10 / 1997 – Interview mit Rainer Kath, Hanne Stiefvater und Klaus Cantzler

Teilnehmende

Claus Cantzler

Rainer Kath

Hanne Stiefvater

Reinhard Schulz

Nico Kutzner

Transkript

Kutzner: Hallo, ich bin Nico Kutzner von 17motion. Herzlich willkommen hier im Studio zum Interview. Wenn ihr euch doch bitte vorstellen könntet.

Cantzler: Ja, fang ich mal an. Mein Name ist Klaus Cantzler, Jahrgang 1953 und ich begann meine Laufbahn als Zivildienstleistender 1973 und war dann 40 Jahre in verschiedenen Anstellungen die ganze Zeit in der Stiftung und bin vor sieben Jahren zuerst in Altersteilzeit gegangen und jetzt berentet.

Stiefvater: Mein Name ist Hanne Stiefvater. Ich habe vor 20 Jahren in der Stiftung Alsterdorf angefangen und bin im Moment im Vorstand tätig für den Bereich der Eingliederungshilfe in Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen und für den Bereich Personal zuständig.

Schulz: Ja, mein Name ist Reinhard Schulz. Ich betreue das Projekt Dokumentation der Entwicklung der Eingliederungshilfe in den letzten 40 Jahren in der Stiftung Alsterdorf.

Kath: Mein Name ist Rainer Kath, Jahrgang 1954. Ich bin als Zivildienstleistender in die Stiftung gekommen und habe praktisch mein ganzes Berufsleben in verschiedenen Funktionen in der Stiftung verbracht, zuletzt viele Jahre als Bereichsleiter in der alsterdorf assistenz west und bin sogar noch heute tätig mit einem 400-Euro-Job.

Kutzner: Wie war das damals, als ihr zur Stiftung gekommen seid?

Cantzler: Ja, das war 1973. Daran erinnere ich mich noch gut, weil ich erst in die vordere Schule gegangen bin und gar nicht die sogenannte Anstalt gefunden habe, mich im Schreibzimmer gemeldet habe und dann kam ein junger Mann zu mir und hat mich einmal durch die sogenannte Anstalt geführt, das heißt, das waren mindestens zehn verschiedene kleine Häuser, Baracken sozusagen. Ich war völlig unbeleckt. Ich hatte nur gehört, dass ich Zivildienst in den Alsterdorfer Anstalten machen sollte, und war, ja, ein bisschen schockiert die erste Zeit, habe aber im Nachhinein gedacht: Das ist so! So wohnen Menschen mit Behinderung oder mit Assistenzbedarf heute! Und das war, finde ich, im Nachhinein noch mal erschreckend, dass man erst mal zur Kenntnis genommen hat, dass es so ist.

Kath: Ja, ich bin im Februar 1975 in die Stiftung gekommen, auch als Zivildienstleistender, damals auch in dem sogenannten Schreibzimmer zu Herrn Schulz, so hieß er, glaub ich. Der hat mir alles gezeigt und hat mir damals witzigerweise erzählt, dass viele Menschen, die als Zivildienstleistende in die Stiftung kommen, tatsächlich dann über viele Jahre oder auch über Jahrzehnte dableiben. Das habe ich damals für mich komplett abgelehnt und mir überhaupt nicht vorstellen können! Ja, dass es nun doch so gekommen ist, wundert mich eigentlich selbst.

Schulz: Ja, wir haben hier mit Herrn Kath und Herrn Cantzler zwei Kollegen, die ganz lange dabei sind. In den 80er-Jahren – das ist die erste Dekade in diesen vieren, die wir betrachten wollen – ging es paradigmatisch um die Themen Normalisierung und Integration. Wenn ihr mal zurückblickt auf die damalige Situation, wie viel Normalisierung und Integration habt ihr in den 80ern eigentlich feststellen können? Gab es etwas dazu in der Stiftung?

Kath: Am Anfang, würde ich sagen, wenig. Die 80er-Jahre waren gekennzeichnet von einer Rundumversorgung. Es gab damals noch ein gemeinsames Essen oder eine Großküche, die sozusagen das Essen für alle Menschen, die in der Stiftung wohnten, hergestellt hat, und es gab damals noch ein Wäschehaus, in dem die Wäsche sämtlicher Insassen, wie man sie damals bezeichnet hat, gewaschen wurde. Es war sogar so, dass viele, viele Menschen überhaupt keine eigene individuelle Wäsche hatten, sondern es gab auch noch – ich weiß nicht, wann das aufgelöst wurde, daran erinnere ich mich nicht genau – eine sogenannte Kleiderkammer, wo es Berge von Wäsche gab und wo die Menschen, insbesondere solche, die eine intensive Behinderung hatten und keine eigene Wäsche, sozusagen jeden Tag die Unterhose oder die Hose von ich weiß nicht wem getragen haben.

Stiefvater: Dazu könnte ich noch was beitragen. Ich habe ja erst 2000 als Teilbereichsleiterin in Altona angefangen, das heißt damals im Bereich Hamburg-Stadt. Und da hatten wir, oder Alsterdorf, schon eigene Hausgemeinschaften in der Rothestraße zum Beispiel, sehr stadtteilintegriert in Ottensen. Und natürlich kannte ich als Hamburgerin auch nur den Namen Alsterdorfer Anstalten, obwohl wir keine Anstalt mehr waren, aber so habe ich damals auch erst mal angefangen. Und ja, Rothestraße, Lerchenstieg auf St. Pauli, das fand ich eigentlich alles irgendwie so weit in Ordnung. Aber je länger ich arbeitete, desto mehr habe ich so gedacht: Hm, ist ja komisch, erst mal duzen sich alle? Haben eigentlich alle eine Privatsphäre? Warum gibt es keine Briefkästen an den Türen? Also mit Normalisierung hatte das nichts zu tun, obwohl es so modern aussah, aber nach innen, wenn man genauer hinguckte, war es nicht so. Und dann kriegte ich einen Auftrag. Ich war zuständig für die geschlossene Gruppe im Karl-Witte-Haus. Wenn man sich das vorstellt! Das war 2001/2002! Das waren 19 Männer, die zum Teil 30 Jahre geschlossen untergebracht waren! Und ich habe das zuerst überhaupt nicht richtig verstanden! Aber das war damals auch noch so, dass die Bewohner keine eigene Unterwäsche hatten. Das kann man nicht glauben, das war noch 2001! Und das ging dann aber ratzfatz, dass wir das geändert haben, als das klar war. Wie lange das dann doch dauerte, um die Anstaltsstrukturen aufzulösen, auch wenn räumlich und auch strukturell und fachlich vieles schon auf den Weg gebracht wurde. Wie lange!

Cantzler: Ich wollte noch mal sagen, dass für mich die 80er-Jahre 1979 anfingen, weil dort die Zentralnachtwache gegründet worden war. Die Kollegen erzählen zwar hier von Wäsche und von Zentralküche, aber man muss sich auch vorstellen: Für die 600 Klienten im männlichen Bereich gab es drei Nachtwachen in der Zeit! Also man kann sich vorstellen, dass es ganze Häuser gab, da waren die Klienten fixiert an Armen und Beinen und mit Bauchgurt. Und wenn man da als einzelne Nachtwache für 400 Leute zuständig war, dann waren das auch Zustände, die – und dann lief es noch gut! – noch im besten Fall zu den Begriffen „Zentralküche“ und „Unterhosen mit Nummern drin“ passten. Als wir diese Missstände wahrnahmen – wir beide [gemeint: Wolfgang Clemens und Claus Cantzler, Abteilungsleiter der Zentralnachtwache], die wir uns abwechselten, also jeder war immer alleine da in der Nacht –, da wurde uns nur gesagt: Wir haben keine Leute dafür! – Und ich behaupte noch bis heute das Gegenteil! – Wir haben dann nämlich Studenten von der Uni angeworben und haben immer fünf Studenten in eine Wohngruppe gegeben – Rainer wird das wissen –, und von diesen Leuten sind auch erheblich viele nach ihrem Studium dageblieben, wie zum Beispiel Angela Welz, Frank Rückholt, Birgit Schulz [später Vorständin] und, und, und. Da gab es ganz viele Leute! Und zuletzt, als ich aufhörte, gab es insgesamt 50 Nachtwachen pro Nacht. Das hat auch dazu beigetragen, dass erstens die Versorgung über 24 Stunden gut lief und nicht nur über 14, denn vorher wurden die Klienten um 19.00 Uhr ins Bett gebracht und morgens um sieben oder um acht wieder rausgeholt. Das muss man noch mal ganz deutlich sehen.

Kutzner: Wie wurden die Menschen damals behandelt, als es die Nachtwache gab?

Cantzler: Also, wenn die Nachtwache kam, war es so, dass alle Klienten im Bett waren. Das war ungefähr halb neun/neun. Da die Klienten gar nicht müde waren, war es manchmal so, dass die wieder aufstanden, sobald die Nachtwache kam, denn die Nachtwachen hatten von uns als Abteilungsleitern auch den Auftrag, mit den Leuten noch was zu machen. Also wenn die Lust hatten, konnten die noch malen, spielen oder sonst was. Das war schon eine sehr paradoxe Situation, die wir dann, nachdem der Tagesdienst – der ja die anderen 14 Stunden zuständig war – sich beschwert hatte, erst mal überwinden mussten, um das so zu verändern, wie wir uns das vorstellten, und nicht, wie die alte Sache weiterlaufen sollte, also zehn Stunden im Bett.

Kutzner: War ja dann auch nicht so gut fĂĽr die Menschen!

Cantzler: Na ja, man muss sich vorstellen: Davor war es so, dass die Leute um 21.00 Uhr nach Hause gegangen sind und erst am nächsten Tag um sieben wiederkamen. Das heißt, die Leute waren zehn Stunden alleine im Bett. Und da war keine Hilfe, keine Assistenz!

Kath: Ich habe auch eine Weile im Nachtdienst gearbeitet und es gab damals eine sogenannte Geländewache, die ist die verschiedenen Häuser abgegangen. Die haben praktisch das Haus aufgeschlossen, und um später nachweisen zu können, dass sie wirklich in dem Haus waren, mussten sie einen Schlüssel rumdrehen in einem Schlüsselkasten, und dann haben sie – so war es jedenfalls in der Anfangszeit noch – in die Zimmer reingeleuchtet. Sie durften gar nicht in die Zimmer reingehen. Das waren ja damals noch große Schlafsäle, das heißt, sie haben in die einzelnen Zimmer reingeleuchtet und haben geguckt, ob es so einigermaßen ruhig war, und dann sind sie ins nächste Haus gegangen.

Stiefvater: Also, wenn du sagst, die wurden fixiert, weil sie ruhig sein mussten, wĂĽrden wir heute dazu sagen: Das ist eigentlich auch eine Phase von Gewalt, das ist strukturelle und physische Gewalt. Wie habt ihr das damals empfunden?

Cantzler: Also, natürlich war es so, wenn dann die jungen Leute, die jungen Menschen, die jungen Studenten, die wir dort angeworben hatten, nach der Einarbeitung im Tagdienst den Nachtdienst begannen, haben sie sich natürlich Gedanken gemacht: Wieso sind alle um 19.00 Uhr im Bett? Das wurde dann mit der Zeit geändert, dass das individuell gestaltet werden konnte, wann wer ins Bett ging. Und auch die Medikamente hatten natürlich damit zu tun, denn das war natürlich alles darauf ausgerichtet, dass die Leute auch bitte zehn Stunden im Bett blieben und schliefen und nicht aufstanden und durch die Gegend liefen. Da haben wir dann natürlich mit dem Chefarzt ziemliche Streitigkeiten gehabt, um das [die Medikamente] abzusetzen. Das heißt aber, wir haben empfohlen, dass diese Medikamente geringer dosiert werden oder überhaupt wegfallen könnten, obwohl wir noch nicht mal Ärzte waren! Es hat ziemlich lange gedauert, so etwas durchzukriegen!

Kath: Ich würde gerne zu den Medikamenten auch noch kurz was sagen, und zwar konnte ich damals dazu beitragen, dass der Wachsaal im männlichen Bereich aufgelöst wurde. Denn ich habe dort lange Zeit während meiner Ausbildung – ich habe eine einjährige Krankenpflegehelfer-Ausbildung gemacht – Nachtdienst gemacht und dann ist es vorgekommen, dass ein Klient, ein Bewohner haben wir damals gesagt, eine Bedarfsmedikation bekommen hat, die ihm gar nicht verschrieben worden war. Das ging natürlich selbst in damaligen Zeiten überhaupt nicht. Also man durfte natürlich Bedarfsmedikation damals anders als heute geben. Das war sozusagen im Ermessen derjenigen, die vor Ort waren. Aber man durfte keine Medikation geben, die nicht vorher vom Arzt als Bedarfsmedikation verschrieben worden war. Und das hatte ich festgestellt und bin dann – das war auch schriftlich hinterlegt – damals zum Vorstand gegangen. Und das war der Auslöser dafür, dass der männliche Wachsaal aufgelöst wurde.

Schulz: War das damals noch Pastor Direktor Schmidt oder war das schon der nächste Vorstand?

Kath: Das war schon der nächste.

Schulz: Wer war das? WeiĂźt du das noch? War das noch Herr Kohlwage oder schon Herr Mondry?

Kath: Ich war damals bei Herrn Heine.

Schulz: Ja.

Kath: Also zu dem bin ich gegangen.

Schulz: Herr Heine war damals auch nach meiner Kenntnis der Vorstand fĂĽr den Bereich der â€¦

Kath: … fĂĽr Personal.

Schulz: … der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt, genau, zuständig auch fĂĽr diesen Teil.

Stiefvater: Also, man kann sagen, im Grunde genommen sind das untragbare Zustände gewesen und das habt ihr auch so empfunden und habt versucht, da Verbesserungen in dem Rahmen auch mit anderen zusammen zu entwickeln und umzusetzen. Und da spielte ja der sogenannte Kollegenkreis auch eine bedeutende Rolle. Mögt ihr noch was dazu sagen?

Kath: Ja, ich war sozusagen von Anbeginn dabei; ich habe im Februar 1975, glaube ich, angefangen. Und damals wurde der Kollegenkreis ganz frisch gegründet. Wir haben über viele Jahre Flugblätter gemacht und verschiedene Zeitschriften rausgebracht. Wir haben uns auch damals lange Zeit regelmäßig mit Teilen des Vorstands getroffen und Gespräche geführt. Ja, das war sozusagen der permanente Versuch, über einerseits Gespräche und andererseits Öffentlichkeitsarbeit zu bewirken, dass sich die Verhältnisse verändern.

Cantzler: Ja, ich kann nur dazu bemerken, dass ich da damals auf 17 c gearbeitet habe. Das war diese Gruppe, von der zum Beispiel auch irgendwann mal die Wohngruppe der BarnerstraĂźeabstammte, und da Herr … – wie heiĂźt er noch, unser Kollege?

Kath: Horst Wallrath.

Cantzler: Horst Wallrath war da Stationsleiter und deswegen hatte man natĂĽrlich irgendwie immer was mit dem Kollegenkreis zu tun, auch damit, dass diese einzelne Gruppe von 24 anderen sich eigentlich als besonders betrachten musste, weil sie damals als Experimentalgruppe gewertet wurde, also mehr Freiheit fĂĽr Klienten, auch fĂĽr sehr schwierige Klienten und so weiter.

Kutzner: Wie wolltet ihr die Situation damals verbessern?

Cantzler: Also ich denke in erster Linie, dass man verhandelt hat, dass es mehr Personal fĂĽr die Gruppe gab, dass es schon immer auf 17 c eine Nachtwache gab oder eine Nachtbereitschaft zumindest, und das war schon in diesen Zeiten ganz besonders.

Schulz: 1979 …

Kath: Ich glaube, ich habe es gerade gesagt, der Aspekt des Kollegenkreises war für mich ein wichtiger Aspekt, um zu dokumentieren, dass wir mit den Verhältnissen, wie sie damals geherrscht haben, überhaupt nicht einverstanden waren.

Schulz: Genau. 1979 gab es ja dann den ZEITmagazin-Artikel „Die Gesellschaft der harten Herzen. In den Schlangengruben der deutschen Psychiatrie“. Und ich denke, dass das sicher ein großer Erfolg auch des Kollegenkreises war, eine solche Öffentlichkeit herzustellen. Zehn Jahre später gab es dann die Entscheidung, eine Regionalisierung der Wohnsituation zu organisieren. Was hat diese Entscheidung, strukturelle Entscheidung, eigentlich inhaltlich bewirkt auch in Richtung des Themas Selbstbestimmung? Also die 90er-Jahre stehen oder standen unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. Hat sich mit dieser Strukturentscheidung damals was verändert aus eurer Wahrnehmung? 1989 war das. Da gab es diese Entscheidung, Regionen einzuführen.

Kath: Das, woran ich mich als etwas Entscheidendes erinnere, war: Mit der Regionalisierung wurden die Strukturen so verändert, dass Wohngruppen aus der damaligen Hamburg-Stadt und aus dem damaligen Alster-Dorf sozusagen miteinander in einem Bereich zusammengefasst wurden. Und dadurch passierte ein Austausch über das, was außerhalb des Stiftungsgeländes passierte und was innerhalb des Stiftungsgeländes passierte. Ich glaube, das war ein wesentliches Strukturmerkmal, um sozusagen in neue Zeiten aufzubrechen.

Cantzler: Und es wurde schon so eine Art – Konkurrenzkampf ist ein bisschen zu viel –, aber man hat schon gesehen, was hat eigentlich Hamburg-Stadt gemacht und was machen wir noch auf dem Stiftungsgelände. Das fand ich auch immer sehr interessant, dass schon langsam geguckt wurde: Wie schaffen die das eigentlich, wie machen die das? Und auch, dass Alster-Dorf dadurch ein bisschen befruchtet wurde, was Hamburg-Stadt damals schon gemacht hat.

Stiefvater: Ich hätte noch eine Frage, Klaus, an dich, du hast eben gesagt: Die Bezeichnung war damals Stationsleitung. Station hört sich ein bisschen an wie Krankenhaus.

Cantzler: Also eine Anekdote dazu: Man saĂź da als frischer Zivi im Friedenshort und da ging ein junger Mann mit einem langen Kittel. Also das war ganz normal, aber der Oberpfleger – so hieĂź der damals – sagte mir: Ach, guck mal, der hat die dreijährige Ausbildung geschafft. Und ich so ganz erstaunt: Woran sieht man das? – Ja, der hat jetzt einen Kittel an, vorher durfte er nur eine weiĂźe Jacke tragen. Also, natĂĽrlich hatten alle weiĂźe Kleidung an. Das war ganz normal. Also man konnte nicht zivil dort auf der Station arbeiten, jedenfalls nicht auf denen, wo ich war. Bis auf 17 c wohlgemerkt.

Kath: Da fällt mir auch eine Episode ein. Das war auch auf [der Station] Hohenzollern, wo man tatsächlich auch weiße Kleidung tragen musste. Die Chefärztin kam mehrmals die Woche rein, und wenn man keine weiße Kleidung getragen hat, hat man einen Anpfiff gekriegt.

Cantzler: Frau Dr. Preussner-Uhde.

Kath: Ja, ich habe extra den Namen nicht gesagt. Und ich hatte dort sogar die Situation, dass ich dann mit Bewohnern – wie sie damals genannt wurden – gespielt habe, und der Oberpfleger kam zu mir und sagte: Die Menschen hier sind nicht zu ihrem Spaß und ihrem Vergnügen hier! Und ich hätte nicht mit ihnen zu spielen.

Stiefvater: Das würde mich jetzt mal interessieren. Also, man kann dann ja sagen, dass damals die Pflege und die Medizin sozusagen die Deutungshoheit oder die Zuständigkeit hatten. Wann und wie hat sich das denn verändert, dass mehr und mehr Pädagogik dazukam? Wann war das? War das schleichend oder gab es irgendwann mal da eine Entscheidung dazu? Wodurch hat sich das verändert?

Kath: Ich kann das nicht genau sagen. Ich glaube, es war ein schleichender Prozess. Trotzdem war es ja lange Jahre so, dass es immer eine ärztliche Leitung gab, und wann das genau verändert wurde, das krieg ich zahlenmäßig oder jahrgangsmäßig nicht mehr genau hin.

Cantzler: Aber schleichend, da hast du schon recht, das ist bestimmt bis Mitte der 80er gelaufen, vermute ich mal.

Schulz: Vielleicht noch eine Ergänzung: Mitte der 80er gab es die sogenannten Heimbereiche, acht Heimbereiche mit Heimleitungen. Und wenn man in die Historie schaut, dann wird deutlich, dass die Heimbereichsleiter sehr darum gekämpft haben, ein Stück weit Relevanz zu bekommen in diesen ganzen Zusammenhängen, also eine Bedeutung zu gewinnen, die natürlich sich vor allem als Konkurrenz zu den Medizinern verstand. Das muss man klar sagen. Also Mitte bzw. Ende der 80er ist aus meiner Sicht diese Situation in Richtung Pädagogik gekippt.

Kutzner: Hatten Sie auch das GefĂĽhl, dass die Situation damals so war wie in einem Krankenhaus?

Kath: Das war sehr unterschiedlich. Die einzelnen Häuser waren entsprechend der Leitung, die sie hatten, sehr unterschiedlich. Also, irgendwann konnte man sich dann ja entscheiden, wo man hinwollte, und ich bin in ein Haus gegangen, das eine pädagogische Leitung hatte, und da hat sich das vollkommen anders gestaltet als auf anderen sogenannten Wohngruppen. Also von daher gab es tatsächlich Stationen, so hießen sie vor allen Dingen im Karl-Witte-Haus damals, aber es gab auch Wohngruppen – das war schon eine fortschrittliche Bezeichnung damals, Wohngruppe –, die wirklich mit pädagogischen Inhalten versucht haben, die Zeiten sozusagen zu verwandeln und zu verändern.

Cantzler: Also das Karl-Witte-Haus war, als ich da anfing 1973, noch ein Neubau. Ich wurde da durchgeführt und alle waren natürlich begeistert, denn wenn man vorher die Baracken gesehen hatte, wie Friedenshort, Gottesschutz und so weiter und Bismarck, dann hat man schon verstanden, dass das erst mal eine Erneuerung und eine Verbesserung war. Aber in den nächsten Jahren und Jahrzehnten war das natürlich ganz offensichtlich ein Krankenhausbau. Man hätte das Karl-Witte-Haus auch, glaube ich, in einem Monat in ein Krankenhaus umbauen können. Und ich erinnere mich noch an das, was mich total schockiert hat, wenn wir mit den Menschen aus dem Karl-Witte-Haus im Wald waren, dann konnten diese Menschen nicht Balance halten, sondern mussten auf allen vieren weiterkriechen, weil die es gewohnt waren, nur glatte Flächen zu gehen. Also man schlurfte über die Flure, das geht sehr schlecht im Wald. Und darum mussten sich manche hinsetzen, weil sie nicht mehr laufen konnten im Wald. Das muss man sich mal vorstellen!

Kutzner: Wollten die Menschen auch, dass sich an der Situation was ändert?

Cantzler: Also natürlich waren manche darauf erpicht, vielleicht irgendwann auszuziehen in eine schönere Wohngruppe, die auch in der Stadt lag. Aber es gab ganz viele Menschen, für die war das einfach das Zuhause und die kannten gar nichts anderes und die konnten sich auch gar nichts anderes vorstellen.

Kutzner: Wie hatten Sie die Situation unter den Menschen damals wahrgenommen?

Kath: Ich habe die meisten Jahre auf Stationen bzw. Wohngruppen gearbeitet, wo Menschen, die sehr intensiv behindert waren, lebten. Und die haben sozusagen keine Äußerungen von sich gegeben, aus denen man hätte schließen können, dass sie vom Gelände wegziehen wollten.

Stiefvater: Zu der Zeit gehört, das muss man sagen, dann aber auch, dass viele Menschen – so nennt man das ja – hospitalisiert waren, das heißt also, wenn ich eigentlich keine Anregung habe durch äußere und innere Umstände, wenn ich eigentlich keine Beziehung habe, dann entsteht entweder ein hospitalisiertes oder ein zutiefst angepasstes Verhalten, das heißt, ich habe viele erlebt, die sich im Grunde genommen damit und mit sich abgefunden hatten, ja, also eher überangepasstes Verhalten zeigten, damit ich, wenn ich lieb bin, auch wenigstens Belohnungen bekomme, oder im anderen Fall ein herausforderndes Verhalten, also wo sozusagen noch ein Funken von Widerstand war. Und viele Menschen mit herausforderndem Verhalten haben irgendwie gemerkt, dass das nicht das Leben ist, dass man auch ein anderes Leben leben kann, die sich gewehrt haben, die dann aber nicht ins System passten und dann in eine geschlossene Station kamen, wie zum Beispiel ins Erdgeschoss im Karl-Witte-Haus. Und als wir die Stationen hinterher aufgelöst haben, hatten die wenigsten noch einen Unterbringungsbeschluss. Das brauchten sie nicht, denn sie hatten einfach Rebellion in sich und das musste unterdrückt werden durch Medikamente, durch Einschließen und so weiter und so fort, also durch restriktives Verhalten, und wenn man nichts anderes kennt, keine Alternative hat zum Leben, ja, dann ist man frustriert.

Cantzler: Es war sehr schwer, einen Gedanken des Auszuges in die Betreuer-, Eltern- und Schwesternköpfe zu bekommen, weil die mir immer wieder gesagt haben: Herr Cantzler, das Karl-Witte-Haus ist prima! Hier wird keiner überfahren, das tolle Stiftungsgelände, hier können die sich frei bewegen! Das war also richtig Arbeit, die Leute zu überzeugen, also, Schwestern, Brüder, manchmal Mütter und auch die gesetzlichen Betreuer, dazu zu bringen, die Genehmigung zu geben, dass der Klient oder die Klientin ausziehen darf, dass der Mensch besser wohnen darf.

Kutzner: Das wollten viele dann sicher auch gar nicht.

Cantzler: Eine Anekdote noch. Also, wir haben ja versucht, durch Ausflüge zu den neu gebauten Wohnhäusern Klientinnen und Klienten mitzunehmen, die sich dann diese Häuser angeguckt haben. Und manche Klientinnen und Klienten kamen zurück und sagten: Nee, da will ich nicht hinziehen! Und dann haben wir uns natürlich gefragt: Wieso will er denn da nicht hinziehen? Nachher kam raus, dass manche Mitarbeiter gesagt haben: Hoffentlich kriegst du da genug zu essen! Das war eine Sache. Zweitens sind manche Klientinnen und Klienten wiedergekommen und haben gesagt: Nee, da will ich nicht einziehen, denn da gibt es keine Fenster! Weil sich das Haus nämlich im Rohbau befand und keiner denen erklärt hatte, dass da auch noch mal Fenster reinkommen würden.

Kutzner: Hat man das extra gemacht, damit die Menschen dort wohnen bleiben?

Cantzler: Also, die Veränderungen betrafen natürlich nicht nur die Klientinnen und Klienten und die Menschen, die ausziehen sollten, sondern auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die hatten zumindest genauso viel Angst, ihr Karl-Witte-Haus oder ihr Carl-Koops-Haus zu verlassen wie auch die Klientinnen oder Betreuer oder wie auch immer. Da waren auch Ängste. Jede Veränderung macht Angst und das war da sehr zu spüren.

Schulz: Tja, und dann kamen die 90er-Jahre und dann kam die finanziell ganz schwierige Problematik für die Stiftung und damit auch das Ende der Regionalisierung. Wie habt ihr das erlebt, was ist da noch sozusagen an Bildern aus der Phase mit der Frage: Die Regionalisierung ist beendet, was jetzt? Gibt es da etwas, was sich eingeprägt hat, Anfang bzw. Mitte der 90er?

Cantzler: Also bei uns ganz deutlich, dass wir auf einmal ein Servicebereich waren. Und vorher waren wir die zentrale Nachtwache, die für alle eben den Nachtdienst gestellt haben. Dann kam der Vorstand auf die Idee, dass wir ein eigener Servicebereich waren und Rechnungen an die Wohngruppen geschickt haben, also sozusagen im Jahr das Budget gemacht haben. Die Frage nach dem Budget war völlig neu, auch für die Wohngruppen. Und auf einmal sollten sie sich erinnern, 172.000 DM für eine Nachtwache, zehn Stunden am Tag, und das 365 Nächte, zu zahlen. Und wir hatten immer gehofft, dass dadurch Häuser auf die Idee kommen, selber Nachtwachen zu organisieren. Aber die hatten viel zu viel Angst, das selber zu organisieren, denn Was mache ich eigentlich, wenn ein Spätdienst da ist und die Nachtwache meldet sich krank? Und die wussten, dass wir das natürlich immer gewährleisten, dass jemand da ist. Das war für mich der Anfang von dieser Budgetierung und auch gleichzeitig der Anfang von Wie machen wir eigentlich die Stiftung zahlungsfähiger oder – dass sie überhaupt überlebt?

Kath: Ja, daran wollte ich gerade anschließen. Mitte der 90er war ja die Situation in der Stiftung so, dass sie fast pleite war. Sie wurde ja gerettet über verschiedene Akteure, über die Stadt, über die Kirche. Und die Jahre waren im Grunde genommen intensiv geprägt davon, ich sag mal, zu budgetieren und vor allen Dingen die Budgets auch einzuhalten. Also die Priorität lag weniger auf pädagogischem Fortschritt oder überhaupt auf Fortschritt, sondern eher auf Die Budgets müssen eingehalten werden und man muss mit dem vorhandenen Geld auskommen.

Cantzler: Und die Verhandlungen mit der Stadt oder mit dem Träger wurden natürlich auch ganz anders gesehen, denn vorher war die Stiftung – hörte ich – stolz darauf, wenn sie einen niedrigen Pflegesatz, so hieß das damals, hatten und dann die ersten Verhandlungen losgingen, wo man wirklich auch mal Butter bei die Fische legen musste, um das zu finanzieren.

Kath: Die Situation, das wollte ich kurz noch sagen, wurde damals meines Wissens umgestellt. In den Jahren – ich weiß gar nicht, wann es sich verändert hat, wahrscheinlich weiß Herr Kraft das genauer –, ich glaube, bis 1994 wurden die Pflegesätze praktisch im Nachhinein bewilligt und ab 1995 wurden sie prospektiv, das heißt im Vorweg, verhandelt. Und dann musste man mit dem Geld, das verhandelt war, eben klarkommen.

Kutzner: Wie hat man das damals geschafft, mit dem Geld auszukommen?

Cantzler: Also mich darf man da nicht fragen, denn wir haben natĂĽrlich die Rechnungen gestellt und die mussten bezahlt werden fĂĽr den Nachtdienst. Da hatten wir wahrscheinlich die kleinsten Probleme. Wir wussten auch selber, dass wir zehn Stunden des Tages stellen mussten, und haben das organisiert und wir brauchten nicht so aufs Geld zu gucken wie wahrscheinlich die Wohngruppen.

Kutzner: Wie sah das bei Ihnen aus [zu Herrn Kath]?

Kath: Ja, das war die große Herausforderung. Wir hatten sozusagen ein Bereichsbudget bekommen und mussten das dann auf die einzelnen Wohngruppen runterbrechen. Und natürlich gab es – das ist ja heute letztlich auch nicht anders – dann immer das große Problem, dass es Kürzungen gab und dass man irgendwo Verantwortung dafür übernehmen musste, in welchen Bereichen gespart werden musste, und natürlich auch, dass es Personalkürzungen gab, die umgesetzt werden mussten. Das war die Krux der Zeit damals.

Schulz: Genau, das Thema Budgetierung war sehr im Vordergrund, hast du [zu Herrn Cantzler] auch gerade gesagt. Ich erinnere mich, dass ihr beide auch dann in eine neue Funktion kamt, die hieß Ressourcenmanager, Teilbereichsleiter und Ressourcenmanager. Könnt ihr euch daran noch erinnern? Was waren da eure Aufgaben? Wie war das?

Cantzler: Also ich erinnere mich, dass als ganz Neuer, weil ich vom Servicebereich Nacht dann in den Tagdienst gewechselt habe, über meiner ganzen Arbeit, die 15 Jahre gehalten hat, eigentlich die Aufgabe stand, die Zentrale Nachtwache wieder abzuschaffen. Und deswegen hat man mich, denke ich, auch zu den dreien dazu geholt, zu denen auch Rainer Kath gehörte, Lutz Schröder und Siegfried Lindemann. Und ich durfte mir zum Beispiel aussuchen Welches Haus möchtest du haben? Ja, ich kannte damals nicht viel von den weiblichen, sogenannten weiblichen Bereichen und hab gesagt: Ich nehme das Karl-Witte-Haus am liebsten. Und die anderen drei haben sich das dann untereinander aufgeteilt, also so schöne Namenwie Guter Hirte, weißt du noch, Rainer, und so fort.

Schulz: Ist es für euch damals in eurer Funktion eigentlich einleuchtend gewesen, warum es die Entscheidung gab, dass nach der Idee der Regionalisierung, wo Außenwohngruppen und Wohngruppen oder Wohnsituationen auf dem Stiftungsgelände zusammen organisiert waren, jetzt eine Entscheidung kam: Es gibt einen Bereich, der heißt Hamburg-Stadt? 1995/96 war die Entscheidung. Wie war das für die, die auf dem Stiftungsgelände Verantwortung hatten? Wie hat das auf euch gewirkt? Was hat gewirkt? Und was hat das verändert?

Kath: Das ist schwer zu beantworten. Also, in der Zeit, von der Claus – ich muss noch mal einen Bogen ziehen – gerade gesprochen hat, da gab’s ja nicht nur die Ressourcenmanager, sondern es gab auch die Qualitätsmanager. Ich habe diese Strukturveränderung damals sehr begrüßt. Ich fand das ausgesprochen gut und richtig, dass es überhaupt ein Qualitätsmanagement gab. Das heißt, man hat sozusagen in der Zeit wieder viel intensiver betont, auf die Qualität der Dienstleistung zu gucken. Trotzdem war es natürlich in der Funktion als Ressourcenmanager ausgesprochen schwierig, mit den Budgets einerseits klarkommen zu müssen und von den Qualitätsmanagern andererseits immer Forderungen zu hören. Also, wir hatten ein bisschen so eine Zwitterposition. Wir mussten die Budgets nach unten einhalten und die Qualitätsmanager haben natürlich – wie ich finde, zu Recht – Forderungen gestellt, wie wir die Qualität der Arbeit verbessern sollten. Das war eine schwierige Zeit!

Cantzler: Bei mir war natürlich eine andere Situation, weil nach sehr kurzer Zeit klar wurde, dass das Karl-Witte-Haus erstens nach Hamburg-Stadt kommt und ich zweitens somit als Leiter des Karl-Witte-Hauses nicht so sehr die Aufgabe hatte, mich mit der Qualität rumzuschlagen, sag ich mal so salopp, sondern dass es darum ging, das Karl-Witte-Haus in kurzer Zeit leer zu wohnen, in kurzer Zeit, das waren immerhin drei, vier, fünf Jahre, die das natürlich dauerte. Aber natürlich hatten wir das Qualitätsmanagement und die Qualitätsbeauftragte und es kam ja noch dazu, dasswir die ja auch alle kannten! Das waren ehemalige Kollegen, denen man jetzt gegenübersaß und von denen jeder eine andere Position vertreten musste und man sich da schon ein bisschen beharken musste: Wie geht was und was kann ich leisten und was geht gar nicht?

Schulz: Ja, im Jahr 2000 war dann die Struktur Alster-Dorf an ihrem Ende angekommen und du hast das als Stichwort gesagt, Hamburg-Stadt bekam die Zuständigkeit, auf dem Zentralgelände Wohnhäuser sozusagen leer zu wohnen. Davon hast du gerade gesprochen. Wie habt ihr diese Situation jeweils erlebt? Du hast schon ein bisschen darüber geredet, Rainer. Wie war das bei dir? 1999/2000 muss das gewesen sein.

Kath: Ich muss ehrlich sagen, ich muss gerade überlegen, welche Funktion ich damals genau hatte. Wir haben so viele Strukturveränderungen auf dem Stiftungsgelände vollzogen, dass ich gerade überlege: Was war denn noch mal genau 2000?

Cantzler: Da kann ich dir helfen. Du warst beschäftigt mit deinem Ressourcenbereich und ich war beschäftigt mit dem Karl-Witte-Haus. Und da waren eigentlich gar nicht so viele Berührungspunkte. Und dazu kam, dass ich auch ziemlich rumgerudert bin die erste Zeit, um erstens KlientInnen, BetreuerInnen und Eltern überhaupt zu überzeugen, dass man auszieht, und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowieso. Und der Nachbrenner und die Rakete wurden eigentlich erst gezündet, als wir in Hamburg-Stadt auf die Idee kamen, dass alle anderen Teilbereichsleiter ein Stockwerk übernehmen sollten von jedem Haus. Das hieß: Auf einmal war Hanne Stiefvater genauso zuständig für ein Geschoss, wie ich ein Geschoss hatte, und auch Herr Steinberg und so weiter, jeder hatte eins. Und dadurch kam überhaupt Turbo und Bewegung rein, denn dann wurde das nicht nur gesehen als Cantzler macht das Karl-Witte-Haus und ich habe meinen Teilbereich, sondern den anderen Teilbereichsleitern gehörte auf einmal auch ein Teil des Karl-Witte-Hauses.

Stiefvater: Ja, also das habe ich damals auch so erlebt, als ich kam. Also die Teilbereichsleiter, die zum Beispiel für Bergedorf oder Wandsbek oder Harburg oder eben wie ich in Altona zuständig waren, für die war ja im Grunde genommen das Stiftungsgelände weit weg und man hatte nichts damit zu tun, also in der Außensicht. Man verstand das auch gar nicht so richtig: Ja, Karl-Witte-Haus-Auszugsprojekt? – 160 Leute sollen irgendwo in Hamburg einen neuen Wohnort finden. – Ist ja eigentlich, Gott, ist ja eigentlich auch nicht schwierig! – hatte man so eine naive Vorstellung. Aber das war natürlich schwierig, denn das waren eben Menschen, die nie irgendwie im Stadtteil gelebt hatten. Und Klaus als alleiniger Verantwortlicher für das ganze große Haus – das war eine totale Überforderung! Für jeden wäre das eine Überforderung gewesen! Und deswegen war das damals eine kluge Entscheidung von Birgit Schulz, die Bereichsleiterin war, das genau so zu machen, die Stockwerke auf die Bezirke aufzuteilen. Und damit kam Bewegung rein, weil jeder freie Wohnplatz, ob das nun im Lerchenstieg war oder in der Rothestraße, jeder freie Wohnplatz wurde dann erst mal reserviert für die Menschen, die ausziehen sollten. Das war überschaubar. Man hatte irgendwie 40 Menschen, für die man zuständig war, und hat denen dann Wohnangebote gemacht. Und dann war das auch konkret vorstellbar. Und gleichzeitig gingen dann aber auch neue Wohnprojekte an den Start wie die Unzerstraße auf St. Pauli – das ging ja auch relativ schnell los – und da konnten dann auch schon eine ganze Menge einziehen. Damit haben wir es geschafft. Wir haben es auf mehrere Schultern verteilt und das bekam eine Dynamik. Wir haben das Karl-Witte-Haus innerhalb, glaube ich, 2003 schon leer gekriegt.

Kutzner: Wie war das fĂĽr die Bewohnerinnen und Bewohner, diese neue Situation?

Kath: Wir waren in unterschiedlichen Bereichen. Ich habe jetzt gerade noch mal rekapituliert. Ich war damals zuständig für einen Bereich HAW [gemeint sind die Häuser: Guter Hirte, Haus Abendruh und Haus Hoher Wimpel]. Das waren einzelne Häuser, das waren zwei Stockwerke im Carl-Koops-Haus, das warder Gute Hirte, das war der Hohe Wimpel und das war das Haus Abendruh. Und Ende der 90er haben wir oder durfte ich sozusagen die Entwicklung der Apartmenthäuser beisteuern, in die dann auch ein guter Teil der Menschen aus meinem damaligen Bereich umgezogen ist. Und für die war das ein Quantensprung. Sie sind praktisch aus Häusern ausgezogen, die es schon während des Krieges gab, in neu gebaute Apartmenthäuser, die sehr modern, sehr viel kleinräumiger waren, zum Teil auch Einzelapartments hatten, aber auch viele Zweierapartments. Das heißt, sie hatten das erste Mal die Möglichkeit, überhaupt selbst mitzuentscheiden, wie sie und wo sie wohnen wollten. Das heißt, sie konnten sich zu dem Zeitpunkt ihre Mitbewohnerinnen und Mitbewohner aussuchen, wenn sie kein Einzelapartment bekommen hatten, sondern ein Zweierapartment – aber es gab auch ein paar Vierer.

Stiefvater: Vielleicht noch ein Gedanke zum Auszug. Also viele hatten wahrscheinlich gefühlt – Angehörige, wie Klaus gesagt hat, und auch die Menschen selber –, dass ihnen das auch bevorstand. Aber da es ja dann schon Beispiele gab und wir auch viel begleitet haben, sind diese Ängste relativ schnell weggegangen. Also das spielte nachher beim Umzug keine Rolle. Was wichtig und auch entscheidend war, war, dass wir damals im Karl-Witte-Haus die Stadtworker gegründet haben, dass wir nicht nur Wohnen gemacht haben, sondern auch Tagesförderung und Beschäftigung, und zwar nicht im Sinne nur von Makramee und Bällebäder, sag ich jetzt mal – ich will das jetzt nicht runtertun –, aber schon im Kontext mit einer sinnvollen Tätigkeit. Die haben wir dann natürlich nicht nur im Karl-Witte-Haus aufgebaut, sondern überall in den Bezirken hat es Tagesförderung und Beschäftigung gegeben. Und es war ein Quantensprung, als wir das auch für Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf mehr und mehr ausgebaut haben.

Cantzler: Man muss zu den Apartmenthäusern noch mal sagen, dass das natürlich die begehrtesten Plätze waren, weil Klientinnen und Klienten, Mütter, Brüder gesehen haben, Ah, da bleibt er auf dem Stiftungsgelände! Also das waren so die begehrtesten Plätze und ich musste echt Kämpfe führen mit Rainer und mit dem Qualitätsmanagement, die uns da übrigens geholfen haben zu sehen, für wen ist das wirklich interessant, dort wohnen zu dürfen in Apartmenthäusern, zum Beispiel für manche galt es, die Angst zu verlieren, in einen Stadtteil zu ziehen. Der Sprung war für viele sehr groß.

Stiefvater: Damals mussten wir verhandeln, Rainer, da haben wir Plätze verhandelt, hart verhandelt, Rainer. Da haben wir uns auch kennengelernt, glaub ich. Du warst für die Apartmenthäuser zuständig und da gab es so ein paar Konflikttreffen, wo wir gesagt haben: Wir können nicht auf der einen Seite hier einen Auftrag für die Stiftung erfüllen und sollen hier die Häuser leer wohnen und organisieren und auf der anderen Seite haben wir aber Menschen, die wollen auf dem Stiftungsgelände wohnen bleiben und ihr müsst uns auch bitte paar Plätze übrig lassen.

Cantzler: Man musste nur rauskriegen, wer hat Interesse zu bleiben, weil er das Leben auf dem Stiftungsgelände gewohnt war. War es der Klient oder die Klientin selbst oder lag es an ganz anderen Sachen, dass er oder sie unbedingt auf dem Gelände bleiben wollte?

Schulz: Ich glaube, dass es gut war, dass die Konflikte geführt wurden. Wenn man sich die Geschichte anschaut, dann wurde vieles entwickelt – und es hat sich vieles positiv entwickelt auch über das Ausfechten oder konflikthafte Austragen von Meinungen, von Haltungen zu den Entwicklungen, um die es ja ging.

Die Zeit ist jetzt leider sehr fortgeschritten. Wir können nicht mehr ausgiebig über die Phase sprechen, in der es dann ja weiterging mit dem Alsterdorfer Markt und den einzelnen Assistenzgesellschaften. Aber dann doch noch mal in die Runde die Frage: Gibt es aus dieser Phase noch irgendeinen wichtigen Eindruck, denn ihr schildern möchtet? Dann wäre das jetzt noch möglich. Also die Phase ab Gründung des Alsterdorfer Marktes bzw. der Gesellschaften.

Stiefvater: Vielleicht noch zusätzlich verbunden mit der Frage – also du [Claus Cantzler] bist jetzt 40 Jahre dabei und du [Rainer Kath] bist ja auch eigentlich schon so lange dabei –, was im Rückblick aus eurer Sicht der Punkt war, zu sagen: Jetzt ist es gedreht! Jetzt haben wir wirklich was Neues geschafft! Was war das? Gab es dafür so eine Zäsur, wo ihr sagen würdet: Das war die entscheidende Voraussetzung dafür, dass der Weg in eine andere Richtung ging und wir heute dastehen, wo wir heute stehen?

Cantzler: Also fĂĽr mich war das die GrĂĽndung von Hamburg-Stadt. Ganz absolut, weil da das erste Mal eine Person (Birgit Schulz) dabei war, Wohngruppen in der Stadt aufzubauen, was man sich vorher gar nicht vorstellen konnte, dass es das ĂĽberhaupt gibt. Man muss sich auch vorstellen, dass die Menschen in den Stadtteilen ja selber gar keine Klientinnen und Klienten kannten, sondern das waren eben die Alsterdorfer Anstalten, da war ein Zaun drum und da wohnten 1200 Menschen. Die waren in den Stadtteilen nicht zu sehen. Und dann begann es damit, dass die zu erkennen waren in den Stadtteilen und da lebten.

Kath: Ich tu mich schwer damit, nein, ich könnte nicht ganz bestimmte Entwicklungsschritte sozusagen benennen. Für mich war das ein inhaltlicher Prozess, der sich dann einfach niedergeschlagen hat in veränderten Strukturen, in veränderten Angeboten. Ja, also, ich sag mal, das ganze Thema in den 90ern, Subjektorientierung als Beispiel, stärkere Privatisierung, Individualisierung, das waren so die Themen, die dann einen Oberbau oder einen Unterbau, wie immer man das bezeichnen will, dargestellt haben, die dann in der Diskussion oder über die Diskussion dazu geführt haben, die Verhältnisse peu à peu auch zu verändern.

Schulz: Ja, vielen Dank.

Kutzner: Eine Abschlussfrage hätte ich noch: Wie steht ihr mittlerweile zur Evangelischen Stiftung?

Cantzler: Also ich finde immer interessant, dass ich fast jede zweite Nacht von irgendwas aus Alsterdorf noch träume und ich mich wundere, dass das immer noch drin ist in einem und dass Alsterdorf eigentlich jede zweite Nacht im Traum mit dabei ist, also dass das für mich ein großer Auftrag im Leben war, daran mitzuarbeiten, wie die Menschen heute wohnen.

Kath: Unverändert positiv. Wie gesagt, ich arbeite heute noch mit einem kleinen Vertrag, bin regelmäßig immer noch vor Ort, habe eine wunderschöne Aufgabe und freue mich, regelmäßig immer noch die Kollegen zu treffen.

Kutzner: Dann sag ich vielen Dank.

Schulz: Gleichfalls vielen Dank.