07 / 1996 – Interview mit Dr. Rembert Vaerst

Teilnehmende

Rembert Vaerst

Nico Kutzner

Reinhard Schulz

Hans-Walter Schmuhl

Interview

Kutzner: Guten Tag, ich bin Nico Kutzner und ich begrĂŒĂŸe Sie hier im Studio von 17motion.

Vaerst: Einen wunderschönen guten Morgen. Mein Name ist Rembert Vaerst und ich freue mich auf den Austausch zur Geschichte der Evangelischen StiftungAlsterdorf.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich leite das Projekt „Dokumentation der Entwicklung der Eingliederungshilfe in der Stiftung der letzten vier Jahrzehnte“ und freue mich, dabei zu sein.

Schmuhl: Hans-Walter Schmuhl. Ich bin Historiker und bin beauftragt zusammen mit meiner Kollegin Ulrike Winkler, eine Geschichte der Evangelischen Stiftung Alsterdorf von den AnfÀngen bis in die Gegenwart hinein zu schreiben.

Kutzner: Wie stehen Sie zu der Evangelischen StiftungAlsterdorf?

Vaerst: Ich war Ende der 1990er-Jahre vier Jahre lang Mitarbeiter und kaufmĂ€nnischer Leiter in der EvangelischenStiftungAlsterdorf. Das war eine Zeit, die mich beruflich und persönlich extrem geprĂ€gt und mir auch gezeigt hat, wo ich große StĂ€rken habe, die mir dann in meinem spĂ€teren Berufsleben sehr geholfen haben.

Schmuhl: Ich habe schon erfahren, dass Sie aus der Privatwirtschaft herĂŒbergekommen sind. Sie haben, glaube ich, vorher bei der Firma Siemens gearbeitet.

Vaerst: Philips.

Schmuhl: Philips, ja. Es wĂŒrde mich interessieren, wie es dazu gekommen ist, dass Sie bei der Evangelischen Stiftung Alsterdorf gelandet sind.

Vaerst: Meine Antwort auf die Frage ist: Das waren die ZufÀlle des Lebens. Es war keine gezielte Aktion. Ich bin 1995 bei der Firma Philips ausgeschieden und suchte nach einer neuen beruflichen Aufgabenstellung. Die uns Begleitenden, also die den Vorstand der Evangelischen StiftungAlsterdorf begleitenden Berater und mein Berater, kannten sich und haben uns zusammengebracht. Daraus hat sich dann in einem dreimonatigen schrittweisen Prozess ein beruflicher Neuanfang in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf ergeben.

Schmuhl: Sie kamen doch aus einem ganz anderen Bereich. Wie fanden Sie das Leitungsklima, die Leitungsstrukturen? Was fiel Ihnen auf, als Sie Ihren Dienst aufnahmen?

Vaerst: Mein Eindruck heute ist: Es war meine große Chance, dass ich so anders war als das gesamte Umfeld. Ich kam von außen, hatte ĂŒberhaupt keine Kenntnisse ĂŒber die Strukturen oder das Leitungsklima. Ich kam aber auch von einem Großkonzern, der durch schwerere Reorganisationsprozesse gelaufen war – die Elektroindustrie war damals sehr stark durch die Internationalisierung und den Abbau von ArbeitsplĂ€tzen in Deutschland geprĂ€gt worden, – insofern war mir die Frage der Reorganisation und NeueinfĂŒhrung von Strukturen schon bekannt. Aber dies in der Verbindung mit dem sozialen Auftrag eines Sozialunternehmens, das hier auch noch einen kirchlichen Hintergrund hatte, das war völlig neu. Und was sicherlich ganz wesentlich prĂ€gend war: Die EvangelischeStiftungAlsterdorf war im Umbruch von einer zentralen FĂŒhrungsstruktur in eine dezentrale FĂŒhrungsstruktur. Das war damals betriebswirtschaftlich, aber auch fĂŒhrungstechnisch der wesentliche Schritt. Und das war auf eine Vision hin, die ich auch von Philips kannte. Auch der Konzern ist durch die Internationalisierung Schritte gegangen. Insofern gab es da wieder Parallelen. Aber natĂŒrlich ging das alles sehr viel sachlicher und sachorientierter zu als in einem Unternehmen wie der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, die dabei noch den sozialen Auftrag hatte.

Kutzner: Wie haben Sie den Umbruch der Evangelischen Stiftung Alsterdorf erlebt?

Vaerst: Ich habe es so erlebt, dass die FĂŒhrungskrĂ€fte stark angegriffen wurden und von daher unter unheimlichem Druck standen. Sie standen aber sowieso unter Druck, weil ĂŒber die BeschrĂ€nkung der finanziellen Mittel der wirtschaftliche Druck da war. Es war im Rahmen des Sanierungsprozesses durch die Sanierungspartner sehr klar gesagt worden: Die 52 Millionen D-Mark gibt es fĂŒr die Neuorganisation und mehr nicht! Dann ist Schluss! Und die Banken haben damals auch ganz klar gesagt: Wir lassen keine weiteren Kredite zu. In diesem Spannungsfeld standen die FĂŒhrungskrĂ€fte und meine Aufgabe war, da ein StĂŒck betriebswirtschaftliche Sachlichkeit und Ruhe in die AtmosphĂ€re hineinzubringen.

Schulz: Sie kamen 1996 in die Stiftung, in der Phase der Sanierung – davon sprachen Sie gerade. Was an Ihrer Arbeit in der Stiftung war Ihnen aus Ihrem bisherigen beruflichen Tun vertraut? Wo haben Sie Fremdes erlebt?

Vaerst: Was hervorragend ausgeprĂ€gt war, war das kaufmĂ€nnische Buchhaltungssystem der normalen Finanzbuchhaltung, zumindest zur Erstellung der JahresabschlĂŒsse – das war bei Philips Ă€hnlich gewesen –, sodass man wenigstens eine Basis hatte, auf der man finanztechnisch aufsetzen konnte, die zuverlĂ€ssig war und die auch auf die Struktur passte. Das war mit sehr viel Geld mal in den 1980er-Jahren entwickelt worden, als offensichtlich dafĂŒr Geld bereitgestellt worden war. Darauf konnte man sehr verlĂ€sslich aufbauen. Was komplett fehlte, war ein Buchhaltungssystem, was heißt Buchhaltungssystem, ein betriebswirtschaftliches System zur Steuerung: An welchen Stellen kann ich eigentlich drehen, damit es in der Zukunft anders und besser wird? Das fehlte komplett und dies einzufĂŒhren war eine der großen Herausforderungen. Es war sicherlich auch fĂŒr mich eine Herausforderung, den FĂŒhrungskrĂ€ften komplexe betriebswirtschaftliche ZusammenhĂ€nge zu vermitteln, glaubhaft zu vermitteln! Eine besondere Herausforderung war, dass ich nach detaillierter Analyse feststellte, dass die Evangelische Stiftung Alsterdorf mindestens vier Millionen DM JahresĂŒberschuss machen musste, um ĂŒberhaupt liquiditĂ€tsmĂ€ĂŸig zu ĂŒberleben. Und das ist ein Punkt, den versteht der Nichtbetriebswirt nicht, weil er sich sagt: Wenn ich ein Ergebnis plus/minus null habe, dann muss es doch eigentlich reichen, damit ich auch durchkomme? Und dann kommt ein Controller daher und sagt: Nein, nein, das reicht nicht. Es mĂŒssen vier Millionen sein! Das hĂ€ngt mit der Finanzierungsstruktur und dem Ablauf der Darlehen zusammen. Aber das musste man erst mal rausfinden. Die Transparenz zu schaffen, das war die erste Herausforderung. Und die zweite Herausforderung, die natĂŒrlich dann noch viel grĂ¶ĂŸer war, bestand darin, dies auch zu vermitteln und daraus ein entsprechendes Handeln abzuleiten. Es gab da eine entscheidende Vorstandssitzung, auf der ich das vorgetragen habe und auf die wir uns im Controlling-Bereich sehr intensiv vorbereitet hatten – damals noch mit Folien, da musste man kleben, ich weiß noch, wie wir versucht haben, das figĂŒrlich umzusetzen. Und dann ging es darum, auch nachher noch das Vertrauen der FĂŒhrungskrĂ€fte zu besitzen, dass die Aussage richtig ist und dass wir uns daran orientieren mĂŒssen. Das hat auch mehrere Jahre funktioniert, muss ich sagen. Also, ich habe immer mit der Vier-Millionen-Palme gewedelt und dann haben die auch mitgezogen. Ich muss sagen, das war eigentlich so eines der SchlĂŒsselerlebnisse.

Schulz: Wenn Sie das mal mit einer Skala von eins bis zehn bewerten mĂŒssen, wie gut war die Stiftung bei Ihrem Eintritt zu dem Thema „Wirtschaftlich gute UnternehmensfĂŒhrung“ aufgestellt?

Vaerst: Ich wĂŒrde das jetzt erst mal verbal beschreiben. Ich wĂŒrde sagen, es gab keine. Das war das Problem! Man hatte sich ja sĂ€mtlicher betriebswirtschaftlicher FĂŒhrungskrĂ€fte entledigt – die hatte man ja alle abgebaut, die waren nicht mehr da!

Schulz: Also, die waren auf null.

Vaerst: Ja, die waren praktisch auf null. Gut, es waren noch ein paar dezentrale Controller da, die VerstĂ€ndnis von ihrem GeschĂ€ft hatten, und im Rechnungswesen waren auch noch Personen da, die wussten, wie Buchhaltung geht – also dass man wenigstens jemanden hatte, dem man sagen konnte: Wenn du das jetzt so und so machst, sorge ich dafĂŒr, dass du die Unterlagen hast, damit du auch buchen kannst. Das war nĂ€mlich eine Herausforderung. Wenn Sie auf der einen Seite einen Dezentralisierungsprozess haben und sagen, die Verantwortung liegt dezentral, auf der anderen Seite brauche ich aber die Unterlagen, damit ich einen Jahresabschluss aufstellen kann, dann waren das Schwierigkeiten, da musste ich natĂŒrlich den Weg freiboxen und die Unterlagen beschaffen.

Schmuhl: Das war jetzt gerade interessant: Sie sagten, dass da Strukturen abgebaut worden sind. Da geistert mir der Name Schimansky [der vorherige Leiter des zentralen Rechnungswesens] im Kopf herum.

Vaerst: Ja, ich wĂŒrde fast noch eher anfangen. Mit Herrn Buschmann hat man sich zunĂ€chst mal seines Finanzvorstandes entledigt, sage ich jetzt mal etwas hart, dann hat man den Leiter Controlling, den Zentralcontroller, abgebaut, danach Herrn Schimanski und als Letztes noch den kaufmĂ€nnischen Leiter des Evangelischen Krankenhauses – insofern war das eigentlich im Sanierungsprozess ein SchlĂŒsselerlebnis. Man hat das bei Sanierungsprozessen sehr hĂ€ufig. Wenn man denkt, man hat eigentlich die Schicht abgetragen und kann jetzt neu aufbauen, dann stellt man fest, unter der Schicht, die nicht funktioniert, gibt’s eine zweite Schicht, die auch nicht funktioniert. Und man macht dann eine zweite Runde. Das ist bei vielen Sanierungsprozessen so. Das habe ich immer wieder erlebt. Und es ist so abgelaufen, dass der Vorstand zu den Sanierungspartnern, also der Freien und Hansestadt Hamburg, der Nordelbischen Kirche und den finanzierenden Banken, ging und sagte: Wir haben das Problem der Behindertenhilfe und wir haben eine ĂŒbermĂ€chtige Zentrale, also letztlich die Zentralverwaltung, die zu aufgeblĂ€ht ist. Das, was man nicht sagte, war, dass es auch ein Problem EvangelischesKrankenhausAlsterdorf gab. Und dann stellte man auf einmal fest – und das war die zweite Schicht –, dass das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf auch hochdefizitĂ€r war. Und daraufhin entstand natĂŒrlich eine große Vertrauenskrise hin zu den Sanierungspartnern, weil die sagen konnten: Ihr habt uns immer erzĂ€hlt, dass es das ist. So, und ein wesentlicher Beitrag, als ich anfing, war, da Ruhe reinzubringen. Im ersten Moment hatte man eben den kaufmĂ€nnischen Leiter des Evangelischen Krankenhauses entlassen, dann bin ich gekommen und man hat mit mir zusammen einen neuen Leiter gesucht. Man brauchte natĂŒrlich einen, ohne den ging es nicht.

Schulz: Wie hießen denn in dieser Gemengelage ihre persönlichen und beruflichen Herausforderungen, wenn Sie das mal so mit Begriffen versehen sollen?

Vaerst: Am Anfang war die grĂ¶ĂŸte Herausforderung fĂŒr mich, die Ruhe zu bewahren, weil ich nicht wusste, ob wir das nĂ€chste Weihnachtsgeld zahlen konnten. Ich muss sagen, ich habe NĂ€chte im Bett gelegen und KrĂ€mpfe auf der rechten Seite gehabt, weil ich die Sorge hatte, dass wir im Dezember nicht in der Lage sein wĂŒrden, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Weihnachtsgeld zu zahlen. Das war eigentlich eine Herausforderung in Bezug auf die persönliche Belastung und eine Sorge, die man nur zum Teil zeigen wollte. Ich hatte das GlĂŒck, dass der damalige Vorstand, insbesondere Herr Kraft, zu mir kam und sagte: Wenn es Schwierigkeiten gibt, bitte kommen Sie gleich. Also nicht: Warten Sie erst und probieren Sie und so. Also ich hatte die Sicherheit, dass ich einen GesprĂ€chspartner hatte. Wenn ich das GefĂŒhl hatte, jetzt brauche ich einen, dann hatte ich ihn auch. Das hat an der Stelle sehr geholfen, muss ich sagen. Der nĂ€chste Punkt war die Schwierigkeit, die Mischung aus Dezentralisierung und notwendiger Zentralisierung hinzubekommen und das auch den Kollegen, den anderen FĂŒhrungskrĂ€ften zu vermitteln; denn die FĂŒhrungskrĂ€fte waren eigentlich komplett auf Dezentralisierung eingestellt: So, jetzt alles raus und dann wird es besser! Dass man natĂŒrlich, um eine solche Organisation zusammenzuhalten, auch ein StĂŒck ZentralitĂ€t brauchte, und das in der richtigen Mischung hinzubekommen, war dann im TagesgeschĂ€ft immer schwierig. Denn sowie man sagte „Also, jetzt möchte ich das aber gerne zentral regeln“, hieß es „Ja, wir haben aber Dezentralisierung!“.Dann funktionierte es nicht und dann hieß es „Ja, also, das liegt“ – weil es nicht funktionierte – „auch daran, dass es noch zu zentral ist!“. Das war eigentlich in der Mittelphase die grĂ¶ĂŸte Herausforderung. Und wir hatten zum Schluss die Situation, dass wir aus dem Lohnverzicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Sanierungsfonds bildeten. Dieses Geld sollte in die Zukunftsinvestition der Stiftung gehen, sodass man bei den Banken auch kreditfĂ€hig war, dass man neben den Eigenmitteln immer auch den Kredit fĂŒr die notwendigen Neubauten bekam. Und so ein Bauprogramm ist natĂŒrlich auch immer von den Interessen und EmotionalitĂ€ten geprĂ€gt. Das war die Herausforderung nachher in der Schlussphase, da die entsprechende Ruhe reinzubringen.

Schulz: Bei dem Sanierungsgeschehen mussten Sie ja auch in andere Rollen hineinwachsen – Stichwort Leitung des Investitionsratsgremiums.

Vaerst: Ja, es ging darum, dass es ein Mitbestimmungsverfahren dort gab, um die Mitarbeitervertretung mit ins Boot zu nehmen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen – das war ja ein StĂŒck von deren Geld, das wir dort ausgaben. Also, ich muss ehrlich sagen, das hat sich eigentlich durch mein ganzes Berufsleben gezogen, dass ich es immer geschafft habe, das Vertrauen der Mitarbeitervertretung zu gewinnen. Ich habe in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf vielleicht nur einen großen Fehler gemacht: Als ich mich bei der Mitarbeitervertretung vorstellte, wurde ich gefragt: Wenn Sie am Sonnabend zum Fußball gehen, gehen Sie zu Sankt Pauli oder gehen Sie eher zum HSV? Durch meinen Kopf schoss es dann: Was sag ich jetzt? Und dann habe ich gesagt: Ach, ich geh eher zu St. Pauli. Auf meiner Verabschiedung hat mir dann der Vorsitzende der Mitarbeitervertretung eine HSV-Fahne ĂŒberreicht. Insofern wusste ich, dass ich beim ersten Mal die falsche Antwort gegeben hatte (lacht). Aber das hat das VerhĂ€ltnis nicht gestört. Im Gegenteil, ich glaube, wir haben ĂŒber die Zeit immer gut zusammenarbeiten können, und was die Differenzen anging, die damals im Investitionsrat waren, war der ver.di-Vertreter sehr bemĂŒht, einen vernĂŒnftigen Ausgleich hinzubekommen. NatĂŒrlich musste er als ver.di-Vertreter in erster Linie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vertreten. Das war völlig klar. Aber auf der anderen Seite ging es ja letztendlich um das Ganze.

Kutzner: Hat sich denn die finanzielle Situation ĂŒber die Jahre verbessert?

Vaerst: Sie hat sich in den vier Jahren so verbessert, dass wir ruhig schlafen konnten. Im Sozialbereich ist es betriebswirtschaftlich so, dass man finanziell – das hĂ€ngt mit dem Finanzierungssystem zusammen – keine großen Reserven aufbauen kann. Man lebt eigentlich immer von den regelmĂ€ĂŸigen ZuschĂŒssen und von den regelmĂ€ĂŸigen PflegesĂ€tzen. Man musste hinterher sein, dass die kostendeckend sind und dass man sie auch immer anpasst und bekommt. Das war auch nach den vier Jahren nicht der Fall, dass man großartig von Reserven leben konnte. Aber es war so, dass wir zumindest eine ausgeglichene Struktur hatten und dann mit den Eigenmitteln, die wir durch den Lohnverzicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten, auch fĂŒr die Zukunft investieren konnten.

Schmuhl: Ich wĂŒrde gerne noch einmal an die Anekdote mit St. Pauli und dem HSV anknĂŒpfen. Sie haben eingangs gesagt, dass es im Gegensatz zu Ihrer Erfahrung im Konzern weniger sachlich zuging, dass also mehr Emotionen im Spiel waren – so hab ich es verstanden. Können Sie das noch einmal etwas nĂ€her beschreiben? Von welcher Seite kamen diese emotionalen Dinge und worum ging es da?

Vaerst: Ich bin, wenn ich mein Berufsleben anschaue, ungefĂ€hr die HĂ€lfte davon in der Industrie gewesen, wo es sehr um Produktion, Großserienfertigung und so etwas ging, und die andere HĂ€lfte im Sozialbereich. Was mir eine große ErfĂŒllung im Sozialbereich gegeben hat, war, ein ausgeglichenes VerhĂ€ltnis zwischen sozialem Auftrag und wirtschaftlichem Handeln zu finden. Also man musste mit einer gewissen Sachlichkeit sehen, was finanziell möglich war, auf der anderen Seite aber durchaus den hilfsbedĂŒrftigen Menschen wie auch die Mitarbeiterin und den Mitarbeiter in den Blick nehmen – man hat also als FĂŒhrungskraft zwei Bereiche, denen man mit der entsprechenden WertschĂ€tzung und auch mit der notwendigen Distanz begegnen muss – gerade im Sozialbereich! FĂŒr die alten Schwestern war da ein Risiko und sie sagten so etwas wie: Das ist mein Behinderter, mit dem darf man das nicht machen! Also, man musste sehen, dass man trotzdem eine vernĂŒnftige Distanz behielt. Mir persönlich liegt es, so einen Ausgleich hinzubekommen, und es hat mir sehr geholfen, das auch gegenĂŒber den FĂŒhrungskrĂ€ften in Alsterdorf hinzubekommen, die langjĂ€hrig da waren und denen man dann eventuell anhĂ€ngte „So, die Misere, die wir jetzt haben, liegt an eurem damaligen Verhalten“, und darauf hinzuwirken, dass man denen die notwendige WertschĂ€tzung entgegenbrachte und sagte: Jawohl, ihr habt damals in dem Umfeld das und das gemacht, jetzt habt ihr die Chance, geht mit, kommt mit, aus den und den GrĂŒnden mĂŒssen wir den Weg gehen! Ich erinnere mich jetzt an keinen Fall, wo jemand ĂŒberhaupt nicht mitgehen wollte, aber da waren doch einige, die WiderstĂ€nde hatten. Also ich muss sagen, ich wusste nicht, dass diese menschliche Komponente mir so sehr liegt. Das kam erst in Alsterdorf wirklich zum Tragen und das haben Sie natĂŒrlich in der Industrie nicht. Auch dort muss man die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wertschĂ€tzen, aber es geht doch sehr viel distanzierter zu als in so einem Unternehmen.

Schulz: Sie haben die Evangelische Stiftung Alsterdorf in einer sehr krisenhaften Zeit kennengelernt –Sie schilderten so anschaulich, dass man nicht genau wusste, ob man das Weihnachtsgeld auszahlen konnte. Spielte in den ganzen Diskussionsprozessen, um diesbezĂŒglich Abhilfe zu schaffen, eigentlich noch die Frage eine Rolle, was das Diakonische an der Arbeit war, oder ging es da nur noch um Zahlen und darum, wie man den Laden retten könnte?

Vaerst: Der christliche Ansatz spielte immer eine große Rolle. Ich meine, Pastor Baumbach hat darauf auch immer grĂ¶ĂŸten Wert gelegt, wobei, es war, glaube ich, ganz wichtig, dass er auch fĂŒr diejenigen bedeutsam war, die fĂŒr nicht diakoniebezogene Teile der Stiftung zustĂ€ndig waren. Also der Personalchef, Herr Fenker, war genauso ĂŒberzeugter Protestant, wie ich ĂŒberzeugter Katholik bin, und insofern haben wir beide auch aus unserer christlichen Überzeugung heraus in der Stiftung gewirkt. Es gab sogar ein Sanierungsgremium von der Nordelbischen Kirche, das sich vierteljĂ€hrlich traf und wo wir vortragen mussten. Und auch da wurde das entsprechend berĂŒcksichtigt und auch von denen an uns herangetragen – von der Nordelbischen Kirche aus dem Kirchenamt in Kiel kamen entsprechende Personen, die eingesetzt waren, um zu schauen, ob der Prozess richtig lief, und da spielten der christliche Auftrag und das Diakonische eine wesentliche Rolle. Aber wie gesagt, ich hatte damit nie ein Problem, muss ich ehrlich sagen, eher im Gegenteil. Ich finde es gut, dass es Einrichtungen gibt, die vor diesem Hintergrund in unserer Gesellschaft wirken. Ich bin heute Vorsitzender des Caritasrates im Erzbistum Hamburg – und auch die sind momentan in einer Krise.

Schmuhl: Das Stichwort Investitionsrat ist schon gefallen. Könnten Sie dazu noch mal etwas sagen?

Vaerst: Ja, es war so, dass die Baulichkeiten natĂŒrlich eine große Rolle spielten, dass sie so hergerichtet waren, dass man seinen Auftrag auch optimal erfĂŒllen konnte. Und da ĂŒber Jahre gespart und in die GebĂ€ude nichts oder nur wenig gesteckt worden war, gab es einen großen Investitionsstau. Als ich mein VorstellungsgesprĂ€ch bei Pastor Baumbach hatte, sagte er: Ja, wenn’s regnet, dann rufen wir nicht den Dachdecker, sondern wir stellen einen Eimer auf. Aber auch die Raumstrukturen waren fĂŒr eine Behindertenhilfe ĂŒberhaupt nicht mehr der Zeit entsprechend. Die waren eher auf alte Heimstrukturen und Einrichtungen ausgerichtet. Und als wir, zumindest fĂŒr das laufende GeschĂ€ft, nach zwei Jahren sicheren Boden unter den FĂŒĂŸen hatten und die Überlegung war, was wir mit diesem ZentralgelĂ€nde sinnvoll machen sollten, welche Investitionen wir jetzt hier einsetzen sollten – es gab ja auch sehr schöne GebĂ€ude, fĂŒr die man aber einfach Geld brauchte, um sie so herzurichten, dass man sie wieder nutzen konnte –, habe ich meine Kalkulationen gemacht. Was brauchten wir an Eigenmitteln, um unseren Investitionsbedarf abzudecken? Und ich kam damals auf etwa 45 Millionen D-Mark, die wir brauchten. Und es war die Frage: Wo kommt das Geld her? Und es konnte eben aus einem Zuschussbetrieb, wie es die sozialen Bereiche sind, nicht erwirtschaftet werden – so viel ansparen kann man nicht, das hĂ€ngt mit der Finanzierungsstruktur zusammen. Und insofern war dann die Überlegung, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – das war ein Modell, das zusammen mit ver.di entwickelt wurde −, Lohnerhöhungsverzicht ĂŒben sollten. Die jĂ€hrlichen Erhöhungen wurden nicht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgezahlt, sondern flossen in einen Investitionsfonds und dann wurde dieses Geld fĂŒr die Investitionen, Neubau Schule, Neubau auf dem GelĂ€nde fĂŒr die Wohngruppen, zur VerfĂŒgung gestellt. Da das Mitarbeitergeld war, war das Modell auch so, dass man einen Investitionsrat hatte, der die Gelder mit freigab. Es gab ein gestuftes Verfahren – es waren ja meistens grĂ¶ĂŸere Investitionsvorhaben –, dass es erst durch den Vorstand, dann durch den Stiftungsrat und dann noch mal durch den Investitionsrat ging. Der war paritĂ€tisch besetzt und ich hatte den Vorsitz fĂŒr die Arbeitgeberseite in dem Investitionsrat. Auf der Arbeitnehmerseite war der Vorsitzende der Mitarbeitervertretung der Hauptvertreter, aber es war auch der zustĂ€ndige Referent von ver.di mit drin. Wir hatten schon bei einigen Investitionen gerungen, weil es natĂŒrlich auch innerhalb der Mitarbeitervertretung unterschiedliche Strömungen gab, wo man nun Schwerpunkte setzte. Man war sich einig, dass man generell was machen musste. Aber sollte nun die Schule zuerst gebaut oder sollte erst die Behindertenhilfe gebaut werden? Solche Diskussionen kamen dann natĂŒrlich. Wir waren da eigentlich relativ sachlich, aber auf der Mitarbeiterseite gab es teilweise Probleme – ich erinnere mich zumindest an zwei Situationen, wo es den ver.di-Vertretern nicht gelungen ist, einen Ausgleich hinzubekommen, um zu einem Entschluss zu kommen. Das hat dann noch mal einen Aufschub gegeben und noch mal vier Wochen gedauert, bis wir weiterkamen.

Schmuhl: Ging es da um die institutionellen Eigeninteressen?

Vaerst: Ja.

Schmuhl: Also, unser Bereich zuerst!

Vaerst: Ja.

Schmuhl: Inwieweit – da wurde ja ein Rieseninvestitionsprogramm aufgelegt – spielten eigentlich konzeptionelle Überlegungen eine Rolle, also Auflockerung, letztlich Quartierbildung?

Vaerst: Oh ja, der Vorstand hatte sich einen sehr renommierten Stadtentwicklungsarchitekten von der Fachhochschule Hamburg geholt, der die inspirierende Entwicklung des ZentralgelĂ€ndes sehr konstruktiv begleitet hat, also das muss ich wirklich sagen, Herrn Professor Stabenow1, der hier in Hamburg einen sehr, sehr guten Ruf hatte. Das hat man sehr systematisch einfließen lassen und das ist auch sehr systematisch damals vom Vorstand aufgebaut worden. FĂŒr die Projektaufsetzung hat man sich Zeit genommen. Die Stadt hat gut mitgezogen, muss ich sagen. Die Stadt hat ja dann GrundstĂŒcke – ein Großteil der GrundstĂŒcke war ja noch in Erbpacht – an die Stiftung ĂŒbertragen. Die Stiftung wiederum hat auf andere FlĂ€chen verzichtet, wo man Wohnungsbau machen konnte, und hat diese FlĂ€chen der Stadt gegeben. Das hat dann vor allem finanziell positive Auswirkungen fĂŒr Alsterdorf gehabt.

Schmuhl: Wie ist es dann dazu gekommen, dass Sie gewechselt sind?

Vaerst: Ich persönlich wollte mich beruflich weiterentwickeln. Also, ich war hier sehr glĂŒcklich. Ich habe noch lange gesagt: Alsterdorf war beruflich meine erfolgreichste und meine schönste Zeit, weil ich alles das, was ich vorher gelernt hatte, in ein konstruktives Umfeld bringen konnte – und das in meiner Heimatstadt! Das spielte alles so eine gewisse Rolle. Ich wollte eine Organfunktion, ich wollte eine GeschĂ€ftsfĂŒhrung. Und das war in Alsterdorf nicht möglich, einmal wegen meiner konfessionellen Bindung, zum anderen auch, weil die Vorstandspositionen besetzt waren. Ich hatte dann auch mit dem einen Vorstand ein GesprĂ€ch darĂŒber und es wurde mir sehr klar gesagt, dass ich die kaufmĂ€nnische Leitung weitermachen könnte, dass ich hochgeachtet wĂ€re, dass alle sich sehr freuen wĂŒrden, auf der anderen Seite verstĂŒnde man natĂŒrlich auch, ein gewisses Alter, und dann mĂŒsse man seine Schritte machen. Ich wollte eigentlich auch ganz gerne ins Gesundheitswesen, muss ich ehrlich sagen. Was dabei eine Rolle spielte, war, wenn man sich so die gesamte Soziallandschaft im Sozialwesen anschaute: Im Gesundheitswesen war mit das meiste Geld, wenn man das mit anderen Systemen verglich, etwa Altenhilfe oder Behindertenhilfe. Und insofern war dann fĂŒr mich als Finanzmann das meiste Interesse, da mitzugestalten. Deshalb bin ich in den Landesbetrieb KrankenhĂ€user gewechselt.

Kutzner: Verfolgen Sie die finanzielle Situation der Evangelischen Stiftung noch weiterhin?

Vaerst: Soweit man das von außen kann, ja. Ich sag mal, mein Herz schlĂ€gt weiter fĂŒr Alsterdorf – und insofern habe ich auch immer den Jahresabschluss und auch die Investitionsvorhaben gelesen, soweit sie denn veröffentlicht wurden, das kann ich eindeutig sagen. Aber man hat nicht mehr die Chance, von außen in die Details zu gucken.

Schulz: Noch mal zum Thema Gute und wirtschaftliche UnternehmensfĂŒhrung. Welchen Eindruck hatten Sie bei Ihrem Weggang, nachdem Sie fĂŒnf Jahre gewirkt haben, wenn Sie auf einer Skala von eins bis zehn eine Bewertung abgeben wĂŒrden?

Vaerst: Sechs.

Schulz: Wenn Sie heute noch einmal vor der Wahl stĂŒnden, als kaufmĂ€nnischer Leiter und GeneralbevollmĂ€chtigter der Stiftung zu arbeiten, wie wĂŒrden Sie sich entscheiden mit dem Wissen, das Sie jetzt haben?

Vaerst: Gut, es kommt immer auf die Situation an, in der man ist. Diese Entscheidung war damals in meiner persönlichen Situation goldrichtig, kann ich nur sagen. Es hat mein ganzes Berufsleben auf den Kopf gestellt, aber im positiven Sinne. Ich bin heute heilfroh und auch ein StĂŒck stolz auf das, was ich in den nachfolgenden 25 Jahren bewirken konnte. Und natĂŒrlich hat die FlĂŒchtlingskrise mir da noch mal ungeheure Möglichkeiten gegeben, mich beruflich zu betĂ€tigen. Und dass nachher der Berliner Senat mich gebeten hat, fĂŒr zwei Jahre nach Berlin zu kommen und dort eine Organisation aufzubauen, das sind Erlebnisse, die einen beruflich unheimlich befriedigen. Ich bin in der glĂŒcklichen Situation, heute sagen zu können, dass ich mit großer Anerkennung in den Ruhestand gegangen bin. Viele, gerade die, die in der Wirtschaft sind, werden zwischen 60 und 62 Jahren vielleicht noch mit Anerkennung, aber meistens doch mit irgendwelchen unangenehmen Nebenerscheinungen in den Ruhestand geschickt. Insofern, muss ich ehrlich sagen, habe ich Alsterdorf sehr, sehr viel zu verdanken mit Blick darauf, dass ich ein Berufsfeld gefunden habe, das mich erfĂŒllt hat und das mir so eine schöne Berufszeit gegeben hat!

Schmuhl: Wenn Sie sich heute die Jahresberichte und Bilanzen der Stiftung Alsterdorf anschauen oder auch noch mal ĂŒber das GelĂ€nde gehen, wie viel von den damaligen Weichenstellungen entdecken Sie da wieder?

Vaerst: Was das GelĂ€nde angeht, wenn man das heute sieht – damals waren wir in den AnfĂ€ngen – also dass heute ein Witte-Haus nur noch aus drei Stockwerken besteht und dass das Carl-Koops-Haus [benannt nach dem ersten Bewohner der Anstalt, Carl Koops], das damals das GelĂ€nde unheimlich geprĂ€gt hat, nicht mehr steht, daran sieht man: Es hat sich Ungeheures geĂ€ndert, auch was die Aufgabe des Carl-Koops-Hauses angeht, da gehe ich auch ein StĂŒck mit, dass wir damals die AnfĂ€nge gelegt haben, weil das GrundstĂŒck im Rahmen eines GrundstĂŒckstausches, den ich vorhin angesprochen habe, der Stiftung zufiel, insofern auch die Alte KĂŒche, wo ich mich ja sehr mit dem Vorstand gestritten habe, ob man die erhalten kann oder nicht. FĂŒr mich als wirtschaftlich Orientierter war es eher kritisch, die Alte KĂŒche und deren erforderliche bauliche Sanierung anzugehen. Heute freut man sich natĂŒrlich, dass es gelungen ist, ein Konzept und auch das notwendige Geld zu finden. Nein, also ich habe fĂŒr die GelĂ€ndeentwicklung sicherlich nur die AnfĂ€nge gelegt oder mitgeprĂ€gt. Ich meine, es ist jetzt 20 Jahre her, es hat sich viel getan, zum Beispiel der Ausflug nach Schleswig-Holstein mit seinen Auswirkungen, darf ich jetzt mal salopp sagen [gemeint ist der Zukauf der Evangelischen Stadtmission Kiel und nachfolgend Hesterberg und Stadtfeld in Schleswig]. Was die weitere Dezentralisierung angeht, bin ich auch wieder zu weit weg, um zu wissen, was da so im Einzelnen passiert – also das ist dann mehr im Sinne einer schönen Erinnerung, wenn ich das [die Berichte] lese.

Schmuhl: Ja. Dankeschön.

Kutzner: Vielen Dank.

Vaerst: Ja, ich freue mich. Danke fĂŒr die Fragen und weiterhin viel Erfolg!

Schulz: Ja, danke, dass Sie mitgemacht haben, und alles Gute.

1 Prof. Wolfgang Stabenow (1931–2016), Stadtentwicklungsarchitekt. Nach seiner Zimmermannslehre absolvierte er ein Studium der Architektur und Kunstwissenschaften. Von 1996 bis 2004 lehrte er an der Hamburger Hochschule fĂŒr Angewandte Wissenschaften. Sein Schwerpunkt war der stĂ€dtische Wohnungsbau. Er setzte sich fĂŒr menschen- freundliche Wohn- und Lebensbedingungen in einer Großstadt ein. Vgl. WIRSIND-Architekten & Stadtplaner o. J., Woher wir kommen. [Onlinequelle], http://www.wirsind.net/woher-wir-kommen/, Zugriff 26.02.21