09 / 2001 – Interview mit Wolfram Scharenberg

Teilnehmende

Wolfram Scharenberg

Reinhard Schulz

Nico Kutzner

Transkription

Kutzner: Herzlich willkommen. Mein Name ist Nico Kutzner von 17motion. Wenn Sie sich doch bitte vorstellen könnten.

Scharenberg: Mein Name ist Wolfram Scharenberg. Ich bin 61 Jahre alt, war lange Zeit in der Stiftung Alsterdorf und freue mich, hier zu sein.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich koordiniere das Dokumentationsprojekt mit Zeitzeugen zur Entwicklung der Eingliederungshilfe in der Stiftung und bin in diesem Zusammenhang heute dabei.

Schmuhl: Mein Name ist Hans-Walter Schmuhl. Ich bin Historiker und von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf beauftragt, zusammen mit meiner Kollegin, Ulrike Winkler, eine Geschichte der Alsterdorfer Anstalten von den Anfängen bis an die Gegenwart zu schreiben. In diesem Zusammenhang bin ich sehr an Zeitzeugnissen interessiert und freue mich, dass das Interview heute zustande gekommen ist.

Kutzner: Wie haben Sie die Situation früher in der Evangelischen Stiftung wahrgenommen?

Scharenberg: Ich habe ganz große Veränderungen wahrgenommen und auch selber erlebt, als ich zum ersten Mal zum Vorstellungsgespräch nach Alsterdorf kam – das war 1992. Da bin ich die Dorothea-Kasten-Straße, die damals noch nicht so hieß, raufgegangen und musste durch eine Schranke durch, musste mich erst mal beim Pförtner anmelden – der saß in so einem Glaskasten drin, in einem gemauerten Häuschen, das war alles sehr abgeschottet und abgeschlossen – und bin dann dorthin geleitet worden, wo ich mein Vorstellungsgespräch hatte. Das hat sich natürlich total verändert heute. Ich durfte diesen Prozess dann auch zum großen Teil begleiten. Das war eine tolle Zeit!

Kutzner: Wie hat sich das Ganze verändert?

Scharenber: Nun ja, es gibt ganz einfach keine Schranken mehr. Dieses Pförtnerhäuschen – ich weiß gar nicht, was da heute so drin ist – gibt es so nicht mehr. Ich glaube, das ist sogar zurückgebaut worden und die Menschen, die früher um dieses große Areal herum rumgelaufen sind, wussten: Aha, das sind die Anstalten! Da wollte man nicht hin, nur, wenn man Jemand mal im Krankenhaus besuchte oder zu Weihnachten zum Adventsmarkt gehen wollte. Inzwischen gehen die Leute gehen ganz gerne und ständig dorthin, kaufen ein und treffen Menschen. Das ist völlig verändert, genau entgegengesetzt: abgeschottet zu offen. Das finde ich großartig!

Schulz: Sie waren von Januar 1993 bis 1998 in der Stiftung und dann wieder von 2003 bis 2010. Mögen Sie erzählen, was in diesen Zeiträumen Ihre Verantwortlichkeiten und Ihre Aufgaben waren?

Scharenberg: Also ich bin nach meinem zweiten Studium – ich habe Journalistik studiert – als Redakteur in der Öffentlichkeitsarbeit eingestellt worden. Nur noch für eine kurze Zeit danach gab es damals eine Doppelleitung. Das war die Pressesprecherin, Ursel Heise, meine Chefin, und ich war sozusagen zweiter Mann in der Pressestelle und war für die Mitarbeiterzeitschrift Umbruch zuständig, den es damals gab. Ich musste den jeden Monat fertig kriegen, musste die Pressesprecherin vertreten, wenn es eine Presseanfrage gab, wenn sie im Urlaub oder krank war, und arbeitete ganz viel mit dem Kollegen Hans-Georg Krings zusammen, der damals für Besuchergruppen zuständig war – er ist heute noch da und der einzige, der noch aus der Zeit übriggeblieben ist.

Das war meine Zeit sozusagen als Vize damals in der Pressestelle. Das war damals noch getrennt; auf der einen Seite gab es die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und auf der anderen Seite des Hauses die Abteilung Fundraising mit Herrn Lothar Schulz als Chef. Wir arbeiteten zwar zusammen, aber manchmal gab es unterschiedliche Auffassungen was die Öffentlichkeitswirksamkeit betraf. Das hat sich irgendwann geändert.

Beim zweiten Mal hatte man inzwischen diese beiden Abteilungen zu einem Bereich Kommunikation zusammengeführt und suchte dafür einen neuen Gesamtleiter. Das habe ich mitbekommen und mich dort gemeldet, ich kannte den Vorstand, Rolf Baumbach und Wolfgang Kraft, natürlich noch aus meiner ersten Zeit und hab mich dann vorgestellt. Dann hat man gesagt: Ja, wir können uns das vorstellen, du kannst wieder zurückkommen. Ich hatte viel Lust dazu und habe das gemacht. Das war eine ganz spannende Zeit, in der ich als Pressesprecher und Bereichsleiter mitarbeiten durfte.

Schmuhl: Als Sie 1993 ihr Tätigkeit aufnahmen, kamen Sie in eine sehr turbulente Zeit. Propst Rudi Mondry hatte gerade die Einrichtung verlassen und es gab eine veritable Leitungskrise. Ich kann mir vorstellen, dass für Jemanden, der in der Öffentlichkeitsarbeit zu tun hat, es nicht ganz einfach war, in eine solche unübersichtliche Situation hineinzugeraten. Wie haben Sie das damals wahrgenommen?

Scharenberg: Also ich habe das natürlich zuerst von außen gar nicht wahrgenommen. Ich wohnte damals in Braunschweig und bin dann dafür nach Hamburg gezogen. Ich hatte immer schon Kontakte zur Diakonie und Behindertenhilfe und zusammen mit meiner journalistischen Aufgabe war das ein perfekter Job. Das stand für mich erst mal im Vordergrund.

Dass es in Alsterdorf nicht einfach war, habe ich natürlich sehr schnell mitbekommen. Wichtig war für uns natürlich immer ein sehr stark berichtender und journalistischer Ansatz damals – vielleicht mehr als man das heute haben würde, da hat sich die PR inzwischen auch gewandelt zu einem Ansatz mit mehr Marketing Aspekten. Wir bemühten uns nach bestem Wissen und Gewissen, natürlich im Sinne der Leitung, wirklich möglichst transparent und offen die Mitarbeiterschaft zu informieren. Das war die große Aufgabe, die wir uns damals gestellt hatten. Dann passierten verschiedene Dinge, die wir begleiten durften und mussten, was nicht immer konfliktfrei war, aber was sehr spannend war.

Schmuhl: Wenn Sie sagen „nicht immer konfliktfrei“ gab es Anfragen und Erwartungen aus den Reihen der Mitarbeiterschaft bzw. des Vorstandes? Wie musste man damit umgehen? Musste man das irgendwie ausgleichen?

Scharenberg: Als ich kam, gab es zunächst eine Vakanz dadurch, dass Rudi Mondry nicht mehr da war. Ich habe ihn nur ein einziges Mal erlebt, viel später dann kennengelernt und ihn gar nicht mehr als Vorstandsvorsitzenden erlebt. Natürlich erzählten mir damals alle, was alles passiert war, die Schwierigkeiten und Konflikte und, dass wir eine neue Leitung bräuchten und so weiter. Als dann endlich ein neuer Vorstandvorsitz gewählt worden war, gab es natürlich auch hohe Erwartungen, dass alles besser werden sollte.

Ich erinnere mich vor allem aber auch an die Zeit in den Folgejahren, die von großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägt war. Es gab diese Vereinbarung mit der Mitarbeitervertretung, einen Fonds aufzulegen und auf Teile des Weihnachtsgeldes zu verzichten. Das war natürlich hoch diskutiert in der Mitarbeiterschaft. Ich erinnere mich wirklich auch an persönliche Gespräche und Diskussionen, in denen wir erörtert haben: Ist das gut, ist das schlecht, sollten wir das unterstützen, sollten wir das nicht unterstützen? Ich habe natürlich immer versucht, das zu vertreten. Man hängt als Öffentlichkeitsarbeit auch an der Leitung. Die Vereinbarung wurde dann auch erfolgreich umgesetzt, aber es war durchaus eine diskursive Zeit auch in der Mitarbeiterschaft.

Wenn man die Mitarbeiterzeitschrift machen muss – und es gab noch so ein anderes Zettelchen, was wir immer verschickten – ich glaube das hieß damals Alsterdorf aktuell – , muss man natürlich genau diese Themen im Auge haben.

Schulz: In den 1990er Jahren stand die Eingliederungshilfe in Deutschland unter der Überschrift Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung. Wie war das aus Ihrer Perspektive in der Stiftung? Was haben Sie davon erlebt? Gab es Selbstbestimmung für die Menschen?

Scharenberg: Ich glaube, es war ein großer Prozess im Gange. Ich sagte bereits, ich kam schon mit der Behindertenhilfe im Blut nach Alsterdorf, hab das im Zivildienst gemacht, habe hinterher ehrenamtlich noch in Braunschweig in so einer Begegnungsstätte für Behinderte und nicht Behinderte – so hieß das damals – gearbeitet und diese aufgebaut. Als ich nach Alsterdorf kam, habe ich zuerst diese Schranken gesehen und die Wohngruppen. Das gleiche habe ich mal in einer anderen Einrichtung in Süddeutschland gesehen. Da war es noch schlimmer! Da sind die Leute wirklich in Gruppen, angefasst zu zweit, wie wir früher als ABC- Schützen, durchs Dorf geführt worden. So schlimm war es natürlich in Alsterdorf nicht. Aber es war schon noch ein langer Weg hin zur Selbstbestimmung, den ich aber erlebt und auf dem ich auch ganz viele Menschen erlebt habe, die sagten: Wir müssen dahin und wir wollen auch dahin! Und ich glaube, wir sind dahin gekommen!

Schmuhl: Wie war ihr Eindruck von der Basis, also von der Mitarbeiterschaft? War das eine Kraft, die dieses neue Paradigma der Selbstbestimmung vorangetrieben hat, oder hatten sie eher den Eindruck, die Praxis läuft in den gewohnten Routinen ab und die Konzepte schweben so ein bissen darüber?

Scharenberg: Nein, ich habe da unterschiedliche Fraktionen erlebt. Alsterdorf war eine sehr große Einrichtung mit sehr vielen Wohngruppen. In meiner Erinnerung gab es eine große Fraktion, ohne dass ich die jetzt wirklich auch benennen könnte, die genau diesen Weg vorantrieb und sagte: Wir wollen etwas entwickeln! Diese Leute bildeten sich fort und setzten etwas in Gang. Dann gab es auch welche, denen alles viel zu viel war, die schon sehr lange und sicherlich auch mit ganz viel Herzblut in der Stiftung arbeiteten und die eher patriarchalische Strukturen im Blut hatten und auch weiterführten. Die ärgerten sich manchmal über die Neuen, die da waren und die die Dinge anders machen wollten, als sie vor 20 Jahren oder 30 Jahren gemacht wurden. Also es gab sehr unterschiedliche Herangehensweisen.

Immer aber habe ich eine hohe Motivation in Erinnerung. Selten habe ich erlebt, dass Jemand – solche gab es natürlich auch – einfach seinen Job machte nach dem Motto: Ach es ist mir egal, was mit den Leuten ist. Es gab aber unterschiedliche Herangehensweisen.

Schmuhl: Ich kenne das aus anderen Einrichtungen, dass es in dieser Phase der 1980er- und 1990er-Jahre einzelne Häuser oder einzelne Bereiche gab, die gleichsam die Avantgarde der Reform darstellten, die von sich aus in ihrem Bereich Dinge veränderten, ohne dass davon die Leitung unbedingt zunächst etwas mitbekam, die die Dinge einfach vorantrieben und die in der Gesamteinrichtung als Revoluzzer bekannt waren. Gab es etwas Entsprechendes vielleicht auch in Alsterdorf?

Scharenberg: Gab es sicherlich auch. Ich überlege gerade, ob es so ein paar Wohngruppen gab, die ich in Erinnerung habe – es ist lange her! Mir fällt jetzt gerade keine ein. Mir fällt vielmehr das Gegenteil dazu ein. Da wüsste ich ein paar.

Was ich aber vor allem als besonderen Aufbruch damals wahrgenommen und das immer gern begleitet habe, weil ich auch selber ursprünglich aus dem Kulturbereich komme – ich habe ja auch Theaterwissenschaften studiert am Anfang –, waren diese kulturellen Entwicklungen, also z. B. Station17. Das war wirklich ziemlich revolutionär. Damit konnte man auch in der breiteren Öffentlichkeit gute Punkte setzen, weil man so etwas kaum kannte und weil es dann auch noch den Anspruch hatte: Wir machen jetzt nicht Behindertenkunst, damit es denen auch ein bisschen gut geht, sondern wir haben wirklich den Anspruch, Kunst aus sich selbst heraus zu machen, zunächst bei Station17, dann folgend in dem Theaterprojekt – das hieß ja erst Station17-Theater und dann Meine Damen und Herren. Das waren schon tolle Sachen, die mich immer besonders begeistert haben!

Kutzner: Wie war die Stimmung früher in der Evangelischen Stiftung und wie wurden die Leute dort früher behandelt?

Scharenberg: Ganz unterschiedlich. Also es gab, ich würde mal nach meiner Erinnerung sagen, verschiedene Strömungen von Stimmung. Es gab Leute, die genervt und aufgeregt waren, weil es so viel Probleme gab – wirtschaftlicher Art und Leitungsprobleme –, die sich darüber ärgerten und schimpften. Dann gab es Leute, die ganz eng mit Menschen mit Behinderung zusammen waren, die ganz emphatisch miteinander umgingen. Es gab aber auch welche, die, wie ich schon sagte, mehr von oben herab auf die Leute zugegangen sind. Die wurden immer weniger, aber ich habe solche Leute noch erlebt. Insgesamt aber – nun guckt man natürlich immer positiv auf die Vergangenheit, das ist immer so ein Fehler, den man gerne macht –, habe ich eine sehr positive Entwicklung in Erinnerung, auch was die Stimmung betrifft, also auch so eine gewisse innere Öffnung, die ich erlebte und die wir mit vorantreiben durften. Das war schon eine gute Sache.

Schulz: 1993, als Sie einstiegen, gab es die Situation: Pastor Mondry war weg, der Vorstandsvorsitzende musste neu besetzt werden und es gab 1993 vier Vorstände, also eine Vierer-Vorstandssituation, die, wenn man genau hinschaut, relativ turbulent war. Zwei von diesen Vorständen waren nur noch zwei Jahre da und der Behindertenhilfevorstand, Dr. Scheile, war gerade frisch berufen. Welche Erinnerung haben Sie an diese Phase, die ich als Mitarbeiter eher als turbulent wahrgenommen habe?

Scharenberg: Die habe ich als Mitarbeiter genauso turbulent wahrgenommen, zumal wir als Öffentlichkeitsarbeit ziemlich nah dranhingen. Ich war Stellvertreter und musste nur ab und zu mal zu den vier Herrn, aber nicht so oft. Meine Chefin musste das häufiger, und die kam manchmal zurück und war relativ aufgeregt und aufgelöst. Das war eine turbulente Zeit. Ich kann das nicht beurteilen, das steht mir auch nicht zu – das hängt sicherlich auch immer an den handelnden Personen –, aber vielleicht war diese Vierer-Konstellation auch schwierig. Irgendwann waren es dann nur noch zwei Vorstände. Die erlebte ich dann – auch in meiner zweiten Alsterdorfer Zeit waren es nur zwei –, als viel zielorientierter.

Schmuhl: Ich stelle mir das schwierig vor in Ihrer Situation: Sie machen eine Zeitung für Mitarbeitende und haben dann diese Leitungskrise. Sie sagten es eingangs, dass sie nur mit einem gewissen journalistischen Anspruch darangegangen sind, die Dinge einfach darzustellen und zu analysieren. Da gab es natürlich, stelle ich mir vor, von Seiten des Vorstandes eher die Erwartungshaltung, die Wogen zu glätten und es nach außen hin irgendwie nicht durchdringen zu lassen, dass es starke Konflikte gab. Von Seiten der Mitarbeiterschaft gab es wahrscheinlich eher das Interesse: Was ist da los? Berichtet! Ich stelle mir vor, dass Sie sich in diesem Feld irgendwie bewegen mussten. Sehe ich das richtig oder wie erinnern Sie das?

Scharenberg: Wie gesagt, das sind Erinnerungen, die von weit herkommen. Ich habe lange nicht darüber nachgedacht. Aber ich erinnere die Situation, wie Sie gesagt haben Herr Schulz, als turbulent und es gab natürlich Konfliktsituationen mit dem Vorstand, mit einigen der Vorstände zumindest, mit manchen mehr, mit manchen weniger. Aber ich erinnere schon, dass wir es durchhielten, nicht nur die Hurra-Berichterstattung für den Vorstand zu machen. Ich machte beispielsweise auch Interviews mit Jens Strampfer als Mitarbeitervertreter, habe das auch groß gebracht und Positionen gegenübergestellt. Natürlich muss man – das war auch früher so – als Öffentlichkeitsmitarbeiter eine Grundloyalität haben. Sie können nicht den Chef völlig infrage stellen oder bloßstellen. Das fand ich damals schon ein No-Go. Das geht nicht, das ist unprofessionell. Aber eine wohlverstandene kritische Auseinandersetzung, die wurde damals in meiner Erinnerung auch hin- und wahrgenommen und war möglich. Aber vielleicht verbräme ich das auch ein bisschen.

Schulz: Sie kamen 2003 zum zweiten Teil ihrer Tätigkeit wieder und arbeiteten dann unter einem Zweier-Vorstand. Wie war für Sie die Zusammenarbeit vor allem Dingen mit Rolf Baumbach, dem Vorstandsvorsitzenden?

Scharenberg: Also das war – das ist aber, wie gesagt, immer eine Sache der persönlich handelnden Personen –, beruflich eine meiner schönsten Zeiten, die ich in Erinnerung habe. Das war eine tolle Zusammenarbeit, weil wir uns auch persönlich gut verstanden. Wir hatten schon aus dieser ersten Zeit einen guten Draht zueinander, auch wenn ich da nur in zweiter Reihe war. Ich hatte immer schon ein gutes Verhältnis zu ihm. Wir sind mal, 1993, als er gerade gewählt worden und ich ein halbes Jahr im Dienst war, zusammen nach München zum Kirchentag gefahren, haben dort einen Stand aufgebaut und betreut und abends ein, zwei, drei Bier getrunken. Das führte, seitdem duzten wir uns auch, zu einer guten Zusammenarbeit, die sich durchgezogen hat. Wir mochten uns einfach. Das ist immer gut, wenn die Chemie stimmt. Ich habe das auch schon – ich bin ja nicht mehr ganz jung – anders erlebt. Gerade als Pressesprecher hängen Sie immer direkt an Chefinnen oder Chefs. Wenn da die Chemie gut ist, dann klappt auch die Arbeit reibungslos, wenn sie ein bisschen knistert, wird’s schwierig. Das war einfach gut mit uns beiden. Klar, wir hatten auch – das ist normal – Auseinandersetzungen oder verschiedene Ansichten. Aber darüber hinaus war unser Verhältnis sehr gut. Mit Herrn Kraft hat das auch gut funktioniert, weil man den Eindruck hatte, wahrscheinlich auch aufgrund der Erfahrungen des Vierervorstands – da wird Herr Kraft sicherlich viel mehr zu sagen – : Okay, die haben das verstanden und die haben sich zusammengerauft.

Schulz: Was waren denn aus Ihrer Sicht die Erfolgsfaktoren für die erfolgreiche Zweiervorstands-Situation in dieser ganz schwierigen Phase? Es ging um wirtschaftlich große Probleme, es ging um die Sanierungsprobleme. Herr Kraft wurde Sanierungsbeauftragter in dieser Phase. Was waren aus Ihrer Perspektive die Erfolgsfaktoren dafür, dass die beiden das hingekriegt haben?

Scharenberg: Das fällt mir schwer zu beurteilen. Ich glaube, sie waren zum einen sehr unterschiedlich. Sie kamen mit ganz unterschiedlichem beruflichem Background. Sie waren auch unterschiedliche Persönlichkeiten, waren aber beide klug genug, zu sehen: Wenn wir das nicht miteinander hinkriegen, dann scheitert das Ganze. Das haben sie beide klug gesehen und erkannt. Natürlich mussten sie auch immer gegen Widerstände arbeiten. Ich erinnere mich – das habe ich immer auch sehr positiv in Erinnerung – , dass es diesen Beraterkreis des Vorstandes gab. Der hieß früher mal erweiterter Vorstand, und dann haben wir gesagt: Das ist ein schlechter Name. Vorstand sind nur die beiden. Aber wir haben uns regelmäßig mit dem Kreis getroffen und sind zusammen über ein paar Tage auf Klausurtagungen gefahren, wenn es z. B. um Budgetverhandlungen ging. Ich erinnere mich wirklich an harte Auseinandersetzungen, die mussten sich auch gegenüber uns in der zweiten Reihe ziemlich durchsetzen und oder Kritik erfahren. Das haben sie aber offenbar hingekriegt. Sie hatten, glaube ich, diese Vision der Veränderung, also wirklich das, was man heute sehen kann, den Alsterdorfer Markt. Sie hatten auch die Klugheit, Menschen in der zweiten Reihe agieren zu lassen! Gerade in der Behindertenhilfe, da brauchte es ein Know-how, das sie beide – der eine war Jurist, der andere Theologe –, nicht hatten. Sie hatten zwar eine Idee davon, konnten es aber nicht umsetzen. Ich glaube, dass sie klug genug waren, diesbezüglich die Geschäftsführung agieren zu lassen und Menschen um sich herum mit einzubeziehen. Nicht, dass sie die Gesamtleitung aus der Hand gegeben haben, aber sie konnten gut delegieren. Das war meine Wahrnehmung.

Schmuhl: Sie haben in Ihrer Arbeit oft schwierige Dinge kommunizieren müssen. Vorhin haben Sie dieses Bündnis für Investition und Beschäftigung erwähnt, was für große Unruhe in der Stiftung sorgte. Ich stelle mir vor, dass es keine einfache Aufgabe war, dies auch in der Zeitung zu kommunizieren. In den 2000er-Jahren gab es den Umbau zur Holding, also auch das war ein Riesenthema, das Sie irgendwie kommunizieren mussten. Welche Herausforderungen gab es und wie ist man damit umgegangen?

Scharenberg: Die Herausforderung war vor allem die interne Kommunikation. Das ist in vielen Unternehmen so. Gerade, wenn Sie solche Change-Prozesse haben, ist die Herausforderung die, es nach innen so zu kommunizieren, dass die Menschen nicht nur nicht in die Antihaltung gehen, sondern mitgehen. Da gab es ganz unterschiedliche Haltungen. Es war, wie gesagt das Bündnis für Investition und Beschäftigung, dann natürlich die ganzen anderen Veränderungen; gut, da konnte man sehen, dass da etwas passierte, die Umbauten am Alsterdorfer Markt und was da alles passierte vor der Eröffnung 2003 im Oktober, und danach natürlich auch noch die Holding Struktur.

Das war vorher mit Ängsten behaftet: Oh Gott, was machen die da? Die brechen die Stiftung auf, die wir schon so lange haben! Oh Gott, oh Gott, Mutter Stiftung geht kaputt und so weiter! In dieser Zeit passierte auch – und das durfte ich sehr eng begleiten – die Leitbildentwicklung. Auch hier war die Herausforderung, diese an die Menschen zu bringen, denn, ein Leitbild zu haben und das irgendwann zu drucken und in der Hand zu haben, das können Sie vergessen, in die Schublade tun und dann war’s das. Es ging darum, es zu vermitteln, in Gruppen zu gehen und Workshops zu machen usw. Da kann auch Hilke Osterwald sicherlich eine ganze Menge zu sagen; das war auch ihr Baby. Es war eine spannende Zeit, die aber auch Spaß machte. Gerade, immer dann, wenn ich mitgekriegt habe – also, ich musste das natürlich selber verinnerlichen, klar – dass es gelingen konnte, es anderen Leuten nahezubringen, dass genau die, die vorher ein bisschen ablehnend waren, anfingen, nachzudenken: Okay, an dem Punkt könnte es sein, dass Sie recht haben! Das ist dann ein schönes Gefühl.

Schulz: Als Sie 2003 in die Stiftung zurückkamen, gab es bundesweit die Überschrift Teilhabe in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung. Sie haben mit ihrem Wiedereintritt gleich die Aufgabe gehabt, einen Kongress zu organisieren, der hieß „Kulturbehindert – Menschen mit Behinderung als Subjekt und Objekt der Kunst“. Wie kamen Sie zu dieser Aufgabe? Und wie haben Sie das als Einstieg für sich erlebt?

Scharenberg: Das war großartig. Ich bin relativ kurzfristig in Alsterdorf wieder eingestiegen. Das hatte persönliche Gründe. Und dann sagten Baumbach und Kraft: „Wir machen diesen Kongress im Herbst. Mach mal! Das kannst du machen!“ Und ich habe das sehr gerne gemacht, weil ich selber aus dem Kulturbereich komme – wie gesagt, ich habe Theaterwissenschaften, studiert, hatte große Leidenschaft auch für Station17 und die Theatergruppe. Ich dachte: Das ist genau das, was mir Spaß macht, zu organisieren, weil es eben genau den Ansatz hatte, diese künstlerische Dimension nach vorne zu stellen, also Kultur per se, die da passiert, die eben auch mit Menschen mit Behinderung passiert, aber die qualitativ hochwertig ist. Es hat viel Spaß gemacht, genau das darzustellen und – da kamen Leute aus der ganzen Bundesrepublik zusammen – miteinander zu diskutieren! So etwas dann organisieren zu dürfen, war zugleich ein ziemlich großes und dickes Brett, eine Herausforderung. Es kam hinzu, dass die Aufgabe, die ich übernehmen sollte, nämlich die Bereichsleitung Kommunikation, kurzzeitig noch von einem anderen Menschen besetzt war, der auch noch vor Ort war und wir haben uns geeinigt: Okay, ich bin in dem Moment zwar Sprecher des Vorstands, aber den Rest machst du noch zu Ende bis zu deinem Ausscheiden. So hatte ich eben die Kapazität, mich in diesen Kongress voll einzubringen. Das war eine sehr anstrengende, aber auch sehr beglückende und tolle Zeit.

Schmuhl: Mich würde interessieren: Sie haben erwähnt, als Sie wieder einstiegen, liefen eigentlich schon die Vorbereitungen zu diesem Kongress und dann haben Sie das übernommen und zu Ihrer Sache gemacht. Wissen Sie noch, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass diese Idee formuliert wurde? Ich finde die faszinierend?

Scharenberg: Also das kann ich nicht ganz genau sagen. Die Idee war da, aber sie war noch sehr rudimentär. Der Kongress sollte sozusagen die Eröffnung des Alsterdorfer Marktes flankieren, die am Ende dieses Kongresses im Oktober stand, und wir wollten irgendetwas Großes dafür machen und von daher die Idee der Kultur. Solche inzwischen auch bundesweit wahrgenommenen Dinge wie Station17, Meine Damen und Herrn und, natürlich nicht zu vergessen, Die Schlumper wollten wir als Aushängeschild nach außen stellen, also die ganzen Kunstprojekte, die in der Szene bereits eine hohe Reputation hatten. Es kam hinzu, dass das ein Faible von Rolf Baumbach war, das muss man so sagen, Rolf Baumbach war Theologe und hatte ganz viel Empathie auch für diesen ganzen Bereich Behinderung. Er wollte Menschen mit Behinderung nach vorn zu bringen und dazu befähigen, ihr eigenes Leben zu führen. Aber er war auch ein Ästhet. Er hat mir einmal erzählt: Wenn ich nicht Pfarrer geworden wäre, wäre ich Architekt geworden. Das merkte man auch. Der ging einmal in der Woche mit Gummistiefeln und Helm auf die ganzen Baustellen und machte dort die Baubesprechungen mit. Ob das ein anderer theologischer Direktor gemacht hätte, weiß ich nicht. Aber er machte ganz viel. Er hatte auch überlegt, wie die Wand aussehen sollte, welchen Schreibtisch ich mir kaufen sollte und solche Sachen. Da hatte er ein großes Gespür für, und er hatte auch eine große Liebe zu diesen ganzen Kulturprojekten. Kann sein, dass es auch damit sozusagen in Gang kam.

Kutzner: Wie hat dieser Kongress die Stiftung verändert?

Scharenberg: Ob er sie verändert hat, weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass er schon sehr groß in der Stiftung wahrgenommen wurde, weil noch mal deutlich wurde, das wussten natürlich viele, aber es wurde noch mal gezeigt, was für ein Potential in der Stiftung steckte, was für tolle Künstler es gab, und was eigentlich wir in Hamburg hier in Alsterdorf richtig gut machten und dass wir vielleicht schon ein bisschen anderen Einrichtungen in Deutschland vorweg waren. Der Kongress zeigte natürlich, dass viele Menschen von außen kamen. Jede Menge Leute von was weiß ich woher, hatten sich angemeldet. Ralf Rainer Reimann aus Ulm z. B. mit seiner Truppe, ein Schauspielmensch, und von Ostberlin, von überall kamen die Leute her. Das nahm man natürlich schon wahr in der Stiftung

Kutzner: Hat sich die Stimmung dadurch auch verändert bzw. verbessert?

Scharenberg: Vielleicht ein Stückchen, klar! Ich finde, dass Musik und Kunst oft Stimmung verbessern. Wenn man sie wahrnimmt und wahrnehmen kann, dann tut es das auch. Es war eben im Zuge dieser Eröffnung des Alsterdorfer Marktes, was ohnehin ein ganz großer Aufbruch war. Man konnte, wenn man direkt in Alsterdorf gearbeitet hatte, das nicht nicht wahrnehmen. Irgendwie wurde man mitgezogen.

Schulz: Dieser Kongress Kulturbehindert stand in einer Abfolge oder in einen Zusammenhang mit den sogenannten Community-Care-Prozessen und der Kongress- und Fachtagungen. Haben Sie die damals inhaltlich auch mitbedient oder mitentwickelt oder lief das eher für Sie in delegierter Form in der Eingliederungshilfe?

Scharenberg: Das war die Eingliederungshilfe federführend und ich habe das noch mal medial begleiten dürfen. Ich erinnere eine Pressekonferenz, die wir zu Beginn mit Herrn Wersich hatten. Wir haben das Ereignis damals als Öffentlichkeitsarbeit begleitet.

Schulz: Dietrich Wersich war damals Sozialsenator in Hamburg.

Scharenberg: Ich habe mitgemacht, ich weiß gar nicht mehr, ob ich da einen Termin hatte –, aber inhaltlich stand in unseren Überlegungen die Eingliederungshilfe, damals Behindertenhilfe, im Vordergrund.

Schulz: Was mich noch interessieren würde im Zusammenhang mit diesem Kongress Kulturbehindert und auch überhaupt mit diesem ganzen Bereich Kultur und Kunst, gab es da auch transnationale Vernetzungen? Ich weiß aus anderen Einrichtungen, dass große Impulse aus dem Ausland gekommen sind. Da sagten einige: Was machen die in den Niederlanden mit Menschen mit Behinderung? Die machen Theater. Ganz toll! Das können wir auch! Also daran kann man sehen, dass Ideen importiert wurden. Gab es das in der Stiftung auch?

Scharenberg: Also ich erinnere auf jeden Fall an ein Zusammenarbeiten und an ein Miteinander: Beispielsweise Blaumeier in Bremen oder dieser aus Ulm – da gab es so einen Studiengang Schauspiel für Menschen mit Behinderungen oder so in der Akademie dort bei dem Reimann. Es gab schon Vernetzungen. Als Öffentlichkeitsarbeitschef war es nicht meine Hauptaufgabe, Kulturarbeit zu machen. Klar, ich habe das immer mit ganz viel Freude begleitet. Im Rahmen dieses Kongresses war ich vorn mit dabei. Ansonsten war ich eher in der zweiten Reihe. Aber ich durfte im Nachklang des Kongresses zu einer Tagung nach Brüssel fahren. Das war eine EU-Tagung und wo ich u.a. Ralf Rainer Reimann wiedergetroffen habe und Thomas Maier war mit dabei. Die wurden im Nachklang dieses Kongresses zu einer EU-Tagung zu diesem ganz Thema Kultur – Menschen mit Behinderung eingeladen. Da gab es, glaube ich, schon große Kontakte und Vernetzungen, aber ich war nicht mehr in vorderster Front dabei.

Schulz: Als sie 2010 die Stiftung zum zweiten Mal verließen, wie gut vorbereitet war da die Eingliederungshilfe der Stiftung mit Blick auf die Überschrift des 2000er-Jahrzehnts Inklusion und Sozialraum im Quartier? Wie war die Stiftung da aufgestellt auf einer Skala von 1 bis 10?

Scharenberg: Ich würde sie mindestens bei 8 eingliedern. Ich glaube, dass die Stiftung ziemlich weit vorne war, so habe ich das wahrgenommen. Ich bin dann von Hamburg in eine andere Stadt gegangen, wieder zu einer großen diakonischen Einrichtung, die nicht primär aber auch Behindertenhilfe gemacht hat, und konnte dann die Vergleiche ziehen. Ich dachte immer: Oh Mann, da waren wir in Hamburg, in Alsterdorf weiter! Also Alsterdorf war schon relativ weit vorne. Es gab beispielsweise auch so etwas wie die politische Initiative „Daheim statt heim“ Die durfte ich mit Alsterdorfer Mandat mit in ’s Leben rufen, wobei, in ’s Leben gerufen wurde sie von der damaligen Behindertenbeauftragten der SPD-Bundestagsfraktion, Silvia Schmidt. Die hatte ein paar Leute um sich herum geschart und hatte u. a. in Alsterdorf angerufen. Der Vorstand hatte gesagt: Mach mal! Und ich durfte das dann immer in Berlin mitbegleiten mit Klaus Dörner und solchen Leuten. Da merkte man schon, dass wir gut waren. Ich glaube die Hephata Diakonie war irgendwann noch mal mit dabei, aber ansonsten waren wir in Alsterdorf die, die ziemlich weit vorne waren was den Aufbruch von alten Anstaltsstrukturen betrifft.

Was sehr spannend war: Ich habe vor zwei Jahren in anderen Zusammenhängen Michael Conty ein bisschen näher kennenlernen dürfen. Der war damals Vorsitzender des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe (BeB) von Bethel. Wir haben uns darüber unterhalten, dass wir in Bezug auf das Thema eigentlich mal fast Gegner waren. Er hat von BeB-Seite diese politische Initiative sehr kritisch beäugt und wir als Alsterdorfer, die ja auch BeB-Mitglied waren, waren aber mit vorne dabei. Das war nicht ganz ohne.

Schulz: Wir müssen jetzt auf die Zeit schauen. Herr Kutzner?

Kutzner: Wie stehen Sie heute zu Evangelischen Stiftung Alsterdorf?

Scharenberg: Ich sag mal, ich habe für sie noch eine ganze Kanne Herzblut. Ich gucke von außen immer, was da passiert, und freue mich, wenn die Dinge gut weiter gehen. Gerne gehe ich auch hin und wieder zum Einkaufen dort vorbei.

Neulich hatte ich eine ganz berührende Situation. Da war ich vor ein paar Monaten bei Frau Ecks im Edeka-Laden und traf eine Frau mit Behinderung, die ich von früher kannte, irgendwie zwischen den Regalen. Die sagte: Mensch, wie schön, dass du wieder da bist! Du bist aber lange weggewesen! Und dann hat sie mir erst mal ihr Leben erzählt. Das war so anrührend und ich fand das großartig! Also ich werde Alsterdorf nie ganz verlassen.

Kutzner: Ein sehr schönes Schlusswort!

Schulz: Vielen Dank, dass Sie hier waren.

Kutzner: Vielen Dank.

Scharenberg: Vielen Dank, dass ich hier sein durfte.

Schulz: Alles Gute!