09 / 1988 – Interview mit Helga Treeß

Teilnehmende

Helga Treeß

Nico Kutzner

Reinhard Schulz

Transkription

Kutzner: Guten Tag, ich bin Nico Kutzner. Herzlich willkommen. Wenn Sie sich bitte vorstellen könnten.

Treeß: Das mach ich gern. Ich bin Helga Treeß und 73 Jahre alt. Von diesen 73 Jahren habe ich neunzehn Jahre in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf verbracht, war aber durchaus später der Stiftung auch weiter verbunden. Ich hatte Lehraufträge an der Heilerziehungspflegeschule und ich habe auch Q8 beraten. Wie das zusammenhängt, das wird sicherlich im Rahmen unseres Gespräches noch deutlich. Wir kommen sicher noch zu dem, was ich in der Stiftung gemacht habe. Willst du mich dazu noch befragen? [zu Herrn Kutzner gewandt, Frau Treeß glaubt, Herrn Kutzner zu kennen, und duzt ihn versehentlich.]

Kutzner (lacht): Dazu kommen wir gleich.

Schulz: Wir machen noch die Vorstellungsrunde zu Ende und ich stelle mich auch noch mal vor.

Treeß: Alles klar!

Schulz: Schulz ist mein Name. Ich bin zuständig für das Projekt „Vierzig Jahre Eingliederungshilfedokumentation dieser Zeit“ und freue mich sehr, dass Frau Treeß heute bereit ist zum Interview und als Zeitzeugin zur Verfügung steht. Vielen Dank!

Treeß: Gerne!

Kutzner: Wie war das damals, als Sie bei den Alsterdorfer Anstalten angefangen haben?

Treeß: Das war alles sehr unübersichtlich, kann ich nur sagen. Ich habe 1976 auch gar nicht in den Alsterdorfer Anstalten angefangen, sondern in einem Arbeitsbereich, der sich bewusst oder unbewusst, wahrscheinlich eher bewusst von der Alsterdorfer Geschichte etwas distanzierte. Das war das Werner Otto Institut. Ich habe in der Abteilung Physiotherapie, also Krankengymnastik als Sozialpädagogin und als Bewegungstherapeutin gearbeitet und Psychomotorik-Gruppen für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten geleitet. Diese Kinder, von denen es damals sehr viele gab, hatten die medizinische Diagnose MCD, eine minimale cerebrale Dysfunktion. Damit waren sie krank im Sinne der Krankenversicherungsverordnung. Das heißt, die Ärzte konnten die Behandlung abrechnen und das Werner Otto Institut machte für diese Kinder Frühförderung. Wenn die Kinder nicht mehr so klein waren, dann hieß das „Therapie“ und nicht mehr „Frühförderung“.

Das habe ich also gemacht und insofern bekam ich in den Jahren von 1976 bis 1980 eigentlich wenig mit von dem, was in Alsterdorf im Engeren passierte. Das hat mich auch wenig interessiert. Ich studierte nebenher Soziologie. Als ich das Studium beendet hatte, fragten mich die Eltern des integrativen Kindergartens im Werner Otto Institut, ob ich nicht mit meinen Erfahrungen – ich hatte Vorerfahrungen als Gemeinwesenarbeiterin in Stadtteilprojekten, bevor ich in ’s Werner Otto Institut kam – , in Mümmelmannsberg ein Projekt machen wollte, damit die Kinder, die in Mümmelmannsberg wohnten, und die Eltern nicht den langen Weg in ‘s Werner Otto Institut machen müssten, um eine vernünftige Therapie zu kriegen. Das habe ich dann gemacht und das war auch der Schritt – das wusste ich aber damals noch nicht –, um weiter in die Stiftung hineinzukommen.

Kutzner: Wie war die Situation damals beim Werner Otto Institut, als Sie dort angefangen haben?

Treeß: Das Werner Otto Institut wurde von Ärzten geleitet und empfand sich als relativ unabhängig von Alsterdorf. Die Situation war eigentlich immer die: Es war ein Leuchtturmprojekt in Hamburg. Es gab in der Stadt damals nur ein sozialpädiatrisches Zentrum, und zwar das Werner Otto Institut.

Werner Otto war der Stifter und finanzierte das Institut auch zum Teil, aber nach und nach musste das natürlich auf andere Füße gestellt werden, denn es wuchs und wuchs und es gab immer mehr Kinder, die dort angemeldet wurden. Viele Eltern hatten Schwierigkeiten mit ihren Kindern und bevor sie sich eingestanden, dass das nun möglicherweise auch an ihrer eigenen Lebenssituation oder an der Erziehung lag, ließen sie die Kinder als verhaltensauffällig oder hypermotorisch diagnostizieren. In vielen Fällen bekamen die Kinder dann Medikamente, aber das Werner Otto Institut gehörte zu den Instituten, die diese Medikamente weitgehend ablehnten und so etwas wie Ritalin gar nicht verschreiben mochten.

Es gab einen Kinderarzt, der sehr engagiert war und mit dem ich auch nach meinem Ausscheiden aus der Stiftung sehr eng zusammenarbeitete. Das, was das Werner Otto Institut mit Physiotherapie, mit Psychomotorik, mit Ergotherapie anbot, war sozusagen eine Alternative zu den herkömmlichen Medikamententherapien. Das war damals alles relativ neu. Insofern war das Werner Otto Institut – du fragtest nach der Situation – innovativ und fortschrittlich. Deswegen mochten sie auch damals mit Alsterdorf nicht so viel zu tun haben, weil die Stiftung in der Zeit noch nicht so fortschrittlich schien.

Schulz: Welche Bilder am Anfang Ihrer Zeit im Werner Otto Institut gibt es bezogen auf die eigentliche Anstalt? Haben Sie damals mitbekommen, wie die Menschen lebten? Gab es Eindrücke aus der damaligen Behindertenhilfe?

Treeß: Wenig, absolut wenig. Ich kann nur sagen, die Bereiche waren auch räumlich getrennt. Es gab verschiedene Eingänge. Man kam gar nicht über die jetzige Dorothea-Kasten-Straße in ’s Werner Otto Institut, sondern hinten herum. Ich habe lange Zeit gar nicht wahrgenommen, was in Alsterdorf passierte.

Schulz: Wann war es soweit, dass Sie mitkriegten, was in Alsterdorf passierte?

Treeß: Das war in einem Augenblick, als ich in Mümmelmannsberg arbeitete [Ergänzung: im Zeitraum von 1983 bis 1985).

Ich machte das Projekt „FIPS“ [Frühförderung, Integration, Prävention, Stadtteilarbeit] in Mümmelmannsberg und hatte sehr viele Kontakte mit Menschen, von denen ich glaubte, sie müssten für die Eingliederung der Kinder der Mümmelmannsberger sorgen. Es gab in der Umgebung von Mümmelmannsbeg sehr viele Sonderschulen, die betrachteten sich in der Weise, dass Kinder mit Behinderung immer auf Sonderschulen gehen sollten. Das würde auch die Existenz dieser Schulen sichern. Zu dem Zeitpunkt habe ich mich einmal mit einem Schulleiter in Mümmelmannsberg richtig überworfen, der nach diesem Grundsatz agierte und sagte: Schule funktioniert nur, wenn ich die behinderten Kinder auf die Sonderschule in der Nachbarschaft abschieben kann , also der näheren Umgebung von Mümmelmannsberg. Mit dem habe ich mich furchtbar angelegt und wurde dann zum Vorstand zitiert. Das war das erste Mal, dass ich direkt in Alsterdorf war, vorgeladen vom Vorstand, Herrn Wittern. Dort wartete ich eine halbe Stunde vergeblich vor der Tür auf Einlass in die Runde, an der auch der Schulleiter teilnahm. Ich dachte dann: Ich warte hier nicht noch eine halbe Stunde! Die sollen sehen, wie sie mich noch mal zu fassen kriegen! Ich hatte andere Termine und keine Zeit mehr! Dann bin ich wirklich aufgestanden und gegangen. Was das für einen Eindruck hinterließ, weiß ich nicht. Man hat mich jedenfalls trotzdem weiterbeschäftigt. Und das muss ja einen Grund gehabt haben. (lacht)

Kutzner: Wie ging es dann weiter?

Treeß: Es ging für mich ziemlich erfreulich weiter. Nach Ablauf des Projektes Mümmelmannsberg – inzwischen war ich diplomiert, hatte meine Diplomarbeit über das Werner Otto Institut und die Arbeit dort geschrieben, ich weiß nicht, wer das in die Hände gekriegt hat in Alsterdorf oder wer das interessant fand – nach einer erst kurzen Übergangszeit erhielt ich eine Anstellung in Alsterdorf in der Zentralen Planung. Ich glaube Frau Dr. Jürgensen hat mich damals zusammen mit Herrn Heine angesprochen, und dann bin ich zusammen mit Sigrid Jürgensen und Uwe Schiemann – wir drei waren das Gespann Zentrale Planung – in das oberste Stockwerk des neu erbauten Carl-Koops-Hauses gezogen.

Schulz: Was haben Sie denn so geplant?

Treeß: Es ging damals um Dezentralisierung und Regionalisierung. Der erste Schritt war Dezentralisierung, d. h. die Stiftung sollte entkernt werden und es sollten möglichst viele Menschen mit Behinderung in die umliegenden Stadtteile ausziehen. Regionalisierung war das, was ich dann in Schnelsen gemacht habe, nämlich die Orte, an die die Menschen ziehen würden, ein bisschen auf die neuen Nachbarn vorzubereiten, und zwar nicht so, dass sie ihnen die gebrauchten Klamotten vor die Tür warfen, sondern dass sie mitkriegten: Wir bekommen jetzt eine interessante neue Nachbarschaft und die haben einen gewissen Erfahrungshintergrund.

Es gab damals aber ganz viele Menschen, die sehr lange in Alsterdorf gelebt hatten und ein bisschen Angst vor dem Auszug hatten, und es gab viele Mitarbeiter, die argwöhnten: Das wird unseren Behinderten nicht guttun! Die sind hier [auf dem Zentralgelände] am besten aufgehoben und die böse Welt da draußen ist nichts für sie! Es gab unterschiedliche Ansichten darüber. Wir, in der Zentralen Planung, hatten die Aufgabe, das in der Praxis aufzulösen. Das hieß z.B., dass Uwe Schiemann, der ganz viele Kontakte zur Hamburger Politik bzw. zum Bauwesen hatte, die Grundstücke und die Wohnungen an Land zog. Ich hatte die Aufgabe, zu erkunden, welcher Art die Quartiere waren, wo die Wohnungen lagen und was man in der Nachbarschaft möglicherweise tun musste. [Es sollte den neuen und alten Bewohner*innen gut miteinander gehen.]

Das lief aber erst richtig an, als dieses Haus in Schnelsen an der Heidlohstraße gebaut wurde. Auf einen Schlag sollten 38 Menschen mit Behinderung aus der Anstalt dort einziehen und auch die Stiftung war darauf überhaupt nicht vorbereitet, sondern machte merkwürdige Kapriolen. Als es dann soweit war, wollte sie ihre zentrale Küche [und ihre Wäscherei für die Bewohner*innen in Schnelsen] weiter betreiben und die Leute sollten Personalausweise mit der Adresse von Alsterdorf haben. Das war alles ziemlich verkorkst.

Kutzner: Wie haben Sie die Zeit der Regionalisierung erlebt und wie war das für die Klienten?

Treeß: Ich kann nur sagen, wie es für mich war und für mich war es äußerst spannend! Ich beobachtete das alles natürlich auch mit einem soziologischen Interesse. Ich fand es vor allen Dingen ganz spannend, dass ich nach Schnelsen zur Arbeit durfte, also wieder aus der Anstalt raus und im Stadtteil arbeiten konnte. Ein Jahr, bevor die Menschen einzogen, hatte ich dort im Stadtteil schon herumgewirbelt, hatte Talkshows und Projekte in der Weiterbildung in der Evangelischen Familienbildungsstätte gemacht, hatte Familien interviewt, die für ihre mehrfach behinderten Kinder Wohnungen suchten und die nicht nach Alsterdorf gehen wollten, die froh waren, dass in der Nähe etwas gebaut wurde, die aber gar nicht vorgesehen waren, weil erst mal die Alsterdorfer ausziehen sollten. Aber durch das Projekt haben wir dann an der Stelle viel gedreht. Wir hatten die Schlumper Maler mit einer Riesenausstellung dagehabt, um den Schnelsenern zu zeigen, dass Menschen mit Behinderung auch Künstler sein können und dass alle Facetten da sind, dass ihre neuen Nachbarn nicht alle hilfsbedürftig, arm und klapprig waren, so dass man sie über die Straße geleiten müsste, sondern, dass sie jung, dynamisch und am Stadtteil interessiert waren.

In dem einen Jahr habe ich da eine Menge bewegt. Für mich war dies der interessanteste Teil meiner Tätigkeit für die Stiftung überhaupt, diese Zeit in Schnelsen. Ich habe mich ein bisschen gewundert und war auch ein bisschen traurig, dass so wenig Mitarbeiter damals Lust auf die Arbeit außerhalb der Stiftung hatten. Ich verstand damals nicht, was daran so schwierig sein sollte, mit behinderten Menschen in einem Stadtteil zu leben anstatt in einer Anstalt. Aber die Mitarbeiter waren natürlich auch gewohnt, die Anstalt um sich zu haben und nicht den Stadtteil. Die mussten auch lernen. Deswegen bot ich dann mit einer Gruppe von Leuten – da war auch Birgit Schulz schon dabei, die spätere Vorständin – interne Fortbildungen für die Arbeit im Stadtteil für Mitarbeiter*innen an. Da haben immer ca. fünfzehn bis zwanzig Mitarbeiter*innen mitgemacht, die an der Arbeit mit Menschen mit Behinderung außerhalb der Stiftung und vor allen Dingen auch an der Arbeit mit Nicht-Behinderten interessiert waren. Das heißt, das waren keine Leute, die sagten: Ich kümmere mich nur um meine Behinderten, da habe ich genug zu tun, sondern die sagten: Wenn ich wirklich Integration will, dann muss ich auch die Nicht-Behinderten angucken und das, was die eigentlich wollen, sonst fliegt mir das hier um die Ohren.

Kutzner: Inwieweit war Inklusion damals ein Thema?

Treeß: Gar nicht! Den Begriff gab es noch gar nicht. Wir haben nur von Integration gesprochen. Das war zwar nicht so besonders verschieden von Inklusion, aber wir stritten uns als Fachleute natürlich immer über Kleinigkeiten und der Begriff kam etwas später. Integration war damals das Stichwort, und das war auch genau der Anspruch, auf den ich mich bezogen habe. Ich habe immer zu den Mitarbeitern gesagt: Wenn ihr Integration haben wollt, dann müsst ihr vor allem mit den Nicht-Behinderten arbeiten. Es geht nicht, dass ihr mit den Menschen mit Behinderung durch die Straßen schleicht und so tut als seid ihr der Nabel der Welt, sondern ihr müsst die andern mit in den Blick nehmen! Die haben auch ihre Sorgen und sind nicht immer offen für das Leid anderer Menschen. Ihr müsst genau hingucken und euch schlau machen, was in eurem Stadtteil los ist, wo es da Probleme gibt und wo ihr auch helfen und unterstützen könntet.

Kutzner: Hatte das nicht funktioniert?

Treeß: Mein Anspruch war eigentlich, so viele Kollegen wie möglich mitzunehmen und zu begeistern. Ich finde, das ist mir schon ganz gut gelungen, aber nicht so gut, dass ich zufrieden gewesen wäre. Ich hatte sehr viel Energie für Schnelsen verbraucht und gebraucht, hatte auch viel von den Bewohnerinnen und Bewohnern wiederbekommen. Es gab aber immer eine größere Gruppe von KollegInnen, die nicht wollte und skeptisch blieb, und die ersten Leitungen in Schnelsen hatten richtig gut zu tun, um die Mitarbeiter trotz der Dienstpläne, trotz der schlechten Bezahlung und trotz der Unzufriedenheit mit der Arbeitgeberin Alsterdorf irgendwie für die Arbeit in Schnelsen zu begeistern, indem sie sagten: Das hier ist noch mal etwas anderes und versucht mal, die Päckchen zu Hause zu lassen und hier neu anzufangen. Das war eine ganz schwere Aufgabe!

Schulz: Das heißt, die Beharrungskräfte der totalen Institution erleben müssen.

Treeß: Ja.

Schulz: Wie war das für Sie, ein Projekt zu machen und zu versuchen, innovativ zu sein, und im Hintergrund ist so ein dicker Magnet, der die Dinge wieder zurückziehen will, bildlich gesprochen?

Treeß: Das war nicht nur erlebbar, sondern das war manchmal auch richtig schmerzhaft. Diesen Begriff der totalen Institution, den habe ich so richtig gefühlt. Manchmal habe ich gedacht: Die Mitarbeiter müssten eigentlich alle durch eine Traumatherapie, weil sie gar nicht mehr gewohnt sind, sich außerhalb ihres Privatlebens normal zu verhalten. Ich wusste gar nicht, wie ich das anstellen sollte, damit die eine vernünftige Nachbarschaft aufbauen konnten. Sie fanden gar keine Worte mit den Menschen von Nebenan. Ich war immer froh, wenn wir Veranstaltungen hatten, wo dann die Kolleg*innen auch mal merkten, dass sie willkommen waren in Schnelsen, keiner sie rausekeln, keiner Alsterdorf wegen der Wertminderung des Grundstücks nebenan verklagen wollte.

Das war alles Schnee von gestern, wir hatten das aber vor Schnelsen [in Volksdorf] erlebt. In Schnelsen waren die Leute gegenüber allen, also den Bewohner*innen des Hauses und auch dem Mitarbeiterteam gegenüber sehr aufgeschlossen. Wir hatten die Schnelsener Zivilgesellschaft richtig gut vorbereitet, ob das bei Aldi an der Kasse war, wo es ruhig länger dauern durfte, oder beim Friseur, beim Arzt und beim Sportverein. Aber die Mitarbeiter*innen mehr als die Bewohner hatten sehr große Mühe, dieses auch wirklich vertrauensvoll anzunehmen.

Schulz: Welche Menschen mit Behinderung durften damals ausziehen? Aus welchen Bereichen kamen die?

Treeß: Im Nachhinein betrachtet waren das die Menschen mit leichteren Behinderungen, wie z.B. leichten Entwicklungsverzögerungen. Wir hatten auch Menschen mit Trisonomie21 dabei – die kamen aber aus Schnelsen und Niendorf Es waren ganz unterschiedliche Leute. Ich erinnere mich, dass sie sich alle sprachlich verständigen konnten Es gab ein oder zwei Rollstuhlfahrer, auch ein späteres Ehepaar. Im Prinzip waren das Menschen wie du und ich, die in barrierefreier Umgebung und guter sozialpädagogischer Unterstützung gut über die Runden kommen würden. Also für die war das alles kein Problem, eher für die Mitarbeiter.

Kutzner: Wie sind die Menschen damals damit klargekommen, dass sie ausziehen durften?

Treeß: Das kann ich nicht so genau sagen. Die, die ausgezogen sind, haben sich zumindest getraut. Es gab auch welche, die sich nach so langer Anstaltsverwahrung nicht trauten und die lieber den Rest ihres Lebens in der Anstalt bleiben wollten, weil sie sich da sicherer fühlten. Ich glaube, das war für alle, die ausgezogen sind, ein Sprung in ’s kalte Wasser. Das war etwas Neues.

Die Erfahrungen der totalen Institution, also ganz umhüllt zu sein von dem Ablauf in einer Institution, und abhängig zu sein davon, ob Mitarbeiter zu mir nett sind oder nicht, die saßen tief drin. Das waren nicht immer nur schlechte Erfahrungen, das waren auch Erfahrungen von Sicherheit. Es gab niemanden in dieser Gruppe, der noch die Nachteile von Anstalt durch die schlimmen Vorkommnisse während der Nazizeit erlebt hatte. Das waren bis auf wenige Ausnahmen alles jüngere Menschen. Die konnten sich an so etwas gar nicht erinnern und wussten nicht, wie gefährlich es auch sein konnte, wenn Menschen an einen vermeintlich sicheren Ort weggeschlossen waren, von wo aus man sie dann massenhaft in Bussen abtransportieren konnte. Das war alles nicht präsent, insofern fühlten sich manche in der Stiftung, also in Alsterdorf auf dem Gelände, auch ganz wohl. Diese Menschen mussten sich überwinden, um in so einen Stadtteil wie Schnelsen zu ziehen. Deswegen hatte ich auch alle Mitarbeiter gebeten und sie auch dabei begleitet, vorher mit den Bewohnern Ausflüge nach Schnelsen zu machen, zu gucken, wo was war, damit sich die Bewohner fragten: Können wir uns das hier vorstellen? Das machte nachher auch Birgit Schulz mit ihren Männern in Allermöhe. Das musste einfach sein, um den Menschen eine Vorstellung zu geben angesichts von Fragen wie: Wie weit weg ist das? Komme ich überhaupt noch nach Alsterdorf, wenn ich jemanden besuchen möchte, oder ist das ganz weit draußen? Das musste alles erfahrbar gemacht werden!

Schulz: War denn damals das Schnelsener Projekt auch das Vorbild für das Stadthaus Schlump oder war es historisch anders herum?

Treeß: Vorbild glaube ich nicht. Ich glaube, dass das Stadthaus Schlump noch mal eine ganz eigene Geschichte hatte. Das war von vorneherein ganz zentral gelegen und sie hatten auch immer die Schlumper [gemeint sind die Schlumper Maler, ein Teil der Gruppe] als ein Standbein. Das Stadthaus hatte eine andere Geschichte und ich glaube, die haben sich auch nicht so einen Kopf gemacht um den Stadtteil. Sie mussten das auch nicht, weil der Stadtteil Eimsbüttel am Schlump unkomplizierter war. Da war von vorneherein eine größere Offenheit. Bei den Leuten, die nach Schnelsen, einem „Dorf am Stadtrand“ zogen, mussten mehr Mauern abgebaut werden.

Schulz: Das ganze fand in einer Phase statt, als es um das Thema Regionalisierung ging. Woran ist aus Ihrer Sicht die Regionalisierung auch ein Stück gescheitert, ich glaube das haben Sie noch mitgekriegt? Dann kam auch die problematische Sanierungssituation der Stiftung.

Treeß: Also ich bin da mit mir nicht ganz im reinen. Ich weiß es einfach nicht genau. Ich glaube – zurück konnte man nicht, es gab inzwischen die Behindertenrechtskonvention und es gab Vorschriften, wie groß eine Anstalt sein durfte und es gab auch viele Vorarbeiten planerischer Art, wie man das Gelände umgestalten, also offener machen könnte. Man hatte ein bisschen den Schwerpunkt verlegt und sagte: Wir müssen vor allen Dingen auch gucken, dass wir hier unser Anstaltsgelände zu einem Teil des Stadtteils machen [– das hieß, nicht nur dezentralisieren, sondern auch regionalisieren].

Es gab irgendwann sowohl die Regionalisierung als auch fortwährendes Ausziehen in neue Gruppen in Wohneinheiten, die extra für Gruppen in Neubaupläne integriert wurden. Das war nachher keine Frage der Quantität, sondern mehr die Frage, wo es richtig Sinn machte und man auch solche Verhältnisse hinbekam, dass die Menschen sich tatsächlich verwurzelten und nicht vereinsamten.

Also die Erfahrungen machten auch klug und führten dann zu sehr unterschiedlichen Ausformungen von Regionalisierung. Das finde ich ganz normal und gut und richtig. Also richtig gestoppt worden ist das [gemeint ist die Regionalisierung] nicht. Über Jahre gab es viele Schwierigkeiten, weil sich der Prozess ein bisschen nach innen verlagert hatte, also Organisationsentwicklung ist ein Stichwort. Aber die Finanzkrise, die Sie eben schon angedeutet haben und dieses Carl-Koops-Haus, das wie ein Klotz am Bein dastand, das war alles nicht richtig schön. Dann kamen Affären wie, dass plötzlich der Vorstand Rudi Mondry als „Abzocker“ in der Bildzeitung verunglimpft wurde. Als Mitarbeiterin hatte ich nicht immer Spaß daran, in der Stiftung tätig zu sein. Wenn man innovativ arbeiten wollte, dann war die Stiftung manchmal ein Ärgernis. Das war sehr belastend. Ich hatte damals auch das Gefühl, bald da weg zu müssen, sonst würde ich nicht weiterkommen. Das war schon so.

Kutzner: Wie haben Sie den Umbruch damals erlebt?

Treeß: Welchen Umbruch jetzt?

Kutzner: In der Evangelischen Stiftung.

Schulz: Das ist die Zeit, die sie [Frau Treeß] gerade beschrieben hat.

Treeß: Ich habe diese Zeit wirklich sozusagen an der Front erlebt, ganz weit vorne bei den Projekten und in den letzten Jahren ganz neu beim Vorstand, weil ich Leitende Mitarbeiterin wurde und man mir die Aufgabe übertragen hatte, einen integrativen Kinder- und Jugendhilfebereich aufzubauen. Damals wurde vom Hamburg Senat ein Programm zum Ausbau der Kindertagesstätten aufgelegt und Alsterdorf wollte da mitwirken Es gab schon das Werner Otto Institut mit dem integrativen Kindergarten. Wir fanden alle, dass das immer ein toller Kindergarten, ein leuchtendes Beispiel, ein Leuchtturm [für integrative Pädagogik] war. Viele fingen dann mit vielen unterschiedlichen Planungen an und prüften die Zusammenarbeit mit Firmen, also mit Esso und mit Shell. Wir eröffneten in Bargfeld-Stegen den Betriebskindergarten und machten ihn zum Kindergarten für das Dorf, allerdings mit großen Schwierigkeiten durch den Bürgermeister, der alles verhindern und keinen Pfennig Geld dazu geben wollte.

Wie gesagt, ich hatte dann die Aufgabe, diesen Kinder- und Jugendhilfebereich aufzubauen. Damit habe ich auch angefangen und fand das ganz spannend. Aber dann bekam ich ein Angebot vom Rauhen Haus. Von dort wurde mir die Leitung ihrer Kinder- und Jugendhilfeabteilung angeboten, d. h. plötzlich war ich in der Nachfolge von Johann Hinrich Wichern, Das war natürlich äußerst attraktiv.

1995 war dann mein vorläufiger Abschied von Alsterdorf. Wenn Sie mich jetzt fragen, wie ich das alles fand, sage ich: Es war eine spannende Zeit, aufregend, manchmal total ärgerlich und frustrierend. Ich hätte mir gewünscht, dass damals die leitenden Menschen mit dem, was ihre Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen so machten, sorgfältiger und, sagen wir mal, aufmerksamer umgegangen wären, weil sehr viele gute Ansätze verloren gegangen sind, nicht beachtet wurden und nicht vorangetrieben wurden. Das ist schade! Aber jetzt gibt es Q8 mit dem Ansatz von sozialräumlichem Handeln [gemeint ist der Ansatz, den Frau Treeß in Mümmelmannsberg und Schnelsen erproben konnte] Gemeinwesenarbeit ist so als Fachkonzept in der Stiftung verankert und darauf bin ich richtig stolz! (lacht).

Es freut mich, dass die Arbeit, die ich angefangen habe, zwar spät, aber Früchte trägt, obwohl es damals noch kein Mensch zur Kenntnis genommen hatte. Ich sag mir einfach immer: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben! Es ist ja noch nicht mal eine Strafe, es ist ja jetzt noch passiert. Das freut mich doch sehr!

Schulz: Wenn Sie jetzt auf die Stiftung zurückschauen mit dieser Distanz, auch bei anderen Trägern gearbeitet zu haben, was davon hat sich wirklich bewährt, was hat sich gut entwickelt und wo sagen Sie: Gut, dass das vorbei war?

Treeß: Also gut entwickelt hat sich das Bewusstsein darüber – das hat aber auch etwas mit der gesellschaftlichen Bewegung zu tun –, dass eine so große Anstalt in einer Stadt wie Hamburg auf diese Weise nicht geführt werden kann. Das haben alle gelernt, die dort tätig waren oder sind, ob der Vorstand, ob Regionalleitungen oder Mitarbeiter. Ich glaube, das ist bei allen in ’s Bewusstsein gesickert, dass das nicht geht. Das will auch keiner mehr.

Was ich kritisiere und was ich, wie gesagt, nicht schön finde, ist, dass alles so lange gedauert hat. Ich finde, es hätte alles zwanzig Jahre früher passieren können! Aber gucken Sie sich unsere Klimakrise an, da sagen Sie sich auch: Wussten wir alles schon vor dreißig Jahren, dass das so nicht geht, aber es dauert dann alles sehr lange, bis so ein großer „Tanker“, das haben wir immer gesagt, umgesteuert werden kann. Und ich finde, dass sehr viele Menschen mit sehr viel Lebenszeit und Energie daran gearbeitet haben.

Schulz: Sie auch!

Treeß: Ich auch!

Schulz: Insofern hat es Früchte getragen, wenn auch später.

Kutzner: Wenn Sie jetzt mit dem Wissen, was Sie jetzt haben, vor dem Anfang stehen würden, würden Sie sich dann wieder für die Alsterdorfer Anstalten entscheiden bzw. die Evangelische Stiftung Alsterdorf?

Treeß: Ja, ich würde allerdings nur noch in den Vorstand gehen (lacht)

Schulz: Das ist auch eine Haltung!

Kutzner: Wie stehen Sie jetzt zur Stiftung?

Treeß: Ich bin eine alte, ehemalige Mitarbeiterin, die ihre Zeit dort verbracht und ihre Erfahrung gemacht hat. Ich stehe positiv zur Stiftung und finde die Entwicklung, die sie macht, erfreulich. Ich freue mich, wenn ich Q8 beobachte. In Bad Oldesloe bin ich als Nachbarin an dem Projekt mitbeteiligt, ich mische mich nicht als Profi ein, sondern bin Nachbarin. Das, was da so läuft, finde ich alles hochinteressant und das soll ruhig alles so weitergehen!

Schulz: Schön. Die Zeit ist leider vorbei.

Kutzner: Vielen Dank!

Treeß: Gerne! Es hat mich gefreut.

Schulz: Von mir auch vielen Dank, dass Sie als Zeitzeugin bereitstanden. Herzlichen Dank noch mal! Alles Gute!

Treeß: Ihnen auch!