10 / 1992 – Interview mit Wolfgang Kraft

Teilnehmende

Wolfgang Kraft

Reinhard Schulz

Hans-Walter Schmuhl

Nico Kutzner

Transkription

Kutzner: Herzlich willkommen zum Interview hier. Wenn Sie sich bitte vorstellen könnten.

Kraft: Gerne. Ich bin Wolfgang Kraft. Ich war Vorstand der Evangelischen Stiftung Alsterdorf von 1992 bis 2009 und bin mittlerweile Rentner und 73 Jahre alt.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich koordiniere das Projekt „Zeitzeugen-Dokumentation“.

Schmuhl: Mein Name ist Hans-Walter Schmuhl und ich schreibe im Auftrag der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zusammen mit der Kollegin Ulrike Winkler eine Darstellung zur Geschichte der Alsterdorfer Anstalten von den Anfängen bis zur Gegenwart.

Kutzner: Wie haben Sie die Veränderungen in der Evangelischen Stiftung wahrgenommen?

Kraft: Die Veränderungen von 1992 praktisch dann bis in das 21. Jahrhundert, die waren sehr umfassend, sehr tiefgreifend und haben alle Bereiche umfasst, die wir hatten. Also das waren die wirtschaftlichen Bereiche, die Immobilien, die inhaltlichen Bereiche, die Entwicklung der neuen Paradigmen. Es waren die Prozesse überhaupt, die zum Teil sehr vielschichtig und tiefgreifend waren.

Schulz: Sie kamen ja als Personalvorstand 1992 in die Stiftung. Ich erinnere mich sehr gut daran. Sie haben sich damals bei uns in der Region West auch vorgestellt – da habe ich Sie zum ersten Mal erlebt. Wie schnell war Ihnen eigentlich klar, dass die Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe in der Evangelischen Stiftung ein Sanierungsfall waren?

Kraft: Die ersten Eindrücke und Befürchtungen waren schon entstanden, als ich das Gelände und die Bausubstanz sah und dann natürlich relativ schnell dadurch, dass man permanent über Pflegesätze gesprochen hat, über die Höhe der Pflegesätze und die Schwierigkeit, die Pflegesätze zu halten, und, und, und … Und dann wurde es sehr schnell klar. Ich kann mich noch erinnern, ich hatte als Erstes schon auf einer meiner Familienheimfahrten an den Wochenenden – das war so nach drei bis vier Monaten – mal einen Plausibilitätstest gemacht mit einer möglichen Sanierung, ob das überhaupt möglich war, und hatte dann festgestellt: Jawohl, das war möglich! Dann habe ich mich wieder etwas beruhigter zurückgelehnt.

Kutzner: Wie war die Stimmung damals?

Kraft: Die Stimmung war sehr aggressiv, insbesondere, was die MAV [Mitarbeitervertretung]anging. Ich kam ja aus der Industrie und fĂĽr mich war das immer so ein typisches Beispiel. Jedes Mal, wenn ich den Begriff Gewinn in den Mund nahm, ging ein Gejohle los, ein Protestgejohle natĂĽrlich. Das war so die Einstellung damals. Alles andere, was nicht sozial war und was aus einem anderen Bereich kam und aus der Wirtschaft natĂĽrlich ganz besonders, war erst mal suspekt.

Schmuhl: Sie kamen ja in eine sehr schwierige Situation hinein. Die Vorstandswirren dauerten noch eine ganze Weile an, bis sie sich geklärt hatten. Vielleicht können Sie in groben Zügen mal diese Konflikte schildern.

Kraft: Als ich kam, gab es zwei Vorstände; das waren Propst Mondry und ein weiterer Kollege aus dem Finanzbereich. Da war es eigentlich noch ganz friedlich. Dann kam ein vierter Vorstand für den Behindertenhilfebereich und dann begannen eben die wilden Diskussionen über Struktur und darüber, was das Richtige war, und darüber, in welcher Form wir uns strukturieren sollten. An der Diskussion der Struktur ist dann tatsächlich auch der neue Vorstand, der hinzukam, gescheitert. Es ging damals um die berühmten Wohnstätten, also die erste Strukturreform, die damals gemacht worden ist. [Anmerkung: Die Wohnstätten bestanden in der Zusammenführung einzelner Wohngruppen unter einer Leitung und sollten die Regionalbereiche ablösen, wobei alle Wohnstätten unter einer Leitung unter der Vorstandsebene zusammengefasst werden sollten. Nachdem im Gesamtvorstand keine Einigung mit dem Vorstand der Behindertenhilfe erzielt werden konnte, musste dieser die Stiftung verlassen und der Personalvorstand übernahm dessen Bereich. Statt der Wohnstättenstruktur wurden die drei Bereiche Alster-Dorf, Alsterdorf-Stadt und Alsterdorf-Umland eingeführt.]

Schulz: Mögen Sie erzählen, wie es dann auf Sie als Personalvorstand hinauslief bei der Frage, wer wird Sanierungsbeauftragter?

Kraft: Das ist eine ganz wilde Geschichte! Wenn man die Geschichte sieht, war eigentlich … Nein, ich muss anders anfangen. Die Senatorin, Frau Fischer-Menzel, hat die Stiftung aufgefordert, endlich mal eine Person zu benennen, die in der Lage war, auch in der Sache zu entscheiden und dadurch von der Behörde ernst genommen würde. Und dann stand die Stiftung vor dem großen Problem: Wen wollen wir benennen? Der Vorstand aus der Behindertenhilfe, der kam deswegen nicht infrage, weil das ganze betriebswirtschaftliche und juristische Umfeld ihm nicht bekannt war. Der andere Kollege, der für das Finanzwesen zuständig war, hatte ein Strategiekonzept oder ein Sanierungskonzept vorgelegt, das von der Behörde abgelehnt worden war – sein Hauptthema war: Man muss in den Ecken kehren. Das war die Strategie seines Konzeptes. Und dann gab es nicht mehr viel Möglichkeiten, als dass ich übrigblieb. Und ich habe auch gleich gesagt, dass ich das machen würde, weil ich da meine Industrieerfahrung und auch Sanierungserfahrung in der Industrie mit einbeziehen konnte.

Kutzner: Wie lief die Sanierung genau ab?

Kraft: Das ist jetzt eine Frage, die könnte man mit einem halbstündigen Referat beantworten, aber ich will es mal ganz kurz sagen: In der Sanierung ging es darum, in erster Linie die Kostenstruktur, also Leistungsstruktur und Kostenstruktur in Deckung zu bringen. Das lief immer ganz weit auseinander. Und wir hatten da relativ schnell, nachdem ich bestellt worden war, schon am anderen Tag nach meiner Bestellung mit der Behörde einen Fahrplan ausgearbeitet, wie das Ganze laufen sollte oder laufen könnte. Der Fahrplan war so, dass wir eine erste Konferenz, eine Perspektivkonferenz damals vereinbart hatten. In dieser Konferenz sollte eine Bestandsaufnahme erfolgen: Wo sind die Probleme, wie groß sind die Probleme? Und dann sollte das Ganze nach einer Frist von etwa zwei Monaten, auf die man sich dann vorbereiten konnte als Stiftung, in einer Weise bearbeitet werden, dass die Probleme zahlenmäßig bewertet werden, dass die Dimensionen klar werden sollten: Was war eigentlich an Problemen da? Am Ende dieser ganzen Aktion gab es einen Katalog von über 100 Aufgaben, die die Stiftung in ihrer Organisationsstruktur bewältigen musste. Da gab es dann ein Gremium, das das Ganze verfolgte und so weiter. Das war die eine Seite, und die andere Seite waren dann die Partner, die in der Sanierung mit hinzugezogen werden mussten. Das waren einmal die Banken, dann war es die Kirche, dann war es die BAGS, also das Amt der Stadt Hamburg, das dafür zuständig war, und Alsterdorf. Und alle vier [Anmerkung: Sanierungspartner waren es mehr. Die Banken bestanden aus der Hausbank und zwei Großbanken] mussten letztlich zum Konsens geführt werden, zusammen ein Volumen von 51 Millionen DM aufzubringen. Und dass es 51 Millionen DM wurden, hing auch damit zusammen, dass die Stiftung das Gesamtvolumen einer Sanierung damals mit 106 Millionen dargestellt hatte. Und daraufhin kam, als sie das dann im Sanierungskonzept gesehen hatte, die Behörde als Erstes und sagte: Also von eurem Betrag ziehen wir erst mal die Hälfte ab! Und dann blieben 51 Millionen übrig. [Anmerkung: Den Gesamtsanierungsbedarf bezifferte die Stiftung auf circa 106 Millionen DM, wobei die Stiftung sofort erklärte, etwas mehr als die Hälfte dieses Bedarfes durch Einsparungen und Vermögensverwertung beziehungsweise Kreditaufnahme selbst übernehmen zu können. Unter Berücksichtigung dieser Eigenleistung wurde dann der Sanierungsbedarf in Höhe von circa 51 Millionen DM unstreitig gestellt.]

Schulz: Da war vieles ja sehr strategisch und auch am Ende sehr nachhaltig, was von Ihnen veranlasst wurde. Wie viel glĂĽckliche FĂĽgung stellte sich dabei ein?

Kraft: Glückliche Fügung, die erste, vielleicht die wichtigste, war unsere Beziehung zu der BAGS [Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales], insbesondere zu dem Leiter des Amtes für Rehabilitation. Das war damals Ulrich Koch, der hatte ein großes Interesse daran, Alsterdorf am Leben zur erhalten, sodass wir in der Behörde jemand hatten, der eher kooperiert hatte als jemand, der immer nur gegenüberstand und kritisierte und Forderungen stellte. Vielmehr hatte er auch das Wissen des damaligen Amtes für Rehabilitation mit eingebracht in den Sanierungsprozess. Und das war ein Grund, warum der ganze Prozess relativ schnell und reibungslos laufen konnte. Und das war für mich eben auch das Wichtige, dass ich in der Lage war, auch zu Herrn Koch und dann auch zur Senatorin, Frau Fischer-Menzel, einen wirklich guten Kontakt aufzubauen. Das Ganze war dann auch bei den Banken mit den entsprechenden Vorständen der Banken so.

Schulz: Was waren Ihre persönlichen Erfolgsfaktoren in diesem komplexen und turbulenten Geschehen?

Kraft: Es gab Partner, die positiv mitmachten. Da sind natürlich die MAV und die Mitarbeitenden noch mal ein eigenes Thema, aber ohne die wäre es überhaupt nicht gegangen.

Schmuhl: Da sind wir bei dem berühmten Bündnis für Investition und Beschäftigung. In der Rückschau ist das ganz erstaunlich, dass das zustande gekommen ist, also mit Blick darauf, dass Sie gerade so anschaulich geschildert haben, dass Sie immer Reaktionen bekamen, wenn Sie nur das Wort Gewinn in den Mund nahmen. Wie viel mussten Sie da an Überzeugungsarbeit leisten? Wie hat das funktioniert?

Kraft: Da muss ich an dieser Stelle insbesondere den beiden Partnern, die mir immer gegenübersaßen, ein Kompliment machen. Da ist einmal die MAV in Person von Jens Strampfer und dann auch Herr Rose von ver.di, der hierfür zuständig war. Beide Personen haben letztlich diesen Gedanken nicht nur verstanden, sondern auch wirklich mitgetragen, auch in Mitarbeiterversammlungen, die teilweise hitzig waren. Derjenige, der diese Idee am intensivsten und, ich meine, am wirkungsvollsten verteidigte und dafür einstand, war Herr Rose. Also, ohne die Tatkraft und diesen Willen von Herrn Rose hätten wir es nicht durchbekommen!

Kutzner: Hat sich denn durch die Sanierung auch die Stimmung verändert?

Kraft: Ja, ja, mehrfach, je nachdem, in welchem Stadium die Sanierung gerade war. Ich erinnere mich an den Start der Sanierung, an die vielen Gespräche im Herntrich-Saal und die Auseinandersetzung – ganz schwierige Stimmung! Dann kam nach der Sanierungsvereinbarung, nachdem klar war, die Stiftung lebte weiter und es lief, die große Erleichterung. Da war wirklich spürbar: Jetzt geht es voran!

Dann kam noch mal das Bündnis für Investition und Beschäftigung. Da hat sich die Stimmung mit der MAV sehr, sehr positiv entwickelt, weil die MAV in Form des Investitionsrates an allen Entscheidungen in der Verwendung der Gelder, die durch den Tarifverzicht der Mitarbeitenden uns zuflossen, beteiligt war. Das war eine gute Sache. [Anmerkung: Der Investitionsrat war ein paritätisch besetztes Gremium, das über alle Investitionen entschied, sodass ohne die Zustimmung der MAV keine Entscheidung möglich war.]

Schulz: Das Sanierungsgeschehen war ja der eine große Teil, der große, schwierige Block. Kurz danach gab es eine Situation, das wurde uns auch von Interviewpartnern berichtet, dass es auch in den Krankenhäusern schwierig war. Hatte das eigentlich Einfluss auf das Sanierungsgeschehen der Eingliederungshilfe oder stand das letztlich daneben und war ein Thema der Stiftung, aber nicht der Eingliederungshilfe?

Kraft: Also in den Vorverhandlungen mit der Senatorin haben wir zugesichert: Das Sanierungsgeschehen bezieht sich nur auf die Behindertenhilfe. Alle anderen Bereiche, sprich Schulen, sprich Medizin, die sind okay! Wir hatten kaum die Unterschrift geleistet – das war am 21. Dezember 1995 –, als dann die Vorausschau des Ergebnisses vom Krankenhaus vorgestellt wurde. Da hat sich herausgestellt, dass ein millionenschwerer Verlust zu erwarten sei. Und dann gingen bei uns natürlich alle Antennen hoch. Das Einzige, was wir nicht tun durften, war, die Glaubwürdigkeit zu verlieren, sodass wir sofort versuchten, das einzugrenzen und insofern das Krankenhaus nicht zu einem Sanierungsfall werden zu lassen, indem wir neben dem Problem gleich die Lösung präsentierten und sagten: Das ist kein Sanierungsfall, weil ja die Lösung schon klar ist und wir auch im Prozess sind und auf dem Weg, dieses Defizit auszugleichen.

Und das war eben auch die größte Angst und vielleicht sogar der gefährlichste Punkt, wo die Sanierung noch mal hätte kippen können. Aber es hat ja dann geklappt. Die Lösung hatten wir gefunden und wir konnten das Krankenhaus, wenn man so möchte, einmal retten und auf der anderen Seite diese Problematik voll von der Problematik der Behindertenhilfe getrennt halten.

Schmuhl: Wo lagen denn die Ursachen des Defizites des Krankenhauses? Und welche Lösung ist dann da gefunden worden?

Kraft: Das war auch schon damals schwierig zu erkennen, weil ja bis vor dem Jahr 1995 die Ergebnisse positiv waren. Und dann kam plötzlich dieser Abstieg. Ich weiß nicht, ob es damals schon die Pflegesatzveränderungen zu den Fallpauschalen waren – kann ich im Moment nicht sagen, was es war. Auf jeden Fall war das Hauptproblem die Intransparenz der dortigen Finanzstruktur und des Liquiditätsflusses, ein Problem, das der damalige Verwaltungsleiter eigentlich erst im Nachhinein erkannt hatte, als letztlich die Zahlen alle vorlagen.

Schulz: Noch mal zur Eingliederungshilfe! Damals, in der Phase, als es darum ging, die Sanierung anzugehen, gab es sicher strategische Gründe, die alte Struktur der Regionalisierung aufzulösen, die ja schon damit eingesetzt hatte, in Wohnbereichen in den vier Hamburger Regionen unterwegs zu sein. Es gab ja dann die Entscheidung, dass es Hamburg-Stadt gibt, Alster-Dorf und Hamburg-Umland, was die Wohnangebote angeht. Welcher strategischen Herleitung folgte dann dieses Ergebnis, die Struktur so zu bilden?

Kraft: Ja, unser Hauptproblem war, dass es nicht nur eine inhaltliche Sanierung war, sondern die ganzen inhaltlichen Konzepte mussten ja überprüft, umgestaltet werden, um eine Leistungsstruktur zu schaffen, die nicht mehr so aufwendig war, aber gleichwohl noch wirksamer als die bestehende. Und das waren Bewusstseinsprozesse. Und einer der ersten Bewusstseinsprozesse, der durchgeführt wurde, war eben diese Strukturveränderung. Der Hintergrund war eigentlich ein ganz einfacher. Wenn man die Sanierung mit einer Überschrift versehen würde, war das „Auflösung der Anstalt“. Das war damals der große Überbegriff. Und zu Auflösung der Anstalt gehörte in erster Linie eine mentale Veränderung der Mitarbeitenden. Und welche Veränderung stand jetzt hinter dieser Struktur? Eigentlich eine ganz einfache. In der Anstalt war jeder Mensch gleich betrachtet worden: Alle erleben das Gleiche nach der gleichen Struktur. Wir hatten dagegen die erste Binnendifferenzierung, in der Form, dass wir gesagt haben, es gibt verschiedene Lebensbereiche, die müssen auch in der Struktur, in den Inhalten der Wohngruppen abgebildet werden. Es gibt das städtische Leben, es gibt das ländliche Leben und es gibt das Leben in Alsterdorf, das sich noch mal unterschied von allen. Und für diese drei unterschiedlichen Bereiche mussten eigene Konzepte her, um die Binnendifferenzierung auch in der Angebotsstruktur nach außen zu entwickeln.

Schulz: Welche Rolle spielte dabei – Thema „Lebensbereiche“ â€žDer Mensch mit Behinderung“ – auch das Thema „Arbeit und Beschäftigung“? Auch da gab es ja viel Veränderungen.

Kraft: Ja, ja, da gab’s auch viel Veränderungen, auch bezogen auf den Förderbereich, wenn man dann noch mal diesen Bereich mit ansieht. Arbeit war einer der wichtigsten Bereiche als Angebotsstruktur, aber in der Sanierung selbst habe ich alsterarbeit, den Arbeitsbereich, nicht so sehr als Problemfall erlebt. Das muss ich sagen. Also das Problem, die Problemfälle waren im Wohnbereich. Der Arbeitsbereich war eher der stabile Bereich, so wie ich in Erinnerung habe. Der hat funktioniert und der hat auch immer gute Ergebnisse beigetragen, die uns dann immer wieder noch gewissen Handlungsspielraum gaben.

Schulz: Aber ich erinnere mich gut an Ihren Auftrag damals auch an meine Person mit Herrn Wolfgang Lühr zusammen: Entwickelt mal ein modernes Konzept zum Thema Arbeiten und Beschäftigung!

Kraft: Ja, mir ist die Situation jetzt nicht mehr genauso gegenwärtig, aber mit Blick auf das, was mit „modernes Konzept“ gemeint war, habe ich jetzt nur noch die guten Seiten in Erinnerung.

Schulz: Ja, Sie sprachen von alsterarbeit, das wurde ja erst danach gegrĂĽndet. Die Konzeptfrage war ja in den 90ern ein Thema.

Kraft: Ja, stimmt, und das neue Konzept war „alsterarbeit“.

Schulz: Genau.

Kraft: Ja.

Schmuhl: Was ich noch nicht ganz verstanden habe: Es ist ja dann dieser neue Bereich „Förderung und Therapie“ gegründet worden und relativ schnell wieder eingegangen. Einmal versteh ich nicht so richtig, was die Logik war, diesen Bereich zu gründen, und warum sich das nicht bewährt hat?

Kraft: Also, man hat da immer über das Normalitätsprinzip gesprochen. Das bedeutet: Man wohnt und man geht zur Arbeit. Das sollte auch jetzt abgebildet werden in der Zweiteilung der Behindertenhilfe. Und neben der Arbeit gab es natürlich auch Menschen, die konnten so nicht arbeiten. Also gingen die in den Förderbereich, der würde da genauso behandelt wie Arbeiten: Förderbereich ist deine Aufgabe, das ist deine Arbeit. Und dann hat es natürlich Sinn gemacht, den Förderbereich als Ganzes zu gründen – erst mal. Dann kamen die wirtschaftlichen Probleme und man sagte und fragte sich: Wo können wir Geld einsparen? Wie können wir uns strukturieren, dass wir Personaleinsatzzeiten sparen, ohne die Qualität zu reduzieren. Und da hat man, also der Vorstand hat gesagt: Das ist doch ganz einfach! – Das sieht natürlich nur aus der Distanz einfach aus. – Wenn alle ihre Arbeit haben oder in den Förderbereich gehen, dann sind die Wohngruppen leer. Also brauchen wir in dieser Zeit keine Besetzung der Wohngruppe und dieses Geld können wir sparen! Ist an sich eine einfache Logik. Nur man musste auch sehen, es mussten ja Krankenfälle abgedeckt werden und so weiter. Aber das war eine Sache, wo der Vorstand gesagt hat: Das müsst ihr organisieren! Wichtig ist, dass zumindest keine Doppelbesetzung in diesen Zeiten in der Wohngruppe ist. Das sollte eben Teil auch der Sanierungsmaßnahmen sein. Und da kamen wir dann mit dem Therapiezentrum in Konflikt, weil das Therapiezentrum ganz anders, auf der Grundlage der eigenen Struktur geführt wurde, aber nicht in Bezug auf Entlastung der Wohngruppen. Und da haben wir gesagt: Das geht so nicht weiter, das ist viel zu teuer, wenn wir diese Trennung beibehalten! Man kann eben sagen, es war ein Kooperationsversagen, um es mal so auszudrücken. Und daraufhin hatte man gesagt: Wir machen jetzt für Menschen, die nur stundenweise in Therapie gehen können, den Förderbereich als kleinen Bereich in den einzelnen Häusern. Und das führte dann dazu oder war Folge – das kann ich jetzt nicht genau sagen –, dass sie in Alster-Dorf mit dem großen D in die Geschäftsbereiche eingegliedert wurden, um die Verantwortlichkeit zu bündeln auf kleinere Bereiche, um höhere Flexibilität zu haben. Diese Bereiche waren dann für die Förderarbeit im Haus zuständig, soweit die Bewohner nicht ganztätig im offiziellen Förderbereich tätig sein konnten. Und die haben dann ihren Bereich für die Menschen, die so stark behindert waren, dass sie eben keine Ganztagsbeschäftigung wahrnehmen konnten, so organisiert, dass diese Menschen eben auch ihren Förderanteil bekamen und die andern eben dann in einen verkleinerten Förderbereich, der dann aber ganztägig war, gehen konnten.

Kutzner: Wie haben Sie die Inklusion frĂĽher erlebt in der Evangelischen Stiftung?

Kraft: Die Inklusion? Das ist eine interessante Frage. Wir hatten ja schon beim zweiten Community Care Kongress die Aussage gemacht. Es geht nicht um Integration der behinderten Menschen, sondern es geht um Inklusion! Und das waren Zeiten, wo man noch gar nicht so richtig ĂĽber Inklusion gesprochen hat, wo man auch gar nicht so genau wusste, was war denn und was bedeutet Inklusion ĂĽberhaupt. Und das war uns damals schon klar! Das war ja das Kernthema unserer Entwicklung! Mit dem Alsterdorfer Markt ging es ja auch weiter.

Schmuhl: Wenn Sie sagen, dass Alsterdorf vorweg war, was Inklusion als neues Paradigma gegenĂĽber Integration angeht, worauf fĂĽhren Sie diese Vorreiterrolle zurĂĽck?

Kraft: Einmal hatten wir beispielhaft die Schule, die ja letztlich schon den Inklusionsgedanken gelebt hat. Das bedeutet einfach, Menschen gehören in die Gesellschaft, sie sind Teil der Gesellschaft und sie müssen nicht integriert werden in die Gesellschaft. Also, es ist nicht ein Handlungsprozess, sondern eher eine Sache der Zugehörigkeit: Es gehört zum Menschen dazu, in der Gesellschaft zu sein. Und das führte dann auch zu anderen Betrachtungsweisen. Damals, wenn ich daran denke, wie wir den Alsterdorfer Markt geplant haben, haben wir auch gesagt: Ihr gehört zur Gesellschaft, auch wenn ihr in Alsterdorf wohnt, und: Wir machen im Prinzip einen reziproken Integrationsprozess. Wir sagen: Ihr seid so stark behindert, oder ihr wollt es auch um jeden Preis, hier auf dem Stiftungsgelände wohnen zu bleiben, das dürft ihr auch, aber mit gesellschaftlichem Bezug – Inklusionsgedanke: Ihr gehört ja zur Gesellschaft und den müssen wir insofern dann gewährleisten, indem wir die Gesellschaft auf das Gelände holen. Das war reziproke Inklusion oder Teil des Inklusionsprozesses, dann diese Art der Inklusion zu ermöglichen.

Schulz: Das Ganze passierte ja dann im Sanierungsgeschehen danach im Bündnis für Investition und Beschäftigung gemeinsam mit Herrn Baumbach.

Kraft: Ja.

Schulz: Sie waren ja ein Zweiervorstand. Was war das Geheimnis Ihres gemeinsamen Erfolges als Zweiervorstand, wenn Sie das hier lüften möchten?

Kraft: Ich muss sagen, das war ein Glücksfall für die Stiftung, dass zwei Vorstände da waren, die nicht um Macht buhlten, sondern jeweils die unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen akzeptierten. Also Baumbach war in mancher Hinsicht fantastisch und wir hatten keine Konkurrenz, gar nicht, sondern wir haben uns wirklich ergänzt, und zwar ganz uneitel ergänzt in gewisser Weise. Und Herr Baumbach selbst, der hat ja die Fähigkeit gehabt, unglaublich schnell Kenntnisse, Wissen, Verhaltensweisen zu adaptieren. Also die ganzen wirtschaftlichen Prozesse, alles, was wir in der Sanierung gemacht haben, nach zwei, drei Jahren war der so voll drin, als hätte er das von Anfang an so gewusst und gekonnt. Also er war da schon ein Phänomen. Und die ästhetische Orientierung, die ist voll auf ihn zurückzuführen, gar keine Frage. Da hatte er das Heft in der Hand. Und ich selbst habe ihm natürlich da auch keine Konkurrenz gemacht, weil er da viel besser war als ich. Das war überhaupt keine Frage!

Schulz: Wenn Sie zum Alsterdorfer Markt schauen, wie viel Wolfgang Kraft steckt in der Umsetzung der Vision „Alsterdorfer Markt“? Wir hatten das Thema gerade, Herr Baumbach und …

Kraft: Ja, also die ganze Seite von Ästhetik und Bauplanung und so weiter, das ist wirklich ganz klar das Feld von Herrn Baumbach gewesen. Für mich war es der Alsterdorfer Markt mit seiner ganz wichtigen Funktion für Normalität, aber auch die Auflösung der Anstalt, die mit dem Leben und dem Erfolg des Alsterdorfer Marktes eigentlich abgeschlossen war. Wir sind ein Stadtteil geworden. Die ganze Anstalt hat sich integriert in das Umfeld, ohne aber die Eigenständigkeit zu verlieren. Und das, finde ich, ist das Phänomenale des Alsterdorfer Marktes.

Schmuhl: SchlieĂźt sich eigentlich die Frage nach Leitbildprozessen an, die zu dieser Zeit ja auch, glaube ich, viel diskutiert worden ist.

Kraft: Ja. Der Leitbildprozess war immer ein Prozess, der die Stiftung seit den 90er-Jahren begleitet hat. Es war immer die Suche: Wer sind wir, was tun wir, wie wollen wir was tun und mit welchem Ziel wollen wir es tun? Das war eine Riesendiskussion. Und ich kann mich erinnern: Der letzte Leitbildprozess hatte, glaube ich, vier Aspekte, das war Respekt, das war Verantwortung, das war Selbstbestimmung und – was war das Vierte? –

Schulz: Freiheit.

Kraft: Bitte?

Schulz: Freiheit.

Kraft: Freiheit, ja, typische protestantische Werteorientierung! Und das haben wir dann gut ausgearbeitet. Das war ja gerade auch fĂĽr die Menschen mit Behinderung ganz wesentlich, diese Freiheit, diese Selbstbestimmung. Im Wesen der Anstalt ist die Fremdbestimmung, die Anstaltsordnung: Ihr mĂĽsst tun, was wir wollen. Und dann kommt die Selbstbestimmung: Die Menschen entscheiden selbst ĂĽber ihr Leben, ĂĽber ihr Ziel.

Schmuhl: Hat in diesen Diskussionen dieses Moment des Diakonischen eigentlich noch eine Rolle gespielt? Hat man darĂĽber nachgedacht: Was macht eigentlich eine diakonische Einrichtung aus?

Kraft: Ja, und so paradox es klingt: Ich habe als für die Betriebswirtschaft Verantwortlicher immer wieder gesagt: Es ist immer diakonisch, gute Gewinne zu machen, aber nicht auf Kosten der Klientinnen und Klienten, sondern dadurch, dass wir mit dem Geld sorgfältig, effizient und effektiv umgehen; denn Verschwendung ist natürlich auch in Strukturen zu finden, die nicht stimmen, die überhäuft mit Ausschmückungen sind, die nicht notwendig waren. Ich denke da an den ganzen Zentralbereich, der ja dann abgebaut wurde. Der war nicht notwendig, der war eine Verschwendungsstruktur. Und das ist nicht diakonisch. Das heißt, Herr Baumbach hat immer für diese diakonischen Ziele oder Aspekte von Freiheit, von Verantwortung, von gegenseitigem Respekt gesorgt. Das war für ihn ganz, ganz wichtig! Ich glaube, darin stand auch seine Ästhetik, denn eine gewisse Ästhetik bedeutet auch Respekt vor der Klientel, die man betreut. Wenn man an Anstalt denkt, dann denkt man nicht an ästhetische Gebäude oder Kategorien, dann denkt man: ein bisschen verschmutzt, ein bisschen verschlampt, ein bisschen Geruch nach Putzmitteln, aber man denkt nicht in ästhetischen Kategorien.

Kutzner: Wie sind diese Veränderungen auch durch die Sanierung vom Alsterdorfer Markt wahrgenommen worden, denn früher war das ja nicht zugänglich durch die Alsterdorfer Anstalten, mittlerweile ist es zugänglich?

Kraft: Ja, es ist ganz erstaunlich. Die Stadt Hamburg hat es sehr, sehr positiv angenommen, also die Mitarbeitenden sowieso, wir haben sogar Preise dafür gekriegt, Preise für die Öffnung des Geländes, für die Auflösung eines Anstaltsgeländes und die Integration in die Gemeinschaft in die Stadt Hamburg, da haben wir einen internationalen Preis bekommen – ich weiß gar nicht, ist der noch irgendwie ausgestellt in der Stiftung, oder wo der ausgestellt ist, er müsste noch im Vorstandssekretariat sein. Da waren wir mächtig stolz und das ging auch durch die Zeitung.

Schulz: Dann gab es ja leider diesen tiefen Einschnitt durch die Erkrankung von Herrn Baumbach. Wie haben Sie das rĂĽckblickend damals fĂĽr sich selbst, aber auch fĂĽr die Weiterentwicklung erlebt?

Kraft: Also die Zeit, wo dieser Direktorenposten vakant war, das war eigentlich die schwierigste Zeit, auch nach der Sanierung, weil es sich da zeigte, dass Baumbach doch der Kristallisationspunkt der Stiftung war. Er war – jetzt von den Menschen her gesehen – der Träger des neuen Alsterdorfs. Er war der Repräsentant nach außen, er hat gut gepredigt, er konnte gut formulieren. Also, es ist schon ein Vakuum entstanden, dadurch, dass er nicht mehr da war. Und ich habe es sehr bedauert, denn gerade der menschliche Kontakt mit Rolf Baumbach war schon was Besonderes.

Schmuhl: Vielleicht sprechen wir noch einmal kurz ĂĽber die Umwandlung der Stiftung zu einer Holding, das ist auch ein Riesenprozess gewesen, den Sie noch mit angestoĂźen und begleitet haben.

Kraft: Da stand aber genau das alles unter dem Eindruck „Auflösung der Anstalt“. Dieses Gefüge der Entscheidungsfindung, von unten weit nach oben, letztlich zu einer Person oder zu einem Organ, dem Vorstand, musste durchbrochen werden. Das hieß: Die dezentralen Verantwortlichkeiten mussten geschaffen werden. Wir haben immer gesagt, um ein bisschen im militärischen Bild zu bleiben: Wir sind kein großer Tanker oder ein großes Kriegsschiff, sondern wir sind eine Flotte von kleinen beweglichen Einheiten. Das war so das Bild. Und das ging letztlich nicht, indem man Menschen sagte: Du bist dafür zuständig, du bist dafür zuständig, sondern dadurch, dass der Zuständigkeitsbereich eben ein geschlossener Bereich war, definitiv geschlossen. Die verschiedenen GmbHs mussten von den anderen GmbHs Leistung beziehen, Leistung einkaufen. Es gab keine Zuteilung. Die mussten sich einigen. Jeder musste dafür eintreten. Und das war ein Lernprozess. Und ich glaube, das war einer der wichtigsten Lernprozesse in der Stiftung überhaupt, damit dieses starre Gefüge ein Ende fand.

Schulz: Ich hätte jetzt von meiner Seite aus noch eine Abschlussfrage, weil die Zeit jetzt auch rum ist. Haben Sie noch was, Herr Kutzner?

Kutzner: Ich hätte noch eine Frage.

Kraft: Ja, bitte.

Kutzner: Wie stehen Sie heute zu der Stiftung?

Kraft: Ja, also einmal darf ich hier so sagen, das war sicherlich eine der wichtigsten Etappen meines Berufsweges, die Sanierung. So was wiederholt sich nicht und dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe sehr schöne, sehr gute Erinnerungen an Alsterdorf. Und ich glaube, Alsterdorf, wenn es so weitergeht, wie es im Moment zu gehen scheint, wird noch eine gute Zukunft haben, dass die Fortsetzung dessen, was hier gemacht worden ist, auch wieder neue Blüten bekommt. Das kann ja nur dann die Basis sein für das, was kommt. Und insofern denke ich gerne zurück und ich freue mich, wenn es Alsterdorf gut geht.

Schulz: Ja, eine letzte Frage. Wie geht es Ihnen mit dem informellen Titel „Längster Vorstand nach Sengelmann in der Stiftung“? [Anmerkung: Richtig ist, der Vorstand, der nach 1945 am längsten im Amt war]. Sie waren 17 Jahre Vorstand und dabei für die heutige moderne Stiftung die prägende Figur.

Kraft: Ja, mir geht es gut damit, sagen zu können – und das war sicherlich damals auch für mich schon bei meinem Ausscheiden sehr, sehr hilfreich: Man hat geleistet und man konnte es sehen. Das Prägende einer Figur richtet sich nicht allein nach der Zeitdauer. Ich glaube, die Sanierung war zwar wichtig, aber was Alsterdorf wirklich geprägt hat, war das Miteinander zwischen Baumbach und mir. Ich würde mich da jetzt nicht über Baumbach stellen wollen.

Kutzner: Vielen Dank!

Schulz: Ja, gleichfalls, herzlichen Dank fĂĽr die Auskunftsbereitschaft!