10 / 1992 – Interview mit JĂĽrgen Heinecker

Teilnehmende

JĂĽrgen Heinecker

Reinhard Schulz

Nico Kutzner

Transkription

Kutzner: Hallo, ich bin Nico Kutzner. Wenn Sie sich bitte vorstellen mögen.

Heinecker: Hallo, ich heiße Jürgen Heinecker, bin seit 1982 in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf beschäftigt und bin 62 Jahre alt.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich betreue das Projekt „Entwicklung der Eingliederungshilfe in der Stiftung in den letzten vierzig Jahre“ und freue mich darauf, zusammen mit Herrn Kutzner das Interview mit Herrn Heinecker führen zu dürfen.

Kutzner: Was verbinden Sie mit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf?

Heinecker: Für mich persönlich sind hier die wichtigsten Weichenstellungen in meinem Leben gewesen, alleine schon dadurch, dass ich vierzig Jahre hier bin. Das ist eine sehr lange Zeit. Mit 22 Jahren kam ich in die Stiftung, damals noch die Alsterdorfer Anstalten, bin immer dabeigeblieben und die Arbeit hat mir bei allen Veränderungen in all den Jahren sehr viel Spaß gemacht. Ich weiß und merke auch – das haben mir eigentlich immer alle bestätigt –, dass ich mich von meiner Persönlichkeit her immer mitverändert habe und von daher eine tiefe Verbundenheit empfinde.

Schulz: Magst du erzählen, wie du 1982 in Alsterdorf eingestiegen bist? Warst du schon ausgebildeter Erzieher oder in welcher Funktion hast du damals begonnen?

Heinecker: Ich war damals ausgebildeter Erzieher. Mit 22 Jahren kam ich als „Landei“ – ich habe immer im Dorf gewohnt – in die große Stadt, weil man mir gesagt hatte, dass es dort interessante Arbeitsplätze geben würde. Ich arbeitete damals in einer Einrichtung, mit deren Ausrichtung ich nicht einverstanden war; die Leute waren mir, ehrlich gesagt, zu fromm. Damit konnte ich nicht viel anfangen und nach einer gewissen Zeit habe ich mich nach einem anderen Arbeitsplatz umgesehen. So kam ich in die Stadt, weil ich Jemanden getroffen hatte, der mir sagte: In der Stiftung oder damals die Alsterdorfer Anstalten ist ganz viel los, und da passiert ganz viel. Von dem Zeit-Skandal Stichwort Schlangengrube [gemeint ist der Artikel des Zeit-Magazins, der die katastrophale Wohnsituation der Alsterdorfer Anstalten offenlegte] hatte ich überhaupt nichts gehört. Ich kam aus dem tiefsten Heide-Gebiet, aus der Lüneburger Heide.

Also stellte ich mich in Alsterdorf vor und konnte zwei Wochen später schon meinen Dienst beginnen. Das war kurz vor Weihnachten und am 2. Januar habe ich schon anfangen, zu arbeiten. So schnell ging das.

Kutzner: Wie war das aus Ihrer Sicht damals bei den Alsterdorfer Anstalten, als Sie angefangen haben?

Heinecker: Das war eine sehr bewegende Zeit. Einmal war es für mich natürlich bewegend, weil ich aus dieser engen frommen Einrichtung in die große Stadt kam. Das war ein großer Umschwung in meinem Leben. Zum zweiten kam ich in eine Situation, die das Ende des Wachsaals war. Der Wachsaal war gerade im Haus Guter Hirte aufgelöst worden in einer Gruppe, deren Klienten damals unsägliches Leid erlebt hatten. Damals fing ich dort mit einer Reihe anderer Mitarbeiter an. Man versuchte, durch junge Menschen, die neu nach Alsterdorf kamen, neue Ideen und neue Dynamiken in den Alltag zu bringen, Menschen anders wahrzunehmen und anders annehmen zu können als wir als junge Menschen – mit 22 ist man noch jung – das konnten.

Das war die Situation, in die ich kam. Auf der einen Seite gab es sehr viele Menschen, die Schreckliches erlebt hatten, auf der anderen Seite Mitarbeiter, die unterschiedlich daran beteiligt waren oder nicht beteiligt waren. Es war eine ziemliche Gemengelage und diese überhaupt zu verstehen – ich kann immer wieder nur sagen, dass ich aus dieser kleinen, behüteten, frommen Einrichtung in dieses große Alsterdorf kam –, brachte schon sehr aufregende und bewegende Wochen mit sich.

Schulz: Gibt es bei dir noch Bilder aus der Zeit, die präsent sind? Was war dein erster Einsatzort?

Heinecker: Es gibt natĂĽrlich noch ganz, ganz viele Bilder, die mir immer wieder mal kommen. Manchmal sind es Anekdoten.

Mein erster Einsatzort war die Gruppe 36. Das war damals die Gruppe von Schwester Rosemarie, in der die ganzen Unrechtmaßnahmen gegenüber den Klienten geschehen waren. Inzwischen war die Gruppe geteilt, nur noch die Hälfte der Gruppe wohnte dort im Guten Hirten. Die anderen waren in andere Wohnverhältnisse umgezogen, aber man merkte doch, dass bei diesen Menschen die Angst sehr präsent war. Sie hatten einfach Angst vor der Allmacht der Mitarbeiter. Eine Klientin sagte immer wieder: Senf, Senf, ich will keinen Senf! Muss ich jetzt Senf essen? – sie musste zur Strafe immer Senf essen, wenn sie etwas falsch gemacht hatte.

Oder es gab so geflügelte Wörter bei den Klienten, die sprechen konnten. Eine Klientin sagte z.B. immer: Paral. Dann krieg ich Paral! Das war ein Medikament, durch das selbst die Menschen, die vielleicht andere Empfindungsmöglichkeiten hatten, merkten: da passiert etwas mit mir, so dass ich mein Leben nicht mehr kontrollieren und steuern kann, und ich von einem Medikament abhängig bin!

Das waren natürlich Äußerlichkeiten. Wir haben ganz langsam angefangen, die Wege und die Schritte mit den Klienten zu machen. Wir hatten Klienten, die nachts nicht schlafen konnten, wenn sie nicht festgegurtet waren, weil sie das nie anders erlebt hatten. Wir fingen an, diese Gurte vorsichtig abzumachen, erlebten aber, dass die Menschen die Gurte haben wollten und wirklich kämpften, um nachts angegurtet zu werden, weil sie sonst nicht in diese Beruhigungsphase, die man zum Schlafen braucht, hineinkamen. Das waren für uns als junge Mitarbeiter*innen schreckliche Erlebnisse. Aber ich glaube, dadurch, dass ich jung war und wir viel und ständig darüber redeten, konnten wir die Schritte auch gehen und haben ganz, ganz viel erreicht.

Kutzner: Wie wollten Sie die Situation damals verändern?

Heinecker: Wie wollten wir sie verändern? Das ist eine gute Frage. Ich glaube, wir wollten ganz viel. Wir waren jung. Wir wollten vor allen Dingen den Menschen, die dort geschlossen untergebracht waren – sie konnten das Haus nicht alleine verlassen – vor allem die Welt zeigen: Da ist eine Welt draußen, außerhalb deiner bisher erlebten kleinen, geschlossenen, schrecklichen Welt in Alsterdorf. Das war ein wichtiger Gesichtspunkt und wir wollten ihnen –vielleicht war es einfach nur, etwas Gutes tun als Ausgleich für all das Schreckliche, was sie erlebt hatten. Wir bemühten uns, ihnen z.B. körperliche Genüsse zu geben, dass sie Spaß am Essen kriegten und merkten: Es gibt nicht nur die Anstaltskost! Wir wagten dann auch mal, Dinge draußen zu kaufen. Das war nicht sonderlich beliebt, das sollten wir eigentlich nicht, denn es gab die Versorgungssysteme innerhalb der Anstalten. Aber wir machten es trotzdem, weil das Erleben von Geschmack ein toll ist und einfach zum schönen Leben gehört. Wir machten uns die Mühe und taten es einfach. Wir dachten im Prinzip: Wir öffnen ihnen die Welt! Die Tür war noch zu, aber: Wir öffnen ihnen die Welt!

Schulz: Wie verliefen die Auseinandersetzungen mit den älteren Mitarbeitern, mit den Leitungen dieser Angebote, dieser Wohnsituation?

Heinecker: Ich sag ganz ehrlich, es gab keine Schwierigkeiten, sondern wir hatten wirklich das Gefühl, dass das, was wir wollten, gewollt war. Wir hatten nie das Gefühl, dass wir uns irgendwie vor Vorgesetzten verstecken mussten. Manchmal hatten wir das Gefühl, dass Vorgesetzte uns nicht entsprechend unterstützten. Da hätten wir uns manchmal schon mehr gewünscht, aber wir haben nie erlebt, dass man gesagt hätte: nein, das ist nicht schön, dass ihr mit den Klienten rausgeht! Wir haben immer nur erlebt: ja, macht das! Wir machten z.B. Reisen, denn das waren ja Menschen, die eingesperrt waren. Ich erinnere mich noch unglaublich intensiv an eine Fahrt an die Ostsee. Das war für ein paar Tage und für diese Menschen war es das erste Mal, vermute ich. Es gab keine Historie, aber es fühlt sich so an, als ob sie zum ersten Mal an der See waren. Bei solchen Sachen haben wir nie gehört: das dürft Ihr nicht! Da war immer eine Offenheit: macht, macht, macht!

Kutzner: Wie war das fĂĽr die Klienten, endlich mal wieder raus zu kommen?

Heinecker: Unglaublich, vermute ich. Ich kann es nicht genau sagen, denn das waren oftmals Menschen, die nicht sprechen konnten oder die sehr in ihrer wiederholenden Sprache waren. Aber wenn man den Gesichtsausdruck mitbekam, hatten sie Genusssituationen und das war einfach unglaublich, ich kann es nur wiederholen: Das war einfach unglaublich! Die konnten das nur über ihre Mimik zeigen. Von denen konnte keiner sagen: das finde ich aber schön! Wir als Mitarbeitende konnten nur Erfahrungen machen, die wir selber uns dann gegenseitig erzählten. Wir wussten: das, was wir tun, ist richtig. Das, was wir tun ist es Wert und die Reaktion, die die Menschen zeigen, das ist es wert, es weiterzumachen.

Schulz: Welche Rolle haben damals pädagogische Konzepte bei der Arbeit gespielt?

Heinecker: Ich glaube, in diesen Jahren – das war Anfang der 80ziger Jahre – spielten pädagogische Konzepte keine große Rolle. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich kam an, ich war beseelt von dem, was ich wollte, aber ich hatte keine Ahnung von Behindertenpädagogik! Ich sag es mal ganz ehrlich, in meiner ersten Qualifikation bin ich Erzieher gewesen und wir haben nie etwas über Heilpädagogik und über Arten von Behinderung gelernt. Ich hatte in meinem ganzen Leben wenig mit Menschen mit Behinderung zu tun gehabt. Von daher hatte ich damals kein pädagogisches Konzept und hatte auch nicht das Gefühl, dass die anderen ein Konzept hatten. Wir waren im Prinzip alles Erzieher, da war kaum mal ein Heilerzieher dazwischen. Wir haben das einfach getan, weil wir beseelt waren.

Schulz: Ende der 80er-Jahre begann die Regionalisierung der Wohnangebote. Welche Erfahrung hast du aus der Zeit noch, die du berichten kannst?

Heinecker: Aus der Gruppe im Guten Hirten bin ich an den Schlump gewechselt. Das war damals schon die zweite größere Einrichtung mit insgesamt 100 Klienten, die dort direkt am Bahnhof Schlump im alten Krankenhaus wohnten. Da lebten wir mitten in der Stadt und das war etwas ganz anderes! Es war selbstverständlich, dass die Menschen rausgingen, die Tür öffneten und sich ihr Umfeld am Schlump oder an der Hoheluftchaussee selber eröffneten. Die waren bekannt wie alle skurrilen Menschen, sag ich mal. Die kennt man einfach in seiner Umgebung. Die Klienten waren auch gerne gesehen, weil sie zum größten Teil ganz liebevoll, fröhlich und freundlich waren. Das konnte das damalige Umfeld, das war rund um die Uni, gut aushalten und integrativ wirken.

Am Schlump haben wir schon damals ganz intensiv die Region, den Stadtteil wahrgenommen, was dann irgendwann mal Programm wurde. Wir haben es so gelebt und wir haben es erlebt. Ich denke immer an einen Herrn Uwe Bender, der Maler, der dort groß geworden ist. Er war einfach da und wie selbstverständlich im Stadtteil bekannt. Er war der große Maler und ein Stück vielleicht auch ein Paradiesmensch, oder Paradiesvogel – das Wort finde ich nicht so ein schön. Er war ein „paradiesischer“ Mensch, der einfach von seiner Persönlichkeit her lebte, der entsprechend angezogen war, der entsprechend wahrgenommen wurde. Der konnte in dem Umfeld so sein wie er tatsächlich war. Toll! Also das war wirklich toll! Ich weiß nicht, ob Sie Herrn Bender kennen? [zu Herrn Kutzner gewandt]

Schulz: Sehr gut.

Heinecker: Du kennst ihn von den Schlumpern her. Ein ganz faszinierender Mann!

Kutzner: Das mĂĽsste dann auch fĂĽr alle Klient*innen besser gewesen sein als die Situation in den Alsterdorfer Anstalten, oder?

Heinecker: Absolut! Es war schon toll, am Schlump zu arbeiten, was wir damals gar nicht so gemerkt haben! Wir hatten einen langen Flur, da gingen die Zimmer ab, viele davon Zweitbettzimmer, aber immer schon mit einem Waschbecken dabei. Wir fanden das damals toll. Heute wĂĽrde man sagen: Die sind doch gar nicht fortschrittlich! Aber es war natĂĽrlich zu dem Zeitpunkt fĂĽr die Klienten total fantastisch. Die fĂĽhlten sich wohl dort, das muss man einfach sagen. Die haben dort gerne gelebt und gearbeitet. FĂĽr viele war es der erste Weg aus der Anstalt, aus Alsterdorf heraus, an den Schlump zu kommen und einfach ein anderes Leben und auch Ă„rzte anders kennenzulernen. Wir hatten immer noch viel zentrale Versorgung, aber die spielte fĂĽr uns keine groĂźe Rolle mehr. Die war uns relativ egal.

Schulz: Wie hast du das Ende der Regionalisierung und die Phase der Sanierung der Stiftung erlebt? Welche Rolle spielte das am Stadthaus Schlump?

Heinecker: Ich bin 1989 weg vom Schlump. Wir sind die ersten gewesen am Schlump. Der war damals sicherlich toll, aber auch immer endlich. Es gab mal eine Planung, dass das Haus abgerissen werden sollte, aber dann ist es zum GlĂĽck nicht abgerissen worden, aber zumindest sollten die Menschen mit Behinderung dort nicht mehr wohnen.

Wir fingen an, Wohnangebote im Westen von Hamburg zu suchen, und fanden die auch. So bin ich der erste gewesen – ich war schon Leitung, Gruppenleitung nannte sich das –, der mit seiner Gruppe damals nach Osdorf zog. Wir waren die allerersten, die aus dem Schlump ausgezogen sind, außer dieser kleinen Enklave Schnelsen, aber das war nur ein Teil von Klienten. Wir sind komplett als Gruppe 1989 nach Osdorf in das heutige Wohnhaus Bornheide gezogen.

Das war im Rahmen der Regionalisierung – das Wort spielte bei uns im Alltag keine Rolle – natürlich schon das absolute Highlight, denn wir waren der ganzen Stiftung ledig, hatten mit der Stiftung nichts mehr zu tun. Ich hatte eine Vorgesetzte, die in AlsterDorf war – ich glaube du warst auch eine Zeitlang mein Vorgesetzter, aber das war eben AlsterDorf! Das interessierte uns nicht sonderlich. Wir haben in Osdorf ein Stück weit gemacht, was wir wollten und das war für mich natürlich toll, weil ich eine Menge Ideen hatte, wie man gut mit Angehörigen umgehen, wie man Menschen in den Stadtteil bringen konnte. Das sind einfach Dinge gewesen, wo ich sagte: So, jetzt kann ich einfach mal völlig unabhängig von irgendwelchen anderen, Sachen machen. Meine Vorgesetzten kümmerten sich nicht so intensiv um uns da draußen. Im Prinzip konnten wir machen, was wir wollten, selbst in diesem Stadtteil. Die Klienten haben das getan, was ich mir erhofft hatte: sie haben sich selber diesen Stadtteil erobert.

Kutzner: Konnten Sie auch viele gewĂĽnschte Ideen umsetzen?

Heinecker: Alle! Also wenn ich eine Idee hatte, konnte ich sie umsetzen, weil wir zu dem Zeitpunkt wirklich alle froh waren, das machen zu können. Es gab diese breite Bewegung, raus in die Stadtteile, raus aus dem Gelände der Stiftung. Von daher hatten wir alle Freiheiten und ich habe das auch immer sehr wahrgenommen. Wie gesagt, wir hatten mit der Stiftung gar nichts zu tun.

Noch mal zurück zu deiner Frage [gemeint ist Reinhard Schulz] – wie hieß dieses Projekt da noch zur Sanierung?

Schulz: Die Sanierungssituation der Stiftung Mitte der 90er-Jahre –

Heinecker: Genau. Mitte der 90er-Jahre. Das haben wir so am Rande mitbekommen. Das spielte für mich keine Rolle! Es hat für uns im Alltag nichts bedeutet. Manchmal saß ich in irgendwelchen Arbeitsgruppen in AlsterDorf, da war ich dann aber auch der Einzige aus dem Mitarbeiterteam, der da mal teilnehmen musste. Irgendwann saß ich mit Strampfer [gemeint ist Jens Strampfer, Vorsitzender der damaligen Mitarbeitervertretung] in diesem Sanierungsteam, wo Mitarbeiterideen besprochen wurden. Aber das war letzten Endes schon alles, denn eigentlich haben wir uns, ich sag’s mal ehrlich, darum nicht geschert. Wir hatten in jeder Beziehung unsere Ideen, die wir mal weniger, mal mehr verwirklicht haben. Auch für diesen problematischen Stadtteil Osdorf, haben wir gute Dinge gedacht und getan. Die Klienten haben gerne in Osdorf gewohnt und ganz reizende Mitmenschen gefunden, die gut mit ihnen umgehen konnten. Sie haben sich ihren Stadtteil erobert. Nicht wir haben sie zum Gottesdienst begleitet, nein, sie sind selber zum Gottesdienst gegangen wie jeder andere Bürger in Osdorf auch Er geht eben zum Gottesdienst oder er geht eben nicht zum Gottesdienst. Aber die haben es selber gemacht. Und das war es, was wir verwirklichen konnten. Wir konnten sie ein Stück weit loslassen, wir konnten sie rausnehmen aus dieser persönlichen Begleitung. Es gab eine angepasste Begleitung, klar, aber wenn Jemand aus gutem Wissen sagte: Ich geh jetzt zum Gottesdienst, dann ist er zum Gottesdienst gegangen. Das war selbstverständlich!

Kutzner: Das mĂĽsste dann doch fĂĽr die Klienten auch ein tolles GefĂĽhl gewesen sein?

Heinecker: Das war es. Garantiert! Wir haben damals eine gute Arbeit gemacht. Vielleicht sagt man das immer ĂĽber sich selber, das mag sein, aber ich glaube, es war wirklich gut, was wir damals in diesem Osdorf gemacht haben, denn das war ein schwieriger Stadtteil, und wir konnten die Menschen loslassen und sagen: Geht ihr den Weg! Wir begleiten euch. Wir sind dabei!

Wir haben damals schon sehr intensiv Stadtteilarbeit gemacht. Es war selbstverständlich – ich bin ein sehr kirchlicher Mensch, meine Frömmigkeit habe ich dann später wiedergefunden –, dass wir Kontakte zur Kirche hatten. Wir sind nicht mit den Klienten zum Gottesdienst gegangen, aber wir hatten selbstverständlich Kontakte mit dem Pastor und wir haben in Gremien gesessen. Irgendwann wurde 25 Jahre Osdorfer Born gefeiert. Es war selbstverständlich, dass wir mitfeierten, denn wir wohnten schließlich da. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt – und das sage ich wirklich über einen Zeitraum von 10 Jahren – keinerlei Schwierigkeiten mit den Nachbarn. Gar keine! Keine Anfeindung! Die Klienten sind durch den Stadtteil gegangen, und haben in diesem schwierigen Stadtteil nie etwas wie Ausgrenzung oder blöde Anmache, wie man das heute nennen würde, erfahren. Das gab es nicht.

Das ist heute anders. Damals war das einfach. Der Stadtteil konnte locker wegstecken, dass unter ihnen 20 Menschen mit Behinderung wohnten. Das wusste man, das war bekannt und dann war’s das.

Schulz: Wie wurde diese Arbeit, die du gerade so eindrücklich beschrieben hast, stimuliert durch die Entscheidung: Es wird einen Wohnbereich HamburgStadt geben? Hat das etwas verändert?

Heinecker: Ja und nein. Ich glaube es hat positiv etwas verändert, weil damit zum ersten Mal diese Vision, die wir bereits lebten, offiziell und anerkannt wurde. Wir merkten: Die ganze Stiftung macht sich auf den gleichen Weg wie wir. Das fand ich toll und alles hat sich unglaublich vereinfacht, weil wir nur noch mit Menschen in HamburgStadt zu tun hatten, die einen ähnlichen Weg gegangen waren, teilweise viel später oder den Weg noch vor sich hatten, aber mit dem gleichen Grundprinzip. Wir mussten nicht mehr darum kämpfen, für uns selber zu sorgen, sondern das war selbstverständlich. Wir hatten eigene Budgets, wir hatten Gelder, die wir selber verwalteten konnten, und es war nicht mehr wichtig, was eine Stiftung sich dachte. Das berühmteste Beispiel war – in AlsterDorf oder auch noch am Schlump –, dass wir keine Waschmaschinen kaufen durften. Die mussten immer zentral bei Herrn P. bestellt werden, denn er war derjenige, der Weißware bestellte. Das war ein Unding! Oder diese unsäglichen Schreiben was Versicherungsfälle anging. Irgendwann war es selbstverständlich, dass wir für Versicherungen keinen Menschen in Alsterdorf mehr brauchten, der das bearbeitete, sondern dass das dahin gehörte, wo es entstanden war, nämlich zu uns. Herr G. – ich weiß nicht, ob du den noch kennst, der hat immer seitenlange Briefe an alle möglichen Leute geschrieben – war irgendwann weg und dann gehörte es zur offiziellen Politik, dass wir Versicherungen selber bearbeiten konnten.

Schulz: Im Zuge der Weiterstrukturierung gab es irgendwann ab Mitte der 2000er-Jahre die Assistenzgesellschaften, also das Thema Gründung gemeinnütziger GmbHs für verschiedene Angebote in der Stadt. In welchem Bereich bist du gewesen? In welchem Bereich hat sich dann deine Arbeit fortgesetzt und welche Funktion hat sich möglicherweise verändert?

Heinecker: Nach 17 Jahren verlieĂź ich damals die Bornheide. Ich denke, das war eine gute Entscheidung. Ich bin an sich kein Mensch, der gerne viel wechselt. Das sieht man schon daran, dass ich 40 Jahre in Alsterdorf bin. Wenn ich mich irgendwo wohlfĂĽhle, dann bleibe ich dort und in der Bornheide habe ich mich immer wohlgefĂĽhlt. Aber nach 17 Jahren war es gut, dass andere sagten: Nein, nicht mehr! Da war es gut, mitdenkende Vorgesetzte zu haben. Meine damalige Vorgesetzte hat ganz klar gesagt: Es ist gut, auch mal etwas anderes kennenzulernen und den Horizont zu erweitern. Daher habe ich ein halbes Jahr lang ein Projekt gemacht. Das war auch gut, aber es war dann auch an der Zeit, zu sagen: Nein, es ist gut, aus Osdorf-Bornheide wegzukommen.

Das habe ich dann getan und wir haben 2003/2004 angefangen, zuerst in Lurup, dann wieder in Osdorf, Beschäftigungsangebote für Menschen mit Behinderung aufzubauen, nicht so sehr in Form der WfBM [Werkstatt für Menschen mit Behinderung], sondern in Form der damals sogenannten Tagesförderung für Menschen, die schwerer behindert waren und bei denen es völlig klar war, dass sie den Stempel hatten, dass sie nie arbeitsähnliche Leistungen vollbringen und nie erwerbstätige Arbeit leisten könnten. Damals hieß es noch: Dann machen wir Beschäftigungstherapie! So war das zuallererst.

Wir haben in Osdorf mit dem Aufbau angefangen und sagten uns: nein, auch diese Menschen können verwertbare Arbeit erbringen! Wir haben uns damals – und das erfüllt mich immer noch mit Stolz – wirklich mit einigen anderen Tagesförderstättenleitungen auf den Weg gemacht und Arbeitsangebote kreiert. Damals waren wir in Hamburg sehr weit vorne. Irgendwann sind dann andere nachgezogen. Jetzt ist es inzwischen ein Standard geworden, dass für alle Menschen, egal wie schwer sie behindert sind, die Verhältnisse angepasst werden müssen, damit sie das Mindestmaß an Selbstbestimmung im Leben haben, um auch im Arbeiten das höchstmögliche Maß an Arbeitsprozessen mitzumachen, mitgestalten zu können, selbst erwerbstätig sein zu können und zu Arbeitsprozessen bis hin zu Einnahmen viel beitragen zu können. Denn wir haben gesagt – und das war damals revolutionär: wenn Jemand soviel tut, dann hat er auch ein Salär dafür verdient! Das war sozialhilferechtlich völlig umstritten und überhaupt nicht möglich, aber wir haben es einfach gemacht. Bis heute ist das nicht erlaubt und nicht möglich. Wir haben es einfach getan. Nie haben Vorgesetzte gesagt: Das dürft ihr nicht! Auch in HamburgStadt und der alsterdorf assistenz west hatte man immer in Hinterkopf: Es gehört zum Erwerbsprozess, dass man in der ein oder anderen Form Lohn bekommt. Jeder Mensch kann Lohn empfinden, z.B. als eine Belobigung. Von daher haben wir es einfach getan.

Schulz: Dann gab es die Umgestaltung von vier in zwei Assistenzgesellschaften. Hat sich während dieser Phase noch einmal etwas in deiner Funktion verändert? Und wie ist deine aktuelle Funktion?

Heinecker: Ja, ich habe damals schon viel zu tun gehabt, weil die Tagesförderstätten von der alsterdorf assistenz nord gGmbH zur alsterdorf assistenz west gGmbH kamen. Natürlich hat das noch mal viel Bewegung und eine Verstetigung gebracht. Wir haben nur umso intensiver an diesem Verschmelzungsprozess von Nord und West weitergearbeitet. Der ist nicht an mir vorbeigegangen, aber er hat in Bezug auf das, was wir machten, nicht die großen Veränderungen bewirkt. Wir fühlten uns in West gut aufgehoben, konnten vieles weitermachen und es gab einen schnellen Prozess der Verständigung darauf, dass wir gemeinsam handeln wollten. Das ist wirklich damals sehr gut gelungen, fand ich. Wir haben uns nie lange aufgehalten Dingen aufgehalten wie Ihr aus West mit eurer Sozialisation oder die in Nord mit ihrer Sozialisation. Wir hatten eine Aufgabe zu erfüllen und wollten es so gut wie möglich machen.

Schulz: Was ist jetzt, nachdem du nur noch wenige Monate arbeiten musst, aktuell deine Tätigkeit und wie verlässt du die Stiftung?

Heinecker: 2014 habe ich noch mal gewechselt. Wäre ich gefragt worden, hätte ich geantwortet, dass ich mir nie hätte vorstellen können, noch mal eine höhere Position als Leitung, nämlich als Bereichsleitung zu übernehmen. Ich bin jetzt Bereichsleiter im Bereich Eppendorf-Langenhorn mit Angeboten zum Wohnen, zum Arbeiten und im Ambulanten. Mitte 2014 habe ich damit angefangen, als Deutschland Fußballweltmeister wurde. Ab Mai 2022 werde ich dann aber auch verdienter Rentner sein.

Schulz: Vierzig Jahre Stiftung Alsterdorf!

Heinecker: Für mich war immer wichtig: Vierzig Jahre will ich auf jeden Fall schaffen! Ich bin kein Mensch, der sich groß verändert. Wie gesagt, ich habe in meinem Leben zwei Arbeitsplätze gehabt. Das eine war dieser „Frommen-Verein“. Ich bin froh, dass ich den verlassen konnte und dann eben Alsterdorf. Ich war nie so ein Wandervogel, habe meine Frau dort kennengelernt, und freue mich sehr, dass wir dort auch eine gemeinsame Zeit hatten. Sie hörte dann sehr bald schon auf und arbeitet inzwischen woanders.

Aber mein ganzes Leben ist geprägt durch Alsterdorf. Und dann kommt auch noch die Frau dazu. Im Alltag spielt das natürlich keine Rolle mehr, weil meine Frau schon dreißig Jahre weg ist. Trotzdem war es unsere gemeinsame Zeit zu Anfang und bedeutet noch mal eine engere Verbindung zur Stiftung.

Schulz: Wenn du mit deinem heutigen Erfahrungswissen noch mal die Entscheidung treffen müsstest darüber, was du beruflich machst, wäre es wieder Alsterdorf?

Heinecker: Auf jeden Fall! Wir haben vier Kinder und ein Sohn ist Sozialarbeiter. Mit dem spreche ich ganz viel darüber, um ihm mitzugeben – und das hat er, glaube ich, auch sehr verstanden: Nutz die Gelegenheiten, wenn du an wesentlichen Veränderungen teilhaben kannst. Es gibt eine tiefe Befriedigung, nicht nur einfach Anteil genommen zu haben, sondern Mitgestalter, Mitentscheider gewesen zu sein und an vorderster Front gekämpft zu haben mit allem, was dazugehört – obwohl ich mit allem immer gut zurechtgekommen bin. Es ist ein tolles Gefühl. Das würde ich immer wieder sagen, denn die Stiftung ist unglaublich beweglich! Zumindest für ein so großes Unternehmen sind wir in den Angeboten der Eingliederungshilfe unglaublich beweglich; die Konzepte passen wir schnell an und sind wirklich auch mit unserem ganzen Wollen und Wehen dabei, den Menschen mit Behinderung mit besseren Lebensformen immer näher zu kommen.

Kutzner: Vielen Dank.

Heinecker: Gern geschehen.

Schulz: Herzlichen Dank, JĂĽrgen. Alles Gute dann auch fĂĽr die Zeit nach Alsterdorf!