08 / 1999 – Interview mit Gerhard Thäsler

Teilnehmende

Gerhard Thäsler

Nico Kutzner

Reinhard Schulz

Transkription

Kutzner: Hallo, ich bin Nico Kutzner. Herzlich willkommen beim Interview hier in dieser Runde!

Thäsler: Dankeschön. Ich bin Gerhard Thäsler. Ich habe eine Zeit lang hier in der Stiftung gearbeitet. Ich habe mich sehr über die Einladung gefreut und bin gespannt auf den Verlauf.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich koordiniere das Projekt „Vierzig Jahre Eingliederungshilfeentwicklung in der Stiftung Alsterdorf“. Wir befragen Zeitzeugen und ich freue mich sehr, dass wir heute Herrn Thäsler als Zeitzeugen hier haben und ihn interviewen dürfen.

Kutzner: Wie war das damals fĂĽr Sie, als Sie angefangen haben?

Thäsler: Da war ich gerade mal 19 Jahre alt. Ich kam als Zivildienstleistender in die Stiftung. Die Arbeit war ganz neu, weil ich mit Menschen mit Behinderung bis dahin noch gar nichts zu tun gehabt hatte. Ich war sehr aufgeregt.

Schulz: Können Sie sagen, in welchem Jahr das war?

Thäsler: 1984.

Kutzner: Wie war das fĂĽr Sie ohne Erfahrung und ohne Vorkenntnisse?

Thäsler: Wie gesagt, es war aufregend, aber ich wurde ordentlich an die Hand genommen. Es waren überwiegend Kolleginnen, die mich in die Arbeit eingewiesen haben. Ich hatte die Gelegenheit, die Kinder aus Haus Bethlehem kennenzulernen – wo früher das Kinder- und Jugendhaus war, ist heute ein Parkplatz, wenn ich mich richtig erinnere. Als Zivildienstleistender hatte ich natürlich die Möglichkeit, erst mal mitzulaufen, alles kennenzulernen, mich herumführen zu lassen, und auch ein bisschen alleine durch die Stiftung, durch das Gelände zu stromern und alles auch von mir aus kennenzulernen.

Kutzner: Was fĂĽr einen Eindruck haben Sie in Erinnerung?

Thäsler: Das ist überformt durch die vielen Jahre, die ich tatsächlich in der Stiftung war. Vieles von dem, was damals so Usus war, würde man heute nicht mehr machen.

Eine Erinnerung kommt mir gerade. Es gab heftige Auseinandersetzungen im damaligen Team und ich verstand überhaupt nicht, was da los war. Später, als ich weiter in das ganze Geschehen hineinkam, wurde mir der Streit zwischen der alten Pflege, der verwahrenden Pflege und der neuen modernen Pädagogik bewusst. Ich bin als Neuer in diese Auseinandersetzungen hineingeraten. Kurz vorher gab es einen Artikel im Spiegel über die Zustände in den Alsterdorfer Anstalten, über den Wachsaal und solcherlei Dinge. Das war im weiteren Sinne mit der Pflege verbunden. Die Pädagogen, die damals in die Anstalt kamen, versuchten, die Situation aufzubrechen und aufzulösen. Diese Auseinandersetzung, die damals geführt wurde, verstand ich als Neunzehnjähriger erst mal nicht. Damals haben die Pädagogen „gewonnen“. Die Pflege wurde zunehmend rausgedrängt und die Aufgaben mussten von den Pädagogen mit übernommen werden, wie z.B. auch mal eine Magensonde zu legen oder Medikamente zu stellen und zu geben. Das würde man heute um keinen Preis mehr tun. Wir waren keine Pflegekräfte und bekamen von einer Lehrschwester gezeigt, wie das Ganze funktioniert, und haben das aneinander ausprobiert. Ich als Zivildienstleistender weigerte mich, das zu tun, aber die anderen mussten da schon beigehen.

Kutzner: Wie sind Sie mit dieser Situation damals umgegangen?

Thäsler: Wie gesagt, ich war Zivildienstleistender, ich konnte mich da weitgehend rausziehen nach dem Motto Macht ihr mal! Ich habe mich mit den Kindern, mit den Jugendlichen beschäftigt, und versuchte, eine angenehme Situation herbeizuführen. Ich habe damals Musik gemacht – das mache ich heute noch – oder waren draußen im Park oder mit dem Wagen unterwegs. Wir waren dabei, es uns mit den Kindern zusammen schön zu machen.

Kutzner: Also hatten Sie auch den Anreiz, etwas an der Situation, die nicht so schön war, zu verändern?

Thäsler: In der Zeit mit 19 vielleicht 20 Jahren habe ich erst mal nicht weitergedacht. Ich rechnete auch nicht damit, dass ich über zwanzig Jahre in der Stiftung bleiben würde.

Schulz: Wie war denn Ihr weiterer beruflicher Weg in der Stiftung? Können Sie diese 20 Jahre mal skizzieren?

Thäsler: Nach dem Zivildienst, damals noch 24 Monate, also zwei volle Jahre, habe ich angefangen, zu studieren. Im Studium bin ich ein paar Umwege gegangen, habe dann Erziehungswissenschaft studiert und tatsächlich in der ganzen Zeit meines Studiums als ATE gearbeitet, das heißt als Angestellter in der Tätigkeit eines Erziehers. Ohne Ausbildung! Ich habe in verschiedenen Gruppen gearbeitet. Nach der Bethlehem-Zeit, das waren diese zwei Jahre, habe ich eine ganze Weile im Wilfried-Borck-Haus mit jungen Erwachsenen und daher mit anderen Themen gearbeitet. In der Nachwache habe ich auch gearbeitet, überwiegend an den Wochenenden, weil ich tagsüber studierte. Ich musste irgendwie alles unter einen Hut bringen. Danach habe ich wieder eine ganze Weile in Haus Bethlehem gearbeitet. Da war Not am Mann. Das Team war komplett ausgetauscht worden und es wurde händeringend Jemand gesucht, der sich mit den Kindern und Jugendlichen auskennt. Da wurde ich angesprochen und bin ging wieder zurück. Das war noch mal eine richtig gute Zeit!

Kutzner: Wie war die Situation in der Nachtwache? Können Sie sich daran zurückerinnern?

Thäsler: Das waren lange Nächte! Es war eine Herausforderung, diese Nächte durchzuhalten. Anfangs in der Nacht war zunächst noch immer einiges zu tun, bis die Nachtwachen-Situation eintrat. Dann hieß es durchhalten bis morgens um sechs, bis der Frühdienst kam. Anfangs habe ich immer noch gelesen, also studiert, dann habe ich irgendwann mal den Fernseher angeschaltet, das war aber noch zu einer Zeit, da hat es ab 00.00 Uhr das Testbild gegeben.

Schulz: Heute nicht mehr vorstellbar.

Thäsler: Es gab die Programme 1, 2 und 3. Die Zeit zwischen 00.00 Uhr bis 06.00 Uhr morgens war eine bitterharte Zeit! Ich bin sogar manchmal kalt duschen gegangen, um wach zu bleiben.

Schulz: Dann wurden Sie als Erziehungswissenschaftler weiterbeschäftigt oder wie ging es dann weiter?

Thäsler: Das Studium hat sich hinausgezögert. Ich hatte eine halbe Stelle, habe auch mal eine Gruppenleitung als Krankheitsvertretung in der Zeit gemacht und schloss dann mein Studium ab.

Es gab die Qualitätsbeauftragten in der Stiftung – damals eine ganz neue Funktion. Aus der Erinnerung heraus würde ich eher Klientenbeauftragte als Qualitätsbeauftragte sagen, dennes hatte noch relativ wenig mit strukturierten Abläufen, mit einem Qualitätsmanagement zu tun. Das waren frühe Ansätze, den Wünschen und den Bedürfnissen der Bewohner und Bewohnerinnen mehr Geltung zu verschaffen durch Standards wie zum Beispiel: Jeder soll einmal am Tag die Gelegenheit haben, vor die Tür zu kommen. Es wurden tagesstrukturierende Angebote eingerichtet, so dass Jeder und Jede, die nicht in der Schule oder in der Werkstatt, sondern den Tag zu Hause verbrachte, noch ein weiteres Angebot bekam. Daran haben wir dann in der Zeit als Qualitätsbeauftragte gearbeitet.

Kutzner: Wie sind die Klienten und Klientinnen mit der neuen Situation, mit mehr Freiheit umgegangen?

Thäsler: Das war ganz unterschiedlich. Ich glaube, viele haben das gar nicht so bewusst wahrgenommen, was da passierte. Aber es gab einige Stimmen dazu. Ich erinnere mich z. B. an eine ältere Dame, die sagte: Ich will nie wieder stricken! Nie wieder! Die hatte ihr Leben lang tatsächlich Schals gestrickt! Sie öffnete dann eine Kommode mit Deckelklappe, die voller Schals war und zwar nur mit Wollresten gestrickt! Nicht einer davon sah schön aus! Ich sagte zu ihr: Sie werden nie wieder stricken, wenn Sie nicht stricken wollen. Es gab also schon die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren. Ein Herr war sehr interessiert an klassischer Musik und wir haben ihm tatsächlich wieder einen Besuch der Philharmonie ermöglicht. Das war wirklich eine feine Sache.

Ich erinnere mich an Umzüge vom Stiftungsgelände hin zu offeneren Wohnformen, die es schon zu der Zeit vielfach gab. Es gab eine Menge Impulse, natürlich auch eine Menge Auseinandersetzungen mit den Kollegen und Kolleginnen in den Gruppen vor Ort. Die Zeit war hochdynamisch und durch viele Auseinandersetzungen geprägt.

Ich habe diese Arbeit ungefähr zweieinhalb Jahre gemacht und in der Zeit war zu erkennen, dass das neue zunehmend auch akzeptiert wurde.

Schulz: Das war eine Phase Mitte der 1990er-Jahre, die Sie gerade beschreiben, in der Sanierungssituation der Stiftung. Wirtschaftlich war die Stiftung pleite. Es gab einen Sanierungsvorstand, Wolfgang Kraft, und es gab verschiedene Ansätze, die Sanierung so erfolgreich zu machen wie sie am Ende war. Welche Erinnerungen haben Sie an die Auseinandersetzungen, die es damals innerbetrieblich gab, Stichwort Sanierungsvereinbarung, Stichwort BIMO-Prozesse, also Binnenmodernisierungsprozesse?

Thäsler: Dazu bin ich aktiv hinzugerufen worden zu der Zeit. Das war 1999?

Schulz: 1995 oder 1996.

Thäsler: Das schloss genau an die Zeit an, in der ich als Qualitätsbeauftragter beschäftigt war. Wir haben diese Auseinandersetzungen natürlich alle intensiv erlebt und mitverfolgt. Also damit [mit dem Sanierungsprozess] waren unglaublich viele Ängste verbunden und die Frage: Verlieren wir unsere Arbeitsplätze? Es gab Initiativen, da kam noch ein Herr von außerhalb, ich glaube von der damaligen Sozialbehörde – erinnern Sie sich daran? –

Schulz: Ja, der hieß Ulrich Koch. –

Thäsler: Herr Koch war das. Der wurde in unser Team der Qualitätsbeauftragten eingeladen und stellte uns seine Gedanken über die Zukunft der Behindertenhilfe vor. Das klang schon sehr kalt in Bezug auf die Betreuung, das klang nach hochgradiger Abgrenzung, der persönlichen Abgrenzung auch zu den Menschen mit Behinderung, die wir wirklich mit Freude betreuten. Wir fühlten uns sehr unwohl mit dem, was da von uns erwartet wurde.

Auch bei der Restrukturierung der Gruppen zu Wohnverbünden wurde die Bezugseinheit größer. Es wurde meiner Erinnerung nach von uns erwartet, dass wir uns stiftungsweit einsetzen ließen. Ich weiß nicht, ob das wirklich so war. Das waren tatsächlich die Dinge, die uns die Arbeit unwohl erscheinen ließen.

Schulz: Wie sind Ihre Erinnerungen an diese Strukturveränderungen 1995, als entschieden wurde, dass es nicht mehr die vier Regionen West, Nord, Ost und Schleswig-Holstein geben sollte, sondern nur noch drei große Wohnbereiche, nämlich AlsterDorf, HamburgStadt und HamburgUmland? Erinnern Sie sich an diese?

Thäsler: Ja, das war noch das BSHG §93. Da war ich übrigens noch in der Stiftung als Referent unterwegs, habe das dann auch immer wieder in verschiedene Gruppen gebracht.

Schulz: BSHG heiĂźt Bundessozialhilfegesetz Paragraph 93, Betreuungsrecht.

Thäsler: Genau. Betreuungsrecht. Damals gab es die Finanzierungsvereinbarung und die Entgeltvereinbarung. Gab es noch eine dritte? Ich weiß das gar nicht mehr? Erinnern Sie sich?

Schulz: Strukturvereinbarung –

Thäsler: Strukturvereinbarung, richtig. Diese Veränderung in der Bundessozialhilfegesetzgebung hat damals letztendlich sehr viel ausgelöst. Die Pflegesätze wurden gedeckelt. Bis dahin konnten die Stiftung und alle anderen Einrichtungen bundesweit Geld ausgeben und erhielten, wenn sie es gut erklärten, im Nachtragshaushalt eine Ergänzung im Budget. Und das wurde auf einmal gedeckelt.

Kutzner: Hatten Sie in dieser Zeit auch Ziele und Anreize, etwas verbessern zu wollen?

Thäsler: Ja, aber auch da gab es Auseinandersetzungen unter den Mitarbeitenden: Wir machen da nicht mit! Wir gucken, dass wir uns vielleicht anderweitig umschauen! Es gab viele Kollegen, die z.B. zur Behörde gingen und dort Casemanagement angefangen haben, also die Perspektive gewechselt haben.

Für mich war immer die Frage: Was können wir aus dieser Situation machen? Können wir Ideen daraus entwickeln? Es ging für uns als Angestellte darum, einerseits die Arbeitssituation zu gestalten, andererseits ging auch immer um die Frage: Wie leben die Menschen, die hier betreut werden, die hier ihr Zuhause haben? Es war ein ganz starker Anreiz, daran zu arbeiten, dass diese Veränderungen, die uns allen noch sehr, sehr vage erschienen, so zu bearbeiten, dass für alle Beteiligten eine zufriedenstellende Situation herbeigeführt werden konnte. Der Anreiz war, Arbeitssituation und Wohnsituation und die Betreuungssituation unter den gegebenen Umständen, die wie gesagt noch sehr unklar waren, möglichst zu erhalten und nicht schlechter werden zu lassen.

Schulz: Wie haben Sie, bevor es den BIMO-Prozess gab, das Bündnis für Investition und Beschäftigung erlebt, als es zustande kam, denn das ging mit Gehaltsverzicht einher?

Thäsler: Das Bündnis für Investition und Beschäftigung wurde auch intensiv in diesem Qualitätsbeauftragten-Team diskutiert. Herr Rückoldt, der heute leider nicht dabei ist, hat sich in der Zeit in diesem Team sehr stark engagiert. Das war in der ehemaligen Küche [gemeint ist die Alte Küche am Alsterdorfer Markt] Über die Informationen, die über Herrn Rückoldt kamen, gab es immer wieder ein Update in Bezug auf die laufenden Diskussionen. Das war die Zeit, als er mich dann fragte, ob ich mit ihm in die Binnenmodernisierung einsteigen würde.

Schulz: Die ist teilweise etwas holprig, teilweise ganz erfolgreich gelaufen, weil es eine paritätisch besetzte Kommission gab, die dafür sorgte, dass die Investitionsmittel, die über Gehaltsverzicht generiert wurden, dann auch für Investitionsvorhaben in der Stiftung eingesetzt wurden. Was erinnern Sie aus diesen Zusammenhängen?

Thäsler: Das war die Zeit, als ich erstmals in die Organisationsentwicklung einstieg. Ich war also gewissermaßen noch nagelneu in dem Geschäft Organisationsentwicklung. Das war ungefähr so wie in der Zeit, als ich in Alsterdorf anfing. Es war unendlich viel Neues, Aufregendes und auch sehr viel Befremdliches dabei.

Kutzner: Konnten Sie noch vorherige Erfahrungen mitnehmen?

Thäsler: Ich kannte natürlich die Stiftung gut, ich kannte viele Personen, mit denen ich dann auch später immer wieder im Gespräch war. Ich konnte auch recht viel aus dem Studium mitnehmen, ich hatte viel moderiert zu der Zeit, so dass ich bestimmte Dinge auch in diese neue Funktion als BIMO-Beauftragter mitbrachte. Es gab Leute, die nannten uns „BIMO-Boys“, es gab Leute, die nannten uns „Modernisatoren“ – das hörte ich nicht so gern –, aber das zeigte genau die Spannbreite der Erwartungen, die an uns gerichtet waren.

Wir waren eine Stabstelle und wurden entsprechend sichtbar. An uns spiegelte sich die Spannung mit Fragen wie: Was ist eigentlich mit der Binnenmodernisierung? Was ist mit dem Stagnieren der Löhne und Gehälter? Wo geht das hin? Es gab am Anfang ein hohes Maß an Misstrauen und zwar sowohl von Leitungsseite gegenüber der Belegschaft und gegenüber der Mitarbeitervertretung und es gab sehr starke Vorbehalte seitens der Belegschaft und der Mitarbeitervertretung gegenüber Leitung. Das war ganz tief verankert. Ein Teil unserer Aufgabe bestand im Grunde genommen darin, den Kontakt zwischen den Gruppen immer wieder herzustellen, in den Lenkungsgruppen, in den Steuerungsgruppen, in den direkten kleineren Gesprächen und Kontakten. Das gehörte ganz wesentlich zu unserer Arbeit. Wir waren Mittler zwischen diesen beiden Seiten und haben ordentlich etwas abgekriegt Wie kann das sein? Das kann doch alles gar nicht angehen! Die wollen doch nur…! Da ging es schon sehr stark zur Sache!

Schulz: Das war Ihre Anfangszeit, Organisationsentwicklung zu betreiben. Sie haben dann noch in der Stiftung – jedenfalls aus Ihren Unterlagen geht das so hervor – den sogenannten EFQM-Prozess begleitet. Mögen Sie erzählen, was hinter dieser Abkürzung steckt EFQM?

Thäsler: Das ist die Europäische Stiftung für Qualitätsmanagement. Das hatte natürlich einen Vorlauf. Die BIMO, die Binnenmodernisierung war im Sinne der wirtschaftlichen Sanierung soweit abgeschlossen. Aber es war so viel ausgelöst und eingeleitet worden: Wir haben über andere Arbeitszeitmodelle nachgedacht, wir haben über andere Entlohnungsmodelle nachgedacht und dazu aufwendige Arbeitsgruppen realisiert, wir haben fachliche Konzepte anders und neu gedacht! Es waren neue Wohnformen, Gebäude entstanden, alte Gebäude wurden abgerissen, wirklich aufwendig! Der Alsterdorfer Markt wurde neu organisiert, neu aufgebaut. Der Zaun kam weg. Also im Äußeren wie im Inneren gab es viele Veränderungen, die in irgendeiner Form aufgegriffen und weitergeführt werden mussten. Es war auch deutlich, dass es noch recht wenig Struktur in all dem gab. Während der Binnenmodernisierung hatten wir Projektstandards entwickelt: Wie kann man ein größeres oder auch kleineres Projekt auf solide Beine stellen, dass es entsprechend auch mit einer höheren Umsetzungswahrscheinlichkeit in die Welt kommt und nicht, wie es damals so hieß, in der Schublade verschwand? Diese Standards sollten fortgeführt werden, das war das eine. Das ging in Richtung, Qualitätsmanagement-Prozesse, Abläufe gestalten, und Standards dafür zu hinterlegen.

Und das andere war die Kohäsion, der Zusammenhalt der Stiftung. Die Stiftung hatte, das hatten Sie eben schon angesprochen, Herr Schulz, drei Geschäftsbereiche. Dazu hatten wir noch die Werkstätten, ein Therapiezentrum, die Kliniken und im Grunde eine Vielzahl von mehr oder weniger eigenständigen Organisationen unter dem Dach der Stiftung. Das EFQM-Modell sollte ein Versuch sein, über eine gemeinsame Strategie, über gemeinsame Ziele unter Beibehaltung möglichst hoher Autonomieanteile der Einheiten, z.B. alsterarbeit usw. zu realisieren. Das EFQM-Modell ist im Grunde ein Steuerungsmodell, das in der Lage ist, genau das zu tun.

In dem Zusammenhang hat Herr Baumbach uns, Herrn Rückoldt und mich, gefragt, ob wir uns die Mitarbeit vorstellen könnten. Daraufhin sind wir zu dritt gemeinsam nach Berlin gefahren und haben uns in einer großen Klinik in Berlin angeschaut, wie das Modell dort realisiert wurde, führten Interviews und bekamen eine Einweisung in das Modell. Im Grunde dachten wir schon auf der Rückfahrt: Das war so inspirierend! Das könnte etwas sein! Damit könnte man gut arbeiten! Als dann die Entscheidung fiel, war ich nicht dabei. Die fiel, vermute ich mal, zwischen Herrn Baumbach und Herrn Kraft und den damaligen Bereichsleitungen. Später, nachdem die Entscheidung getroffen worden war, wurde ich, wie gesagt, mit Herrn Rückoldt zusammen dazu gerufen.

Schulz: Sie haben diesen EFQM-Prozess noch ganz intensiv begleitet, dann kam aber irgendwann Ihr Ausstieg. Mögen Sie das zum Schluss noch erzählen?

Thäsler: Der Ausstieg war ganz einfach dadurch bedingt, dass ich in der Zeit Vater wurde. Es war klar, dass ich nicht mehr in Hamburg würde bleiben können, weil die Mutter im Rheinland lebte und dort auch gut verankert war. Insofern war die Entscheidung, dass ich gehen würde, klar.

Schulz. Wenn Sie jetzt nach fast zwanzig Jahren, die Sie nicht in der Stiftung waren, wieder auf die Stiftung blicken, wie hat sich diese aus Ihrer Perspektive weiterentwickelt?

Thäsler: Ich glaube, ich sollte anders einsetzten. Ich bin ja immer noch in diesem Feld tätig. Ich arbeite immer noch für Einrichtungen, für Verbände, wo Menschen mit Behinderungen betreut und unterstützt werden. Beim Erstkontakt gibt es immer eine Vorstellung, so wie wir uns eingangs eben kurz vorgestellt haben [zu Herrn Kutzner] Wie heiße ich. Was habe ich in der Vergangenheit gemacht. Dabei kommt natürlich auch immer die Stiftung zur Sprache. Und ich erfahre dann sehr oft von den Kunden: Ah, die Stiftung, die seither den Nimbus hat innovativ zu sein, neue Wege zu beschreiten und andere Einrichtungen und Verbände im Grunde genommen auch unter Zugzwang genommen hat, mitzumischen und sich auch selber weiterzuentwickeln. Also dies erfahre ich bis heute immer wieder aufs Neue, auch dieses Jahr schon wieder.

Schulz: Das ist eine schöne Entwicklung, eine schöne Betrachtung von außen, die Ihnen dann wahrscheinlich auch in Ihrer Arbeit hilft.

Thäsler. Ich freue mich natürlich darüber und bin auch ein bisschen stolz darauf, angesichts der Auseinandersetzungen und allen Stresses, den wir hatten. Ich habe immer gedacht: Mein Gehalt ist zum Teil auch Bauchweh-Zulage wegen dieser ganzen Auseinandersetzungen, aber rückblickend haben wir wirklich viel erreicht und viel geschafft. Wir haben den Blick auf die Arbeit in der Behindertenhilfe grundlegend mitverändert und wir haben mit den baulichen Veränderungen die Lebensqualität und die Betreuungsqualität wesentlich verbessern können. Wir haben im Bereich Arbeit und Beschäftigung die Angebote deutlich diversifizieren können, also wenn ich jetzt an die Bäckerei und an das Hotel denke, die da damals entstanden, dann sind das Arbeitsplätze, die bis dahin nicht denkbar waren. Insofern kann man das mit einer positiven Bilanz sehen, wenn auch viele Dinge darin waren, die uns im Grunde bis heute noch verfolgen. Die Absenkung der Tarife werden wir nie wieder einholen können. Das ist für immer verloren. Wir sehen das jetzt gerade in der aktuellen Diskussion zu Corona. Die Pflege [wie die gesamte soziale Arbeit] wird wirtschaftlich finanziell nicht so gewürdigt, wie es hätte sein müssen. Das wäre unter BAT-Voraussetzungen tatsächlich anders.

Schulz: Die Zeit ist jetzt leider vorbei. Herr Kutzner, haben Sie noch eine Frage?

Kutzner: Eine Abschlussfrage hätte ich noch. Wenn Sie mit Ihrem Kenntnisstand jetzt noch mal die Entscheidung treffen müssten, anzufangen, würden Sie sich dann wieder für die Evangelische Stiftung Alsterdorf entscheiden?

Thäsler: Ganz klar. Völlig ohne Frage!

Schulz: Schön!

Kutzner: Vielen Dank!

Thäsler: Gern geschehen. Das hat mir viel Freude bereitet.

Schulz: Von meiner Seite auch herzlichen Dank, Herr Thäsler, dass Sie bereit waren, davon zu erzählen. Es war sehr lebhaft und sehr spannend, wie ich finde. Alles Gute!