: Wie sind Sie mit dieser Situation damals umgegangen?

Hahnemann: Was soll ich sagen? Ich hatte Lust drauf, ganz einfach! Mir hat das gefallen. Ich fand das gut! Ich fand das richtig, weil, ich keine Freude daran hatte, zu wissen, dass Menschen, die unglücklich waren, immer wieder weitergereicht wurden und sich für sie überhaupt nichts änderte. Es lag im Prinzip nicht an den Menschen, sondern es lag in der Regel im Wesentlichen an bestimmten Systembedingungen, an den Umständen, an den Art und Weisen, wie dort gehandelt wurde. Es gibt Bedingungen, dass Menschen bestimmte Dinge tun, und es gibt bessere Bedingungen, unter denen sie es besser tun können. Also die Mitarbeitenden, die ich kennengelernt hatte, wollten in der Regel immer das Beste. Wenn ich das Beste will für Sie [an Nico Kutzner gerichtet], dann müssen eigentlich Sie sagen, ob das auch für Sie das Beste ist. In der Regel muss man ins Gespräch gehen. Im alten System ging niemand in ’s Gespräch, sondern es galt Par ordre de Mufti – so wird’s gemacht! Das ist nicht klug und außerdem auch nicht menschlich.

Schulz: Welche Wirkung und Entwicklungschancen bot denn diese neue Abteilung für die Veränderungsprozesse, die damals, Anfang der 90er Jahre, dran waren.

Hahnemann: Ich bin ganz demütig und froh, diese Zeit miterlebt und auch mitgestaltet zu haben. Viele neue Dinge, die ich im Rahmen meines Studiums aber auch im Rahmen meiner weiteren Fortbildungen gemacht habe – ich war ja ein Fan von Fortbildungen und bin es immer noch –, fielen an vielen Stellen auf fruchtbaren Boden. Wir mussten bei manchen Mitarbeitenden Überzeugungsarbeit leisten, aber das war nicht unbedingt immer so schwierig, weil die merkten, dass das eine erfolgreich war und das andere eben nicht. Das hat sehr geholfen.

Kutzner: Wie ging es dann weiter?

Hahnemann: Also für mich persönlich ging es ganz toll weiter, weil ich viele Dinge machen konnte, z. B. mit Kollegen in die Stadtteile gehen und dort Klausurtage einführen. Das gabs damals überhaupt noch nicht. Wir haben Gesprächsrunden gemacht und nicht nur klassische Supervision, was ja Psycholog*innen in der Regel machen, gegeben, sondern ich lernte auch, zu moderieren, mit Karten und Flipcharts zu arbeiten, Zettel zu schreiben, Kleingruppen zu machen. Das zu tun können war für mich eine tolle Sache. Sicher nicht alle, aber die meisten Mitarbeiter*innen fanden gut, dass sie mal zu dem gefragt wurden, was gerade das Thema war.

Schulz: Das waren jetzt deine persönlichen Highlights, die du gerade beschrieben hast. Gab es auch persönliche Irrtümer beruflicher Art?

Hahnemann: Es gab schon ein paar Irrtümer, an denen ich Dinge lernte, die ich dann nicht weiter anwendete, z. B. war die Methode neurolinguistisches Programmieren so eine Sache. Ich glaube, das gibt es jetzt gar nicht mehr. Das ist eine psychologische Methode, durch die man mit Blickkontakt feststellen kann, ob Jemand mehr Bilder sieht oder ob Jemand mehr hört oder ob Jemand mehr aufs Bauchgefühlt achtet, um so die richtige Sprache zu treffen. Darin liegt etwas von der lutherschen Idee, nach der man den Leuten aufs Maul schauen und deren Sprache sprechen soll. Das finde ich eigentlich ganz gut. Aber mit dieser Methode kam ich nicht zurecht. Das war für mich vertane Zeit.

Ansonsten muss ich sagen, in den langen Jahren, die ich in dieser Stiftung bin, hatte ich Vorgesetzte, die mich förderten. Das ist mit eine der wichtigsten Sachen. Vorgesetzte haben einen großen Einfluss auf das Klima, auf das, wie die Arbeit gut gemacht wird, auf die Rahmenbedingungen und wenn die schlau sind, dann wissen sie das, handeln dementsprechend und beziehen ihr Personal mit ein. Das Glück hatte ich immer.

Schulz: Du bist jetzt in deiner aktuellen Funktion, glaube ich, Spiritual in der Stiftung.

Hahnemann: Ja.

Schulz: Magst du darüber noch sprechen?

Hahnemann: Das ist das Highlight meiner alten Tage, würde ich dazu sagen. Ich ging einmal mit Professor Haas spazieren und wir unterhielten uns über viel verschiedentliches Dienstliches, z. B. darüber, dass im Carl-Koops-Haus schon seit drei Wochen auf dem Dach die Müllsäcke lagen und ich sagte: Da gucken Sie mal bitte, das geht so überhaupt nicht! Das war so eine Sache, aber wir hatten natürlich auch ganz andere Themen. Er fragte mich: Was haben Sie denn so vor? Und ich sagte: „Das ist klar! Das erste, was ich machen werde, ist, dass ich eine Firma Hahnemann-Beratung gründen werde, weil ich nicht aufhöre zu arbeiten! Als nächstes kam dann: Und was könnten Sie vielleicht noch ehrenamtlich für die Stiftung tun? Da sagte ich: Ich weiß nicht. Die letzte Zeit habe ich mich vor allem mit Werten beschäftigt. Das habe ich früher nicht so getan und ich dachte, wo evangelisch drauf ist, müssten ein bisschen mehr Werte und Haltung und Leitbild-Ideen, auch wenn es die schon gibt, drin sein. Es nützt nichts, wenn im Nachtkästchen im Krankenhaus die Bibel rum liegt, wenn kein Mensch drin liest oder nichts damit macht. Das genügt mir nicht! Daraufhin sagte Herr Haas, dass er das einen interessanten Gedanken fände, ob ich mich mit dem beschäftigen wollte. Und ich sagte: Ja, mit dem kann ich mich gut beschäftigen, weil es mich persönlich im fortgeschrittenen Lebensalter natürlich noch mehr interessiert. Das war ein ganz schönes Gespräch. Wir dachten also darüber nach. Es gingen, was weiß ich, zwei Wochen ins Land, dann wieder ein nächster Termin: „Na“, sagte er, „und wie sind Sie nun weitergekommen?“ Ich sagte: „Ja, ich bin weitergekommen. Ich habe immer zu den Mitarbeiter*innen gesagt: „Wenn ihr was Neues machen wollt oder machen sollt, und ihr denkt, ihr könnt es, dann seid ihr Naturtalente. Schlagt rein, legt los! Aber, wenn ihr merkt, dass das nicht so geht, dann müsst Ihr es lernen.“ Und dann sagte ich weiter: „Also, mein ganzes Konfirmanden-Wissen im Sinne von Bibel, Gesang und Kirche, ist schon eine Grundlage, aber, wenn ich Spiritual sein soll, muss da ein bisschen mehr rüberkommen. Also, ich muss etwas Neues lernen!“ Da kriegte ich ein paar Dinge gesagt, wo ich mich schlau machen sollte, was ich lernen könnte und dabei kam ein Theologiestudium raus, Masterstudiengang sechs Semester Theologie. Und das machte ich, also Fortbildung selbst in der Pensionszeit.

Meine jetzige Arbeit als Spiritual ist ein sehr dankbares Tun. Ich mache ganz praktisch Gottesdienste, ich mache ganz praktisch Seelsorgegespräche. Zu mir kommen Menschen mit und ohne Behinderung, die mit der Stiftung, wie auch immer, zu tun haben, entweder, weil sie in den Alstergärten leben und wohnen, oder, weil sie in einem Bereich Leitung sind. Die kommen, melden sich und ich mache mit ihnen ein Gespräch, zur Zeiten von Corona natürlich eingeschränkt und meistens auf Spaziergängen oder eben im Freien Aber Gottesdienste machen wir seit eineinhalb Jahren, seit der Corona-Situation im Freien. Wir haben zwischenzeitlich, wo es lockerer war, in der Krankenhauskapelle Gottesdienste gemacht, immer sonntags um elf, und dann musste das Krankenhaus wegen Corona die Pforten dicht machen, und ich sagte zu den Pastören: „Also, dann veranstalten wir auf dem Marktplatz Gottesdienste, open Air!“ Das machen wir seitdem, z. B. an Himmelfahrt mit weißen Luftballons, die wir in den Himmel steigen lassen und derlei interessanten Dingen.

Schulz: Stichwort Diakonische Einrichtung, schauen wir noch mal auf die Sanierungssituation Mitte der 1990er-Jahre zurück, von der du gerade erzählt hast. Wie hast du damals Mitte der 1990er-Jahre die Sanierungssituation erlebt, auch was die Zuordnung im Sinne von Mitarbeiterorientierung angeht und die Bereitschaft der Mitarbeiter*innen, diesen großen Veränderungsprozess mitzugestalten, Stichwort Binnenmodernisierung?

Hahnemann: Im Grundsatz gut. Viele, die mit mir zu tun hatten, waren mehr oder weniger Feuer und Flamme in Bezug auf diesen Sanierungsprozess. Der war hauptsächlich, wenn ich das richtig entsinne, von Herrn Kraft wirtschaftlich organisiert und, was das Zahlenwerk anbelangt, durchkalkuliert. Wir hatten ein paar Berater*innen von außen, die ich eher mit Skepsis betrachtete – ich war ja selber Berater und guckte da vielleicht noch mal mit einem anderen Blick darauf. Aber ich fand es einen klugen Weg, Mitarbeiter*innen zu motivieren, sich innerhalb des Hauses zu engagieren und z. B. auf Geld zu verzichten. Das hielt ich für eine sehr gute Idee! Ich habe nicht so viele Kontakte in andere Szenen, aber das, was der Stiftung da gelungen ist, war ein relatives Novum, um aus der dann doch drohenden Pleite heraus zu gelangen und so zu neuen oder veränderten Gebäuden zu kommen, siehe Alsterdorfer Markt, siehe die Apartmenthäuser. Dies war natürlich auch ein Führungsthema, ein Thema von Kirche und Stiftungsrat und natürlich auch ein Thema der Mitarbeitervertretung und der Kolleg*innen, die sagten: Ja, wir sind dabei! Wir machen das!

Kutzner: Wie haben die Klient*innen das wahrgenommen?

Hahnemann: Also das war sehr unterschiedlich. Das ist eine kluge Frage. An mancher Stelle hatte ich damit zu tun, wenn es um das Thema Umziehen und Umzüge ging. Häuser wurden leergewohnt und da waren schwierige Themen dabei: Ich will dableiben, ich will nicht umziehen, weil ich auf dem Gelände bleiben will! Aber das Haus wurde dann und dann abgerissen. Wie sollte man damit umgehen? Da gab es schon schwierige Gespräche! Aber viele der Klient*innen, mit denen ich zu tun hatte, einmal als Psychologe aber auch im Alltag, fanden das toll, im Stadteil zu wohnen, eine eigene Wohnung zu haben, oder in einer Wohngruppe zu leben, wo sie dann außer Haus zur Arbeit gehen konnten, was eben richtig ist und was normal ist. Das Wort normal halte ich mittlerweile für eine etwas unglückliche Wahl, aber damals war es das Stichwort, d. h. Leben so wie es für jeden mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten möglich ist und unterstützt von den Dingen, die man als Unterstützung wünscht oder braucht. Das fand ich toll!

Schulz: Die Zeit ist weit fortgeschritten. Wenn du heute mit deinem jetzigen Erfahrungswissen vor der Situation stehen würdest, noch mal eine berufliche Entscheidung treffen zu müssen, würde die genauso oder anders aussehen? UCC

Hahnemann: Sie würde mit Sicherheit nicht genauso aussehen, sie würde mit Sicherheit anders aussehen! Ich bin ein Mensch der Veränderung. Vermutlich würde ich jetzt Theologie studieren wollen und mehr in diese Richtung gehen.

Aber nein, wenn die Frage ist, was ich bereue, dann bereue ich erst mal überhaupt nichts! Ich bin dankbar, in dieser Stiftung gewesen zu sein, mit allem Hin und Her und den manchmal schwierigen Phasen. Aber es war und ist eine tolle, eine gute Aufgabe und schön, dass ich ein Teil davon sein konnte und jetzt noch bin. Nein, da würde ich nichts anderes machen! Ich würde auch nicht Leitung sein wollen, weil mein Karriereweg ein Beratungs- ein Fachkarriereweg war. Das würde ich nach wie vor noch einmal machen. Die Leitungen tun mir an vielen Stellen sehr leid!

Kutzner: Wie stehen Sie mittlerweile zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf?

Hahnemann: Ich finde, wenn die nicht wäre, würde etwas Wichtiges in der Hansestadt fehlen. Wenn die nicht wäre, dann wären viele Leute wirklich arm dran. Wenn diese Stiftung nicht wäre, dann hätten wir viele Innovationen im Bereich von Hilfsmöglichkeiten, von Bildungsmöglichkeiten, von Engagement im sozialen Feld einfach nicht oder wir hätten es ganz anders.

Deswegen ist die Arbeit super! Der Prozess der Straße der Inklusion ist doch gerade jetzt ein tolles Vorhaben, das wir das mit allen Schwierigkeiten und den Baustellen auf den Weg bringen! Zwei Jahre war die Kirche nicht zu begehen und dann: Einweihung! Am Horizont leuchtet immer etwas Gutes, was diese Stiftung macht, so wie ich das sehe. Und das soll hoffentlich noch lange so gehen!

Schulz: Ein schönes Schlusswort!

Kutzner: Ja, vielen Dank!

Hahnemann: Super gerne!