07 / 1989 – Interview mit Georg Schnitzler

Teilnehmende

Georg Schnitzler

Nico Kutzner

Hans-Walter Schmuhl

Reinhard Schulz

Transkription

Kutzner: Guten Tag. Ich bin Nico Kutzner von 17motion. Herzlich willkommen zum Interview! Wenn Sie sich doch bitte vorstellen mögen.

Schnitzler: Danke. Ich bin Georg Schnitzler, Diplom-Psychologe von Beruf, bin 1950 geboren und habe von 1978 bis 1993 in den damaligen Alsterdorfer Anstalten, spÀter dann Evangelische Stiftung Alsterdorf, gearbeitet und somit viel von der krisenbewegten Zeit damals miterlebt und auch mitgestaltet.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich arbeite an dem Dokumentationsprojekt „Vierzig Jahre Eingliederungshilfeentwicklung in der Stiftung Alsterdorf.“

Schmuhl: Mein Name ist Hans-Walter Schmuhl. Ich bin Historiker und schreibe zusammen mit der Kollegin Ulrike Winkler eine Gesamtdarstellung der Alsterdorfer Anstalten von den AnfÀngen bis an die Gegenwart heran.

Kutzner: Könnten Sie erzÀhlen, wie Sie diese krisenbewegte Zeit miterlebt haben?

Schnitzler: Die Zeit war vor allem aufregend und von vielen BrĂŒchen und RichtungsĂ€nderungen geprĂ€gt. Es gab viel öffentliche Resonanz auf das, was sich damals in den Alsterdorfer Anstalten abspielte. Es begann mit einem Skandal – so kann man das zu Recht nennen – und fĂŒhrte dann zu einer grundlegenden RichtungsĂ€nderung in der Arbeit der Stiftung Alsterdorf. Zu den Einzelheiten kann ich, glaube ich, sehr viel sagen.

Kutzner: Wie war das damals? Wie wurden die Leute behandelt?

Schnitzler: Es lebten viele Menschen in den Alsterdorfer Anstalten in wirklich unwĂŒrdigen und unmenschlichen ZustĂ€nden, in SchlafsĂ€len mit 25 bis 30 Betten, kaum Raum fĂŒr persönliche Dinge, Großtoiletten mit vielen ToilettenstĂŒhlen nebeneinander. Es gab keine eigene Kleidung und es gab Gewalt und BrutalitĂ€t im Umgang zwischen den Betreuer*innen und Pfleger*innen einerseits und den Insassen andererseits. Gleichzeitig trug das Anstaltsleben das GeprĂ€ge eines Asyls. MĂ€nner und Frauen durften nicht zusammenkommen, es gab streng reglementierte TagesablĂ€ufe und vor allem große Langeweile. Viele Bewohner*innen, so wĂŒrde man heute sagen, damals sagte man „Insassen“, durften den ganzen Tag nicht raus und lebten unter elenden VerhĂ€ltnissen.

Schulz: Herr Schnitzler, was war Ihre Motivation als Psychologe damals in solche VerhÀltnisse einzutreten und dort zu arbeiten?

Schnitzler: Ich hatte mein Studium abgeschlossen, lebte in Hamburg und brauchte Arbeit als Diplom-Psychologe. Damals waren Stellen rar und ich habe das genommen, was es gab. Ich habe keine Auswahl getroffen, meine Stelle war dann daraufhin die eines Psychologen in den damaligen Rotenburger Anstalten. Gott sei Dank hatte ich nach 11 Monaten die Gelegenheit, in die Alsterdorfer Anstalten zu wechseln und mir diesen elend langen Fahrweg zu ersparen. So habe ich 1978 eher zufÀllig in den Alsterdorfer Anstalten angefangen und fand schnell Anschluss beim Kollegenkreis. SpÀter habe ich öfter gesagt: Die Arbeitsbedingungen sind schlecht, aber die Kampfbedingungen sind gut.

Schmuhl: Ein gutes Stichwort! Sie sind 1979 mitten in die Phase der Skandalisierung hineingekommen, und Sie haben sich sofort sehr stark in der Öffentlichkeitsarbeit engagiert. Welche Möglichkeiten gab es und welchen WiderstĂ€nden sind Sie begegnet?

Schnitzler: Ich habe mich dem Kollegenkreis angeschlossen, der anfing, Zeitungen und FlugblĂ€tter herauszugeben und zu verteilen und der auf diese Weise Öffentlichkeitsarbeit machte, um auf die skandalösen UmstĂ€nde [in den Alsterdorfer Anstalten] hinzuweisen. Die waren gar nicht versteckt. Viele in Hamburg wussten davon. Die Alsterdorfer Anstalten machten damals FĂŒhrungen und zeigten auch ihres schlimmsten HĂ€user, um darauf aufmerksam zu machen, was fĂŒr eine aufopferungsvolle Arbeit sie leisteten. Das war normal. Die brutale RealitĂ€t war ĂŒbrigens schon seit der Psychiatrie-EnquĂšte 1975 bundesweit bekannt.

Es fand aber ein Wertewandel statt. Es entwickelte sich zu Recht Empörung und dazu hat dieser Kollegenkreis beigetragen. Dann gab es 1979 den berĂŒhmten Artikel im Magazin Die Zeit, der dann wirklich den letzten Hamburger darĂŒber informierte, unter welchen unsĂ€glichen UmstĂ€nden die Menschen in den Alsterdorfer Anstalten damals lebten. Ich bin damals im Jahr 1983 in die Mitarbeitervertretung gewĂ€hlt worden. Dieses Amt habe ich vor allem deswegen angestrebt, um mich zu schĂŒtzen. Ich wollte unkĂŒndbar werden. Die Arbeit als Mitarbeitervertreter interessierte mich auch, aber mein Hauptmotiv war, mich zu schĂŒtzen. Drei Jahre war ich freigestelltes Mitglied der Mitarbeitervertretung und dann noch mal drei Jahre lang freigestellter Vorsitzender der Mitarbeitervertretung.

Schmuhl: Wie ist die Einrichtungsleitung mit dieser Art von Öffentlichkeitsarbeit umgegangen, die Sie im Kollegenkreis gemacht haben. Da gab es bestimmt ziemlich viel Gegenwind?

Schnitzler: In der Tat. Das lag vor allen Dingen auch daran, dass es in Pastor Schmidt einen Direktor gab, der die Anstalt als Betreuungskonzept, so nenne ich das mal, offensiv und deutlich vertreten hat. Es gab damals die Auseinandersetzung mit dem Normalisierungsprinzip. Das war bekannt. Der frĂŒhere Chefarzt, Dr. Borg, hatte sich intensiv damit beschĂ€ftigt, und – ich habe ihn selbst nicht erlebt, er ist sehr frĂŒh gestorben – ich glaube, dass er das sicherlich in den damaligen Alsterdorfer Anstalten, insbesondere unter seinen Psychiatriekollegen vertreten hat. Davon weiß ich aber nur wenig.

Pastor Schmidt, der geistiger Kopf dieser Anstalt war, polemisierte gegen Bank-Mikkelsen, nachzulesen in einer Rede vor der Synode und auch in anderen Artikeln, die er damals geschrieben hat. Er war, wie gesagt, sehr offensiv und hielt die Anstalt fĂŒr das richtige Konzept, und zwar – das war der markante Satz von ihm –, weil die Bewohner dort die Möglichkeit hĂ€tten, tĂ€glich in die Kirche zu gehen, weil die Kirche so nahe wĂ€re, dass die Menschen, die so litten, diese Gelegenheit haben mĂŒssten. Wenn man mit einigen ausgewĂ€hlten Wohngemeinschaften in die Stadt ziehen wollte, so Schmidt, dann ginge das nur sehr sorgfĂ€ltig vorbereitet, also mit vermutlich eingehender theologischer BegrĂŒndung und nur ausnahmsweise. Das war sein Ansatz. Das heißt, dass er wirklich ein Vertreter der alten Anstaltsideologie war, der sich nicht mit dem Wandel in der Behindertenhilfe auseinandersetzte, der damals begann oder in Gange war.

Kutzner: Wie wollte man die Situation damals verbessern?

Schnitzler: Auf dem AnstaltsgelĂ€nde schob man einige neue Projekte an, die aber, eben weil dahinter weiter das alte Anstaltskonzept stand, in die falsche Richtung gingen. Das berĂŒhmteste Beispiel ist das sogenannte 216-Bettenhaus, das dann spĂ€ter Carl-Koops-Haus hieß. Der Bau war wirklich in jedem Detail von der Anstaltsideologie geprĂ€gt. Es gab weiterhin lange Krankenhausflure, es gab keine KĂŒchen in den Stockwerken. Kleidung und Zimmer waren getrennt, also die Zimmer der einzelnen Bewohner*innen und der Aufbewahrungsort der Kleidung. Das ging bis dahin, dass dieser fĂŒnfeckige Stern ein Anstaltskonzept aus frĂŒheren Zeiten aufgriff. Das GefĂ€ngnis Santa Fu hier in Hamburg ist ich weiß nicht wieviel hundert Jahre Ă€lter, aber nach demselben Konzept, im Stil eines fĂŒnfzackigen Sternes gebaut, was den Vorteil hatte, dass man von einem einzigen Punkt aus viele Menschen ĂŒberwachen konnte. DafĂŒr ist es in den unteren Stockwerken dunkel. Das PolizeiprĂ€sidium, auch nicht weit entfernt, ist Ă€hnlich gebaut.

Schmuhl: Man hat von diesem Carl-Koops-Haus den Eindruck, dass allen Beteiligten von vorneherein klar war, dass das ein ĂŒberholtes Baukonzept war, dass man es aber aus finanziellen RĂŒcksichten letztlich durchgezogen hat nach dem Motto besser als nichts!

Schnitzler: Es war sozusagen eine schnelle Lösung fĂŒr die drangvolle Enge auf dem AnstaltsgelĂ€nde, befördert dadurch, dass plötzlich viel Geld da war, das durch eine Behörde genehmigt war, die auch unter Druck stand. Also die Mitverantwortung sowohl der Behörde als auch der Kirche hier in Hamburg mĂŒssten in der Aufarbeitung stĂ€rker berĂŒcksichtigt werden. Insofern war es, wie gesagt, eine schnelle Lösung und deswegen hatte man sich dafĂŒr entschieden. Die Grundlage war weiterhin das Anstaltskonzept, das erst nach dem Abschied von Pastor Schmidt nach und nach verabschiedet wurde.

Schulz: Da stellt sich die Frage danach, was anders wurde, nachdem Pastor Schmidt 1983 zurĂŒcktrat? Was wurde inhaltlich-konzeptionell anders?

Schnitzler: Es Ă€nderte sich vieles, aber es dauerte. So muss man das vielleicht sagen. ZunĂ€chst mal gab es einen Übergangsvorsitzenden, den damaligen Probst Kohlwage, der spĂ€ter Bischof wurde und der von Anfang an nur als Übergangskandidat zur VerfĂŒgung stand, eben weil er Bischof werden wollte. Das strahlte er aus. Das heißt, dass er eingesprungen ist, ohne ein Konzept zu haben.

Danach kam der damalige Probst Mondry, der erst nach und nach ein Konzept entwickelte, der aufgriff, was ihm zugetragen wurde, der zuhörte und die nĂ€chsten Schritte prĂŒfte. Aber auch damals gab es kein großartiges Gegenkonzept.

Pastor Mondry leitete die Regionalisierung ein, indem er neue Strukturen schuf. Er hat die ersten Wohngruppen und kleineren Einrichtungen außerhalb des AnstaltsgelĂ€ndes auf den Weg gebracht. Ich glaube, dass in seine Zeit auch die Anmietung des Stadthauses Schlump fiel, ein altes aufgegebenes Krankenhaus, auch nicht die ideale Voraussetzung, aber aus dem konnte man mehr machen als aus dem GelĂ€nde. Es gab aber neue WohnhĂ€user in EimsbĂŒttel und in Ottensen, also es kam etwas auf den Weg.

Pastor Mondry versuchte auch, eine neue theologische Grundlage zu legen. Es war ein Mann mit nicht so großem Charisma, so kann man das sagen. Ich persönlich habe aber viel vom ihm profitiert. Insbesondere machte er den Versuch, die theologische Grundierung der Behindertenhilfe neu auszurichten. Das Schlagwort war Von der Barmherzigkeit zur Gerechtigkeit! Das fand ich sehr prĂ€gnant. Es öffnete den Raum fĂŒr das Normalisierungsprinzip, das ĂŒber viele Jahre mit immer neuen Nachjustierungen Maßstab fĂŒr die Entwicklung der Stiftung war. Das kann man am deutlichsten an der Frage nach der maximalen GruppengrĂ¶ĂŸe ablesen. Das waren ewige Diskussionen, 10, 15, 3 oder gar keine Gruppe. So ging es stĂ€ndig hin und her.

Kutzner: Wie sah diese Idee damals aus und wie wollte man die Situation verÀndern?

Schnitzler: Die Idee war, dass die Menschen in ganz normalen UmstĂ€nden leben sollten wie jeder andere auch, also in einer Wohnung, vielleicht mit Partner oder auch nicht, mit Kindern oder auch nicht, mit einer Arbeit ohne Langeweile, die möglichst an einem anderen Ort stattfinden sollte und mit einer Integration in die Gesellschaft mit allem, was dazugehört, Teilnahme an Kultur usw. DiesbezĂŒglich war ĂŒbrigens in meiner Erinnerung die GrĂŒndung von Station 17 ein großer Meilenstein. Damals hat die Marke Alsterdorf eine ganz neue Facette bekommen. Daran war ich auch beteiligt. Das fand ich damals sehr lobenswert, muss ich sagen. Die Menschen mit Behinderung sollten genau die Möglichkeiten haben, mit ihren Ideen zu ihrem eigenen Lebensweg leben zu können, die die anderen Menschen auch hatten. Nach dieser Idee sollte die Stiftung diese Möglichkeiten bieten. Das passierte dann auch in der Folge und heute gibt es eine große Vielfalt, die damals ihren Anfang genommen hat.

Schmuhl: Sie haben jetzt einen Faktor benannt, den Leitungswechsel zu Mondry, der Bewegung brachte. Was gab es noch fĂŒr Faktoren, die Ihrer Meinung nach, dazu fĂŒhrten, dass dieses Normalisierungsprinzip allmĂ€hlich in das konzeptionelle Denken und dann auch in ’s praktische Tun einsickerte, so dass sich ein bisschen Fortschritt einstellte?

Schnitzler: Es gab sehr viele Mitarbeiter*innen, die damals neu in die Stiftung gekommen waren, aber auch die alten, die den Umsturz erlebt hatten und die Ideen dazu entwickelten. Pastor Mondry hat sich in der Zeit z.B. in Bezug auf sein FĂŒhrungskonzept an dem Bild des Gartens orientiert. Er war der GĂ€rtner, der dafĂŒr zu sorgen hatte, dass in den Ecken und Winkeln des Gartens ĂŒberall die Pflanzen blĂŒhen und gedeihen konnten, wenn sie dort Fuß gefasst hatten oder sobald sie von Mitarbeiter*innen eingepflanzt worden waren. Ich fand dieses Bild des Gartens sehr schön. In dieser Zeit ist auch viel passiert und viel in Angriff genommen worden mit dem entsprechenden Durcheinander, das dadurch entstand.

Schulz: Wer war denn der Gartenbauarchitekt?

Schnitzler: Den gab es nur in AnsĂ€tzen in der Gestalt von Pastor Mondry. Aus heutiger Sicht wĂŒrde ich sagen, dass er zu wenig selbst initiierte, er hat vielmehr initiieren lassen und das dann wohlwollend begleitet. Das ist meine heutige Sicht. Damals wĂ€re es vielleicht ĂŒber die KrĂ€fte eines Einzelnen gegangen, eine derartig immense FĂŒhrungsverantwortung auf sich zu nehmen.

Schmuhl: Diese Geschehen-Lassen kenne ich auch aus anderen ZusammenhÀngen, etwa von den von Bodelschwinghschen Anstalten, wo es auch eine Phase gab, in der von unten viele Initiativen kamen und nicht gleich von oben gedeckelt, sondern erst mal zugelassen wurden. Dadurch entwickelten sich die einzelnen Bereiche und HÀuser sehr unterschiedlich.

Wo war Ihrer Meinung nach – ich habe verstanden, dass es hier so Ă€hnlich war – die Grenze? Bis zu welchem Punkt hat man es hingenommen, dass von unter her VerĂ€nderungen initiiert wurden?

Schnitzler: In Bezug auf die Zeit, in der ich da war – ich bin, wie gesagt, 1993 mit dem Abschied von Pastor Mondry auch gegangen –, kann ich mich nicht erinnern, dass man Jemand ausbremste, der einen konkreten Plan auf den Tisch legte. Ich vermute, dass es schlicht das Geld war, das die Grenzen setzte.

Schmuhl: Dachte man damals auch schon ĂŒber das VerhĂ€ltnis der Geschlechter und die Aufhebung der Geschlechtertrennung nach?

Schnitzler: Ja, die Trennung der Geschlechter war konzeptionell gesehen sehr schnell erledigt. Frauen und MĂ€nner sind zusammengezogen. Das klappte meistens, manchmal auch nicht, wie das so ist. Die Geschlechtertrennung war sehr schnell zu Ende. Ich war Fortbildner und einer meiner ersten Kurse zu Beginn meiner TĂ€tigkeit hieß „Partnerschaft und SexualitĂ€t“. Das ging also schnell.

Schulz: Sie sprachen bereits von dem eigentlichen Konversionsprozess, der erst nach Mondry einsetzte. Welche GrĂŒnde mag es gehabt haben, dass das nicht zu seiner Zeit schon möglich war? War das nur das Geld?

Schnitzler: Nein, es war durchaus vieles möglich! Es ist auch vieles angelaufen, aber es war konzeptionell noch nicht so klar gefasst, so muss man das vielleicht sagen, sondern es blieb zunĂ€chst bei einzelnen Initiativen und das Herausragende fĂŒr mich ist weiterhin Station 17. Die ist ein Musterbeispiel fĂŒr die Konversion, die danach noch deutlich mehr an Fahrt aufgenommen hat. Es begann schon auch in der Zeit von Pastor Mondry, aber, wie gesagt, er war nicht der Charismatiker, der der Stadt Hamburg ein neues Alsterdorf prĂ€sentierte.

Schulz: Sie sprachen von der Rolle der Sozialbehörde. Hatten Sie den Eindruck, dass dort paradigmatisch schon deutlich weitergedacht wurde als das in Alsterdorf in Bezug auf die Behindertenhilfe der Fall war?

Schnitzler: Nein, aber darĂŒber weiß ich auch nicht so viel. Den Eindruck hatte ich ĂŒberhaupt nicht, sondern es standen zunĂ€chst mal SanierungsbemĂŒhungen im Vordergrund. Es fehlte schlicht das Geld. Alsterdorf sollte sparen und die Mitarbeitenden sind gegen die SparbemĂŒhungen, gegen die KĂŒrzungsbemĂŒhungen auf die Straße gegangen. Das kam dazu und hat sicher auch dazu gefĂŒhrt, dass konzeptionell vieles in ‘s Stocken geriet. Einen Paradigmenwechsel habe ich auf Behördenseite genauso wenig beobachtet wie auf Kirchenseite.

Ich finde auch, dass die Rolle der Kirchenseite in dieser Krise insgesamt sehr schwach war. Die Kirche stand ĂŒberwiegend hilflos daneben und hat weder hier etwas vorangetrieben noch da etwas ausgebremst. Sie war einfach hilflos

Schulz: Welche Rolle spielte das Diakonische Werk? Das ist ja nicht nur Kirche im klassischen Sinne, sondern die Diakonie als verfasstes Gremium. Spielte das eine Rolle bei der Frage, wie es in der Stiftung weitergehen könnte?

Schnitzler: Nein, meiner Meinung nach nicht. Ich habe natĂŒrlich nicht alles vollstĂ€ndig in der Zeit wahrgenommen, aber das Diakonische Werk spielte ĂŒberhaupt keine Rolle.

Schmuhl: Wenn Sie sagen, dass die Kirche verstĂ€ndnislos vor der Problematik stand und hilflos agierte, worauf fĂŒhren Sie das zurĂŒck?

Schnitzler: Ich vermute, dass sich niemand damit beschÀftigt hatte, dass man die Krise in der Psychiatrie hatte kommen sehen, obwohl es die Psychiatrie-EnquÚte 1975 gab. Also damals wÀre wirklich Zeit genug gewesen, aufzuwachen. Ich habe noch mal den Brief nachgelesen, den Bischof Hans-Otto Wölber damals geschrieben hatte. Da steht eigentlich nur drin: Bitte seid euch gegenseitig nicht so böse! Mehr stand da eigentlich nicht drin. Ich finde es vor allem deswegen so bemerkenswert, weil auch ein theologischer Paradigmenwechsel stattfand. Der war auch bereits ausgesprochen, nÀmlich in dem Satz Gerechtigkeit statt Barmherzigkeit, so dass sich die Kirche dazu hÀtte verhalten können.

Die Barmherzigkeit wurde bei den leitenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen vehement vertreten. Die waren teilweise schwer beleidigt, weil ihre so gute Barmherzigkeit nicht mehr gewĂŒrdigt wurde und da wĂ€re es auch die Aufgabe der Kirche gewesen, das aufzugreifen und deutlich zu machen, wie sich die Welt auch in der Theologie Ă€nderte.

Kutzner: Sie hatten eben die Sanierung angesprochen. Inwieweit hat die eine Rolle gespielt?

Schnitzler: Die Sanierung war vor allem eine finanzielle Sanierung. Das heißt, dass Alsterdorf aus Sicht der Behörde zu viel Geld ausgegeben und dadurch Schulden gemacht hatte. Deswegen sollte Alsterdorf nun weniger Geld ausgeben, d.h. Mitarbeiter entlassen, neue Konzepte, neue Wege wieder stoppen, konkret hieß das, keine neuen HĂ€user kaufen, auch keine mieten, weil das Geld fehlte. So sollte sich Alsterdorf sanieren. Sanierung funktioniert natĂŒrlich nicht, wenn man gleichzeitig viele neue Wege gehen will. Das gab Konflikte und Ärger und deswegen sind die Mitarbeitenden auf die Straße gegangen und haben demonstriert.

Schulz: Das Ganze kumulierte erst Mitte der 1990er-Jahre nach der Ära von Mondry zu einem Großkonflikt, als zunĂ€chst die Sanierungssituation in den Jahren 1995 und 1996 und dann das BĂŒndnis fĂŒr BeschĂ€ftigung und Investition 1998 passierten. Wenn Sie jetzt als dann Externer auf diesen Zeitraum zurĂŒckschauen, wie stark wĂ€re ihr Wunsch gewesen, da noch einmal mitmischen zu dĂŒrfen?

Schnitzler: Ich hatte abgeschlossen und war dann bei einem anderen TrĂ€ger der Behindertenhilfe in Hamburg beschĂ€ftigt. Ich habe das schon alles wahrgenommen, aber ich war nicht traurig, dass ich die Stiftung verlassen hatte. Es gab ĂŒbrigens fĂŒr meinen Abschied den konkreten Grund, dass ich Pastor Baumbach diesen Job nicht zugetraut habe. Damit lag ich falsch. Das habe ich hinterher gesehen und gemerkt, aber es hat mich nicht besonders in die Stiftung zurĂŒckgezogen, muss ich sagen. Außerdem war ich dort, wo ich dann gearbeitet habe, sehr zufrieden.

Schulz: An welchen Parametern haben Sie diesen Eindruck [von Pastor Baumbach] fĂŒr sich festgemacht? Der musste ja in seiner Zeit als Gemeindepastor entstanden sein, in der er schon in der Stiftung tĂ€tig war.

Schnitzler: Genau deswegen. Er saß bei allen möglichen Veranstaltungen in der Regel irgendwo hinten – das habe ich noch genau vor Augen – und sagte nichts, obwohl zu der Zeit alle etwas gesagt haben. Es war ja aufgeregte Zeiten. Wie gesagt, Pastor Baumbach stand hinten und sagte nichts.

Schmuhl: Ich möchte noch einmal zurĂŒckkommen auf das Gegensatzpaar Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. An diesen Begriffen knabbere ich noch etwas, weil die 1970er- und die 1980er-Jahre auch in kirchlichen ZusammenhĂ€ngen eine Zeit waren, in der ĂŒber Gerechtigkeit wieder neu nachgedacht wurde z.B. in Bezug auf das VerhĂ€ltnis zur sogenannten Dritten Welt. Wie erklĂ€ren Sie sich, dass dieser Transfer zum Bereich Eingliederungshilfe nicht funktioniert hat?

Schnitzler: Also ich kann da nur mutmaßen. Die Angriffe auf die Alsterdorfer Anstalten waren so vehement, dass diejenigen, die sich noch ein bisschen mit den Anstalten identifizierten, so geschockt waren, dass sie nur noch Verteidigung im Sinn hatten. Es gab einen Kreis von circa 30 altbewĂ€hrten Mitarbeiter*innen, an deren Spitze der damalige Bereichsleiter Schade stand, der sehr beredt war und der einfach nur beleidigt war, und zwar bis heute – es gibt da auch ein Buch von ihm, das Sie vielleicht kennen. So ging es vielen.

Damals habe ich die Mitarbeiterzeitschrift Umbruch gestaltet. Es gab im Umbruch einen Artikel zum Thema Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, auf den hin es einen wĂŒtenden Protestbrief aus diesem Kreis gab. Dessen Aussage war, dass es mit der Gerechtigkeit ja schön und gut sei, aber viel wichtiger sei die Barmherzigkeit. Letztere hat die persönliche IdentitĂ€t dieser Mitarbeiter*innen so geprĂ€gt, dass nach deren Vorstellung sie sich der armen Behinderten angenommen hĂ€tten, die die Gesellschaft nicht haben wollte, und dass sie es waren, die sich gekĂŒmmert hĂ€tten und auch schon vorher dies und jenes versucht hĂ€tten usw. Vielleicht lag es daran. Ich kann es nicht sagen. Vielleicht lag es am Zustand der Evangelischen Kirche in Hamburg, die auch nach dem Krieg als Landeskirche sehr lange brauchte, um zu SchuldeingestĂ€ndnissen zu kommen. Vielleicht ist die Besonderheit dieser Kirche in Hamburg vergleichbar mit diesem Thema.

Schulz: Ich schaue auf die Uhr. Die Zeit ist fortgeschritten. Gibt es aus dieser Runde noch eine letzte Frage?

Kutzner: Wie stehen Sie mittlerweile zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf?

Schnitzler: Alles, was dort passiert, finde ich sehr bewundernswert. Die Stiftung Alsterdorf ist, zumindest was die Behindertenhilfe angeht – die anderen Bereiche kann ich nicht beurteilen –, wirklich vorbildlich. Dort passiert viel und auch viel Gutes und es gibt immer noch den Freiraum fĂŒr Ideen und Perspektiven. Respekt!

Es hat eine Weile gedauert, bis aus dem Durcheinander klare Konturen entstanden. Birgit Schulz hat sicher viel dafĂŒr getan. Was dort passiert finde ich alles gut.

Kutzner: Vielen Dank.

Schmuhl: Vielen Dank auch von meiner Seite.

Schulz: Vielen Dank.