07 / 1989 – Interview mit Kai Boysen

Teilnehmende

Kai Boysen

Reinhard Schulz

Monika Bödewadt

Interview / Text

Bödewadt: Ich begrüße Dich zum Interview.

Boysen: Hallo Monika.

Bödewadt: Mein Name ist Monika Bödewadt. Wenn Du dich bitte einmal vorstellen möchtest.

Boysen: Mein Name ist Kai Boysen. Ich bin der ehemalige Betriebsstättenleiter von Barner16, habe vor 33 Jahren eine Band gegründet, die Station17 hieß, und arbeite seit 1982 in der Stiftung Alsterdorf.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich koordiniere das Projekt „Vierzig Jahre Dokumentation der Eingliederungshilfe in der Stiftung Alsterdorf“ und freue mich über das Interview mit Kai Boysen. Herzlich willkommen!

Du hast Anfang der 80er-Jahre in den Alsterdorfer Anstalten angefangen. Magst Du zunächst über den Beginn und Deine Motivation, hierher zu gehen, berichten?

Boysen: In meinem beruflichen Leben haben mich zwei Sachen interessiert, Musik, noch mal Musik und dann meine Arbeit in den Husumer Werkstätten. Dort habe ich 1980 meinen Zivildienst begonnen, habe zwei Jahre dort im Lager gearbeitet, war Fahrer, Gabelstapler, habe Springer in allen Montage- und Verpackungsgruppen gemacht und fand das ungemein spannend. Vorher habe ich Schallplattenverkäufer bei Karstadt gelernt.

Über ein Zivildienstseminar habe ich Leute aus den Alsterdorfer Anstalten kennengelernt, andere Zivis, die mir von ihrer Arbeit erzählt haben, und ich habe erfahren, dass man dort Heilerzieher lernen und dort auf Wohngruppen arbeiten konnte. Das war ja auch die Zeit, in der die Skandale dort bundesweit bekannt wurden. Ich hatte das dringende Bedürfnis, dort zu arbeiten, aber gleichzeitig auch Musik zu machen.

Schulz: Welche konkreten Bilder haben sich aus der Anfangszeit bei dir eingebrannt? Gibt es Bilder, die Du abrufen kannst?

Boysen: Ja. Mein erstes Praktikum habe ich auf der Wohngruppe 42 gemacht. Das war eine geschlossene Frauenstation, drei Stationen eines ehemaligen Wachsaals, der aufgelöst worden war. Dort arbeiteten ganz junge Heilerzieherinnen, und ich war der einzige junge Mann in dem Team – ich war gerade Anfang 20.

Mein erster Frühdienst war so, dass wir in ein Zimmer gingen und da waren nur drei Betten drin. Ich bin zum Fenster gegangen und wollte es aufmachen. Da schrie hinter mir jemand ’ducken’ und dann klatschte ein Haufen Kot an die Wand. Das war eine Bewohnerin; die hat morgens immer die Mitarbeiter damit begrüßt, dass sie mit Kot um sich geworfen hat. Dann war es so, dass z.B. in dem Zimmer keine Blumen standen, denn eine andere Bewohnerin hatte die Gewohnheit, Blumen und die Blumenerde zu essen.

Zu der Zeit bestand die Arbeit darin, dass man versuchte, in den Menschen überhaupt so etwas wie Persönlichkeit zu entwickeln. Das hieß, für individuelle Kleidung, Möbel und Bilder an den Wänden zu sorgen, Teppiche auszulegen und immer, wenn man morgens das zerstörte Zimmer sah, versuchte, alles wiederherzurichten und immer wieder so etwas wie eine lebenswerte Umgebung zu schaffen.

Schulz: Konnte man da überhaupt von Normalisierung oder Integration sprechen? Gab es Ansätze diesbezüglich?

Boysen: Das waren Menschen, die ihr Leben lang gefesselt, angekettet oder die eigentlich eine schlimme Art von Folter erfahren hatten. Ich hatte nicht gedacht, dass es so etwas noch gab! Das war wirklich krass! Nach zwei Monaten Praktikum bekam ich die Aufgabe, einzelnen Bewohner*innen Angebote zu machen. Das heißt: Ich bin dann mit denen spazieren gegangen, ins Kino oder durch die Stadt gegangen. Dabei machte ich alle möglichen Erfahrungen, was es bedeutete, mit jemandem, der so gut wie sein ganzes Leben in der Anstalt gewesen war, durch eine reizüberflutete Umgebung wie die Hamburger Mönckebergstraße oder den Hauptbahnhof zu gehen.

Schulz: Wie war das denn?

Boysen: Ich weiß noch ganz genau, wie ich mit einer Frau, die hieß Renate, am Hauptbahnhof war. Die hatte so einen Spiegeltick, die wollte immer alle Spiegel abreißen. Wir sind auf den Parkplatz gekommen, und da hat sie sich von mir losgerissen und versucht, am Auto den Spiegel abzubrechen. Ich hielt sie fest und versuchte, sie wegzuziehen. Das muss für die anderen ausgesehen haben wie: Da kommt so ein Punker und versucht, eine Frau zu überfallen! Es gab auf jeden Fall ein großes Durcheinander, aber ich konnte die Situation klären.

Das war das Krasseste! Das war sozusagen mein prägendstes Einstiegserlebnis in Alsterdorf.

Schulz: Du warst damals Zivildienstleistender.

Boysen: Ja und Heilerzieherschüler.

Schulz: Heilerzieherschüler. Hattest Du damals den Eindruck, dass es schon pädagogische oder andragogische Konzepte gab, mit denen gearbeitet wurde?

Boysen: Auf jeden Fall! Das Team der Wohngruppe 42 und deren Leiterin – ach jetzt fällt mir der Name nicht ein, die war später auf der Heilerzieherschule auch Anleiterin für die Praktikanten*innen, meine Anleiterin damals hieß Astrid Maddey – haben mir sehr viel vermittelt. Alle waren frisch ausgebildete Heilerzieher*innen, die versuchten, nach den Konzepten, die sie gelernt hatten, Normalität zu etablieren z.B. durch geregelte Tagesabläufe und kleinere [Beschäftigungs-]Angebote.

Niemand aus dieser Gruppe ging in der Werkstatt und es gab auch noch keine Tagesförderung. Im Kellerraum des Wilfried-Borck-Haues war ein Kellerraum, wo wir Spielematerial und anderes Material hatten. Dort gingen wir vormittags ab zehn Uhr für zwei Stunden hin, um dort eine Beschäftigung anzubieten. So ein Keller ohne Licht ist sehr triste, wenn man dort zwei Stunden sitzt und Mensch-ärgere-dich-nicht oder Klötze zu spielt. Aber es ging einfach darum, irgendwie eine Struktur in den Tagesablauf zu bringen und Menschen, die erst mal auch mit Ablehnung reagierten, überhaupt ein Stück Leben nahezubringen.

Schulz: Du bist dann irgendwann rausgewechselt aus dem weiblichen Gebiet. Lag das daran, dass du die Heilerzieherausbildung abgeschlossen hattest?

Boysen: Ja, ich hatte die Heilerzieherausbildung abgeschlossen. Und bin dann auf die Wohngruppe Abteilung 49 im Karl-Witte-Haus gekommen.

Schulz: Also Männergebiet.

Boysen: Ja, Männergebiet. Das gab es damals noch. Es gab zwar nicht mehr diese den Zaun durch Alsterdorf, aber es gab immer noch die Aufteilung Männer/ Frauen. Und das Karl-Witte-Haus war ein Männerhaus.

Da habe ich dann das Gegenteil [zu der Frauen-Wohngruppe] kennengelernt. Das waren die Menschen aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten, die das Dritte Reich überlebt hatten, die es geschafft hatten, der Vernichtung zu entgehen. Das waren die sogenannten Pfleglinge, die in den Bombennächten immer zum Löschen rausgeholt wurden. Die anderen waren im Keller und die waren draußen und versuchten, zu löschen. Viele von denen türmten, weil der Zaun niedergebombt war, meldeten sich dann an der Alster als ausgebombt, verteilten sich haben sich [in der Stadt] und wurden nach dem Krieg wieder eingefangen.

Damals waren die alle um die 70 oder 80 alt. Der Älteste, Arnold Gebhard, war 89 Jahre. Das war der ehemalige Bursche vom Pastor Lensch. [Pastor Lensch kooperierte mit den Nazis, verantwortete die Deportation behinderter Menschen aus den Alsterdorfer Anstalten und war der Auftraggeber für das diskriminierende Fresko, das jetzt am Lernort hinter der Nikolauskirche steht]. Der erzählte mir immer, wie das da war und dass die Betreuer SA-Uniform unter den Kitteln und Schaftstiefel anhatten. Er [Gebhard] war der Stiefelknecht und musste sich immer bücken, um dem Herrn Anstaltsleiter die Stiefel an- und ausziehen.

Das waren die Menschen, die ich damals kennenlernte.

Schulz: Also da ging es um den Lebensabend von Bewohnern, die ganz lange da waren und das Dritte Reich erlebt beziehungsweise überlebt hatten.

Boysen: Genau. Das war eine Wohngruppe, wo überwiegend noch die älteren Kollegen waren, die also noch die 1960er und 1970er Jahre kannten. Michael Marquardt war lange MAV-Mitglied, Marlies Orht und ich waren die einzigen mit einer heilpädagogischen Ausbildung.

Schulz: Wie vollzog sich der Lebensabend und wie war das Konzept, das Ihr mit den älteren Männern verfolgt habt?

Boysen: Wir versuchten einfach, den Lebensabend so schön wie möglich zu gestalten. Wir fingen z.B. mit so spannenden Sachen an, dass wir die Menschen z. B. abends fragten, was sie essen wollten. Fragen wie Möchtest du Wurst oder Käse? oder Was würdest du gerne mal essen? hatten sie ihr Leben lang nicht erfahren! Wir fingen an, am Wochenende zu kochen Was würdet Ihr denn gerne mal essen? Da kam dann Birnen, Bohnen und Speck oder irgendwie Gerichte, die sie ewig nicht mehr gegessen hatten. Also wir versuchten, das Konzept der Anstaltsküche aufzubrechen, in dem wir einfach mit Genuss arbeiteten. Wir machten einfach schöne Dinge!

Bödewadt: Was mich so fassungslos macht, ist, dass sich das nach dem Kriege noch so hinziehen konnte in die Nachkriegszeit! Die Alliierten haben Deutschland ja befreit und die KZs geöffnet, aber wenn ich manchmal so Geschichten von den Alsterdorfer Anstalten höre, dann ist das nicht weit entfernt davon. Das bestürzt mich! Wie konnte das passieren?

Boysen: Die Menschen, die dort gearbeitet haben, wurden ja nicht plötzlich ausgewechselt. Das waren die gleichen, die auch im Krieg dort gearbeitet hatten. Sie hatten nur ihre Uniform ausgezogen, wurden entnazifiziert und arbeiteten trotzdem weiter. Ich weiß nicht, wie lange Pastor Lensch noch in den Alsterdorfer Anstalten tätig war. Aber noch bis in die 70er-Jahre hinein wurde dort ein sehr rigoroses Regiment geführt.

Es gab auch eine ganz andere Sicht auf Menschen mit Behinderung. Es war eine Sicht, die aus der Medizin kam und nicht aus der Pädagogik. Die Pädagogik fing erst in den 1970er Jahren mit der Heilerzieherschule an– ich weiß gar nicht, wann die gestartet ist. Erst da fing man, Konzepte wie z.B. das sogenannte Normalisierungskonzept‘ von Bank-Mikkelsen, ein modernes Konzept, das aus Skandinavien kam, umzusetzen und umzuleben. Das bedeutet ein rigoroses Umdenken. Viele ältere Mitarbeiter*innen wollten sich damit überhaupt nicht auseinandersetzen und sahen überhaupt nicht ein, was sie falsch gemacht hatten, und die jungen Menschen konnten sich nicht so schnell durchsetzen. Aber es gab in Alsterdorf den Kollegenkreis und junge Leute wie Michael Wunder, Georg Schnitzler und Birgit Schulz, glaube ich, also viele Leute, die frischen Wind brachten, aber auch kritische Fragen stellten.

Schulz: Du bist dann irgendwann von Abteilung 49 in die Abteilung 17 gewechselt. Wie war das und war das zu deiner Zeit als Student oder hast du da schon fest gearbeitet?

Boysen: Wie bin ich auf Abteilung 17 gekommen? Es war eine Stelle frei und der damalige Wohngruppenleiter, Thomas Steinberg, ist gegangen – mit dem hatte ich zusammen auf der 49 angefangen. Thomas Steinberg wurde Wohngruppeleiter auf der 17 und folgte ihm nach. Zuerst habe ich auf der 17c, auf der geschlossenen Wohngruppe gearbeitet und nach eineinhalb Jahren bin ich auf die 17 a/b, auf die offene Wohngruppe gewechselt. Dort fing ich an, Kulturarbeit zu entwickeln.

Schulz: Ich habe hier ein Protokoll vom 13.07.1989, geschrieben von Herrn Georg Schade in der Region Ost. Da geht es in Top 3 um das Musikprojekt Karl-Witte-Haus: „Zu diesem Tagesordnungspunkt ist Herr Kai Boysen von der WG 17.1.2 erschienen. Herr B. berichtet über den Sachstand und die nächsten Ziele bezüglich des Musikprojektes.“ Erinnerst du dich an diese Situation?

Boysen: Oh ja, sehr gut, denn erst auf Abteilung 17 fing ich an, meinen Beruf richtig ernst zu nehmen. Gleichzeitig hatte ich aber diesen zweiten Beruf: Ich war Musiker, hatte eine Band, habe Schallplatten produziert und ging auf Tournee. Ich hatte sozusagen immer dieses Wechselspiel zwischen Musikbusiness und Wohngruppe. Dort war es genau wie auf der Abteilung 49. Die Menschen hatten keine Angebote. Die meisten saßen auf der WG und nur eine Handvoll ging in die Werkstatt. Tagesförderung gab es überhaupt nicht! Die Bewohner*innen waren die meiste Zeit auf der Wohngruppe.

Da habe ich angefangen, mit den Menschen, die mir dort begegneten, Musik zu machen. Ich habe ihre Vorlieben gesehen und erlebte, wie sie auf die Musik reagierten, die aus dem Radio kam, oder die sie von ihren Eltern oder von ihren Angehörigen bekommen hatten – Kinderkassetten, Volksmusik, Schlager –, und wie sie diese Musik interpretierten. Wenn man sich diese Volksmusik wegdachte und nur das anhörte, was sie selber daraus machten, wie sie das interpretierten, klang das wie Avantgarde-Musik. Genau das passte zu meinen eigenen künstlerischen Konzepten – ich hörte damals die Einstürzenden Neubauten und viele experimentelle Musikbands aus der Punk– und New-Wave-Zeit und hatte dann die Idee, mit einzelnen Leuten [der WG], die mir künstlerisch gefielen, in ein Tonstudio zu gehen und einfach auszuprobieren, was man machen könnte. Das hat sehr gut geklappt.

Ich bekam erst mal viel Unterstützung von Thomas Steinberg, der mit mir zusammen zu Herrn Schade ging. Der fand das Konzept erst mal gut, weil ich gleichzeitig gesagt hatte, dass wir mit Prominenten zusammenarbeiten würden. Wir hatten damals guten Kontakt zu Drafi Deutscher, zu den Toten Hosen, den Einstürzenden Neubauten und ich sagte: Wir könnten doch mal, wenn wir Musik produzieren, prominente Musiker fragen, ob sie uns unterstützen. Das hat soweit ganz gut funktioniert. Man unterstützte mich, indem man mir Stunden zugestand, in denen ich in der bezahlten Arbeitszeit mit den Bewohnern Musik machte.

Die ersten Probeaufnahmen spielten wir der Plattenfirma Phonogram vor – heute ist das die Universal Music Group – und Louis Spielmann, der Chef dieser Platten-Firma, fand das Konzept sehr fortschrittlich und gut und sagte: Okay, wir finanzieren das! Wir sorgen für Produzenten und für den ganzen Unterbau und Du und Deine befreundeten Musiker, Ihr macht den Rest! Dann habe ich ein methodisches Konzept geschrieben – das ist das, was du da zitiert hast –, und habe das Ganze an die Leitung [der Alsterdorfer Anstalten] gegeben. Es war ein ausgearbeitetes Konzept und es tauchte natürlich sofort die Frage auf: Warum macht man das? Ich, als Künstler frage mich natürlich nicht: Warum mache ich eine Schallplatte, warum mache ich Musik? Aber ein Pädagoge fragt natürlich: Der will mit Menschen mit Behinderung in ein Tonstudio gehen? Was soll das, warum macht der das? Es ging natürlich nicht darum, zu sagen, dass wir ein Benefiz machen oder Geld verdienen wollen, sondern es ging darum zu sagen, dass wir damit eine nachhaltige Entwicklung anstoßen und eine nachhaltige Kultur in der Stiftung Alsterdorf – wir reden von 1988 – anstoßen wollen! Wir wollten Räume einrichten für künstlerische Arbeiten! Darum ging es. Eigentlich sollten nur zehn Wochenstunden pädagogische Arbeit finanziert werden, damit ich dieses Projekt weitermachen konnte. Das Ende von dieser Sitzung war, dass Pastor Mondry das [die Wochenstunden] ablehnte und mir sagte, ich könnte das gerne privat machen oder die Wohngruppe müsste sich überlegen, wie das Projekt weitergehen sollte. Aber von Alsterdorf gäbe es kein Geld mehr.

Schulz: Wie ging’s dann weiter?

Boysen: Ich habe umsonst gearbeitet, zwei Jahre lang und zwar ziemlich viel! Und um zu überleben, fing ich an, Sozialpädagogik zu studieren, und habe Bafög kassiert. In den ersten drei Semestern suchte ich mir natürlich die Seminare raus, die ich auf der linken Backe absitzen konnte, weil ich Heilerzieher gelernt hatte und da musste ich nicht noch mal etwas über Grundlagen der Pädagogik lernen. Ich bin nur noch zu den Klausuren in die Uni gegangen. Gleichzeitig sah ich, dass es dort eine Ausbildung zum Musiktherapeuten in der sozialpädagogischen Praxis gab und begann noch ein Zusatzstudium Musiktherapie. Dort habe ich sehr viel gelernt und habe das sehr intensiv gemacht.

Schulz: Und wie ging’s dann mit dem Thema Station17 weiter?

Boysen: Wir brachten das erste Album 1991 heraus. Es hat nicht den Riesenerfolg gehabt, den wir uns das erträumt hatten. Es gab mehrere 1000 Euro an Einnahmen, mit denen konnten wir einen Musikraum einrichten. In der Auftaktveranstaltung spielten die Toten Hosen im Herntrichsaal. Das war Klasse!

Parallel fing ich an, mit Musikern aus der Hamburger Musikszene, aus der sogenannten Hamburger Schule, Konzerte in Alsterdorf zu veranstalten. Da haben dann mit Blumenfeld gespielt, Captain Kirk, die Sterne Dub Reggae Bands. Es spielten dort Musiker aus dem Umfeld der Roten Flora, d.h. einmal im Monat gab es ein Konzert und Disco. Und diese Disco, Station17 tanzbar ist die Veranstaltung, die es bis heute gibt. Sie fing eigentlich 1991 im Herntrichsaal an.Unser Zivi, Henry Voss, hat dann immer aufgelegt. Und Herr Köhler vom Café im Karl-Witte-Haus verteilte Würstchen und Cola.

So ging‘s los. Dann brachten wir das zweite Album raus. Die Plattenfirma Phonogram hatte gesagt: Das war Hilfe zur Selbsthilfe. Ihr müsst jetzt selber klarkommen! Inzwischen gab es aber Unterstützung von der Stiftung Alsterdorf. Die Öffentlichkeitsarbeit hatte sich massiv eingeschaltet. Herr Schnitzler und Frau Heise unterstützten uns bei allem, was wir machten. Die hatten sehr schnell erkannt, dass das eine gute Art und Weise war, das Image der Stiftung Alsterdorf zu verbessern. Es war ja auch die Zeit, in der die nächste Skandalwelle kam. Nach den 70er-Jahren hatten wir ja dann die „Anhängerkupplung“ – Geschichte. [Der Begriff „Anhängerkupplung“ ist als Signalwort für einen Skandal zu verstehen und bezieht sich darauf, dass sich der damalige Vorstandsvorsitzende Mondry in für die Stiftung finanziell schweren Zeiten an seinen Dienstwagen eine Anhängerkupplung für die private Nutzung anbringen ließ. Dies wurde skandalisiert und führte zu seinem Weggang]. Und es gab noch weitere Vorkommnisse. Die Umstände waren eigentlich ganz andere. Es ging nicht wirklich um Korruption. Aber das Image der Stiftung in der Öffentlichkeit hatte doch arg gelitten. In der Zeit gab es viel Presse, viel positive Berichterstattung über die Arbeit von Station17. Wir hielten natürlich immer die pädagogische Qualität der Arbeit der Stiftung hoch und berichteten immer wieder darüber, dass nicht ganz Alsterdorf korrupt war, sondern dass eigentlich viele Kolleg*innen waren, die versuchten, die Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderung nachhaltig zu verbessern.

Schulz: Nachdem das Zeit-Magazin 1979 sehr negativ über die Stiftung berichtet hatte, gab es dann zu euch einen Stern-Artikel und auch einen Artikel im Spiegel und noch in anderen Zeitschriften, glaube ich,

Boysen: Die Zeit, zweimal.

Schulz: In Die Zeit – Beiträge zu euren Engagements.

Boysen: Ja, das war spannend. Die Station17 bestand einmal aus Hamburger Musikern, die gar nichts mit der Stiftung zu tun hatten und die auch ehrenamtlich arbeiteten. Eigentlich waren die gar nicht ehrenamtlich. Wir haben uns einmal die Woche mit Leuten von der Wohngruppe zum Proben getroffen und hatten Spaß und Party und niemand hat über Geld nachgedacht. Das war überhaupt kein Thema. Also Stunden, die man bezahlt haben wollte…gar nicht! Auf der anderen Seite waren es Kollegen aus verschiedenen Wohngruppen und Bereichen, die da mitmachten, Thomas Coldt aus dem Wilfried-Borck-Haus z. B. du [zu Reinhard Schulz] z. B. als Wohngruppenleiter. Dann war da noch Andrea Trumm, die arbeitete im Karl-Witte-Haus, dann Rüdiger Hirte, der in der Tagesförderung arbeitete.

Wir brachten das zweite Album heraus, das dann zu diesem Medienerfolg wurde. Das hieß „GenauSo“ und dann stand die erste Deutschlandtournee an. Unter anderem hatte sich ein Fotoreporter der Zeit gemeldet, der mitfahren und alles fotografieren wollte. Dann kam es leider zu Konflikten, weil einzelne Bereichsleiter aus der Tagesförderung nicht einverstanden waren, dass die Mitarbeiter dieses Bereiches mitfuhren, weil sie ja nur einen Behinderten mitgenahmen. Das war natürlich schräg und dann gab’s Konflikte. Das schaukelte sich bis zum Vorstand hoch. Irgendwann, hat dann Herr Scheile – oder wie hieß der Vorstand noch? –

Schulz: Ja, es gab einen Herrn Dr. Scheile –

Boysen: ein Machtwort gesprochen und wir durften alle miteinander auf Tournee fahren. Daraus ergab sich dann diese Foto-Story. Die Geschichte dazu schrieb dann eine Journalistin, die uns in der Stiftung besucht hatte. Sie hatte nicht nur über uns und unsere Arbeit positiv berichtet, sondern auch über das, was sie dort vor Ort [in der Stiftung] erlebt hatte und darüber, wie das Leben in der Stiftung Alsterdorf sich geändert hatte. Das war natürlich für die Stiftung auch ein Supererfolg, zu zeigen, wie positiv sich gerade die Welt der Stiftung Anfang der 90er-Jahre und wohin sie sich entwickelte.

Schulz: Genau.

Boysen: Wir haben uns vor allen Dingen für die Alte Küche stark gemacht, aus der ein Kulturzentrum entstehen sollte.

Schulz: Mitte der 90er-Jahre war dann die Sanierung der Stiftung an der Reihe, denn die Stiftung war wirtschaftlich pleite. Wie hast du das damals in deiner Funktion, in deinen Aufgaben erlebt, was da in der Stiftung passierte?

Boysen: Wir waren voll beschäftigt mit Musik und Theater und hatten gleichzeitig eine Theatergruppe gegründet, die Thomas Coldt aufgebaut hatte. Ich leitete weiter die Musikgruppe und arbeitete beim Theater mit. Thomas war natürlich auch bei der Musik mit dabei, denn er war ja in erster Linie ein Musiker und zwar ein ziemlich guter. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben wir gar nicht so richtig mitbekommen. Wir hatten ein gutes Auskommen als Kulturreferenten. Wir hatten einen festen Job bei Frau Heise, also in der Öffentlichkeitsarbeit, und haben daher die Veränderungen nur so am Rande mitbekommen.

Irgendwann rief uns Frau Heise zu sich, das war glaube ich 1998 oder 1999, und sagte, wir müssten uns auf Veränderungen einstellen – Herr Kraft hatte damals die Devise herausgegeben: Wir machen nur noch das, was bezahlt wird! Wir hatten noch gar nicht so richtig realisiert, dass das auch uns betreffen könnte. Da war erst mal die Erkenntnis: Okay, was wir machen, ist zwar pädagogisch sinnvoll und auch für die Stiftung sinnvoll, aber es passt eigentlich in keine Schublade der Refinanzierung. Es ist nicht Tagesförderung, es ist nicht Werkstatt im klassischen Sinne, es ist nicht Musiktherapie, es ist keine Freizeitpädagogik. Ja, was ist es dann? Es ist professionelle Kulturarbeit, es ist inklusive Kulturarbeit, die es so in dieser Form in Deutschland noch nicht gibt und für die es auch keine Kostensätze gibt!

Wir hatten aber durch ein professionelles Management angefangen hatten, Geld zu verdienen. Am Anfang war das noch so richtig alternativ gewesen: Wir nehmen Geld an der Konzertkasse ein und wir teilen uns das Geld, ob behindert und nicht-behindert, jeder kriegt einen Schein! Das war natürlich an allen Regeln vorbei. Solange das noch so im Taschengeldniveau war, war das noch in Ordnung, aber als wir dann plötzlich 2000 Euro durch ein Konzert einnahmen, kamen dann auch Fragen nach Steuer auf und die Frage, ob das auf ein Spendenkonto eingezahlt werden muss. Da wurden natürlich Geister geweckt, die sagten: Das kann so nicht bleiben! Man muss auch dazusagen, zu dieser Zeit waren die meisten Musiker von Station17 mit einer Behinderung Mitarbeiter der Alsterdorfer Werkstätten. Dort gab es eine Leiterin des sozialpädagogischen Dienstes, das war nicht Gudrun Schulz, die davor – jetzt habe ich den Namen vergessen, die war später bei den ELBE-Werkstätten –, die hat einfach ganz frech entschieden,

Schulz: Frau Fritschi.

Boysen: – Frau Fritschi, ganz genau! Frau Fritschi sagte einfach: Wenn ihr auf Tour geht, dann könnt ihr das ruhig machen. Das ist ein berufsbegleitendes Angebot, wir haben da nichts dagegen. Das war anders als bei unseren Vorläufern im Kulturbereich, den Schlumpern. Die hatten mit Herrn Gnars in dieser Hinsicht mehr Schwierigkeiten, glaube ich. Frau Fritschi sagte einfach vollkommen unkompliziert: Macht mal! Das fanden wir cool. Wir hatten überhaupt keine Probleme! Wir hatten mit allen möglichen Bereichen, mit den Wohngruppen, mit der Tagesförderung, immer wieder Probleme. Aber mit wem hatten wir keine Probleme? – Mit Alsterarbeit, weil, die einfach entspannt waren!

Schulz: Damals hieß die noch Alsterdorfer Werkstätten.

Boysen: Alsterdorfer Werkstätten, ja.

Schulz: Genau. 2000 haben wir den Geschäftsbereich Alsterarbeit gegründet und den Versuch gestartet – ich war mit dir beteiligt, wir waren ja gemeinsam beteiligt –, zu schauen, ob wir Eingliederungshilfeleistungen aktivieren können, um diese Professionalisierungsideen im künstlerischen Bereich gut zu realisieren. Wie hast du das damals erlebt? Was kannst du dazu erzählen?

Boysen: Wir steckten gerade mitten in den Vorbereitungen des nächsten Albums und es war einfach nur anstrengend, denn dieser Prozess, die Tagesförderung und die Werkstatt zusammenzuführen und dann noch die Kulturinitiativen aus Hamburg mit an Bord zu nehmen – das war ja mit verschiedenen Workshops und Seminaren verbunden –, war ein Prozess, der sich über anderthalb Jahre hinzog. Zwischen all diesen Aufgaben noch gute künstlerische Arbeit zu machen und sich auch noch mit diesen Strukturfragen zu beschäftigen, das war sehr, sehr anstrengend! Man merkte doch, dass da zwei Welten, also die Tagesförderwelt und die Werkstattwelt aufeinanderprallten, die nicht wirklich zusammengehören wollten. Und sagen wir mal so, die etwas ruppigere Umgangsform in der Werkstatt traf auf eine etwas weichgespülte Pädagogen-Welt. Wir Künstler hingen dazwischen und hatten ganz andere Dinge im Kopf. Ich fand es anstrengend! Thomas hat sich sehr schnell aus diesen Seminaren herausgehalten und sich um eine neue Theaterproduktion gekümmert. Andrea und ich und auch Rüdiger mit Martin Rand vom Beat-Club machten das sehr intensiv mit. Das war eine Gruppierung innerhalb des Tagesförderbereichs, die auch an Kultur interessiert war. Wir versuchten gemeinsam, uns da durchzumogeln oder unseren Platz zu bekommen. Da die zukünftige Alsterarbeit sich auch für die Alte Küche interessiert hatte, konnten wir uns sehr schnell verständigen über eine grundsätzliche Bereitschaft von uns, von der Öffentlichkeitsarbeit zur Alsterarbeit zu wechseln, denn das bedeutete für alle Beteiligten feste Jobs, keine Zukunftssorgen mehr, Strukturen die verlässlich waren. Ja, es bedeutete einfach nur Positives.

Schulz: Und wie kam es dann zur Gründung von Barner16, also derKunst- und Kulturbetriebsstätte? Magst du das kurz erzählen?

Boysen: Wir hatten auch auf die Leitungskräfte der Alsterarbeit eine sehr positive Wirkung, aber es gab einige Gruppenleiter und auch einige Sozialpädagogen, die diese etwas von oben verordnete Entscheidung So, die Künstler gehören jetzt zu uns nicht so positiv sahen. Das lag an einer ganz einfachen Sache. Da wir keine Vollzeitarbeit anbieten konnten, sondern höchstens zwei Tage Arbeit in der Woche, waren die Künstler*innen mit Behinderung weiterhin in ihren [Werkstatt-]Arbeitsgruppen, aber eben zusätzlich. Statt 24 Leute in einer Arbeitsgruppe saßen dann plötzlich 25 oder 26 am Tisch. Die Gruppenleiter*innen fnden es überhaupt nicht schön, dass sie an einigen Tagen Leute zusätzlich betreuen mussten, also Co-Arbeitsplätze, die eigentlich zu uns gehörten. Aber wir waren nur ein ganz kleines Team und mussten uns ja auch um die ganze Produktion, Organisation und um die ganzen sozialpädagogischen Aufgaben kümmern.

Also die Arbeit mit den Beschäftigten und mit der Institution wurde zunehmend anstrengend und hat mich irgendwann vollkommen zerrissen, weil ich zuletzt sechzehn Stunden am Tag gearbeitet habe. Wir arbeiteten auch zu anderen Zeiten [als die Werkstatt]. Wir fingen eher am Vormittag an und arbeiteten bis in den Abend rein oder arbeiteten am Wochenende. Teilweise habe ich sogar den Fahrdienst gemacht, weil niemand sich verantwortlich fühlte, Michael Schlappkohl um 11.00 Uhr von Harburg zu den Alsterdorfer Werkstätten oder zu Alsterarbeit zu fahren. Ich bin morgens losgefahren, habe ihn mit meinen Privatauto abgeholt und nach Alsterdorf gefahren. Da verbrachten wir dann den Tag miteinander, machten Musik und abends fuhr ich ihn wieder nach Hause. Da kommt schnell ein Zwölf-Stunden-Tag zusammen. Wenn ich dann zu Hause war, habe ich angefangen, mich um die künstlerischen Projekte zu kümmern. Und irgendwann war es Mitternacht. Das habe ich mehrere Jahre gemacht, bis mir dann irgendwann die Luft wegblieb. Das war dann eine weniger schöne Zeit. Ich musste dann sozusagen erst mal tief durchatmen und beschloss dann – ich war dann auch Anfang Vierzig –, die künstlerische Arbeit aufzugeben, und kümmerte mich voll um den sozialpädagogischen Teil meiner beruflichen Laufbahn. Ich überlegte: Wie kann Kunst und Kultur nachhaltig in der alsterarbeit quasi etabliert werden? – Zu dieser Zeit wurde ich von dir ja zum Betriebsstättenleiter eingesetzt. – Es gab die neue Struktur Betriebsstätten und Betriebsstättenleiter, und es gab die Betriebstätte Station17. Ich dachte sofort: Nein wir machen jetzt ein Künstlernetzwerk, das wie eine Betriebsstätte von alsterarbeit organisiert ist, aber die darf nicht Station17 heißen, denn das ist eigentlich nur eine Band. Die besteht aus acht Leuten und nicht aus mehr. Wir brauchen jetzt ganz schnell einen Namen, denn es hieß alles alster-…, alsterkontec, alsterspectrum, alstergärtner, alster-was-weiß-ich-was, alsterskript und so weiter. An dem Tag, als wir unseren Namen vergaben, fiel mir nichts anderes ein, als den Straßennamen zu nehmen und deswegen heißen wir, weil wir in der Barnerstraße waren, Barner16.

Schulz: Wie kam es zu der Idee, nicht mehr die Kulturküche, die Alte Küche zu nutzen, sondern nach Altona zu gehen?

Boysen: Nach fünfzehn Jahren Kampf um dieses Haus hatte ich erkannt, dass es eine Baustelle zu viel war und dass das nicht mehr unsere Aufgabe war. Die Arbeit um dieses Haus hatte vor allen Dingen deswegen so Kraft gekostet und war so unmöglich geworden, weil die Kosten, die es bedeutete, dieses Haus zu renovieren, in die Millionen gingen, sodass ich dachte: Diese Baustelle ist mir zu groß! Herr Schade sagte uns Anfang der 1990er-Jahre: Warum wollen Sie sich denn so ein Riesenhaus an die Backe hängen? Da brauchen Sie zehn Jahre zu! Da hatte ich noch gegrinst und dachte: Was glaubst du, in vier Jahren steht das Ding! Inzwischen waren fünfzehn Jahre vergangen und es war noch nichts passiert. Irgendwann bin ich, glaub ich, mal ziemlich verärgert bei dir [Reinhard Schulz] im Büro aufgeschlagen und habe gesagt: Ich habe es satt! Dann habe ich mich auf mein Fahrrad gesetzt, bin durch Altona gefahren und habe in jeden Hinterhof reingeguckt, bis wir dann in der Barnerstraße diese Baustelle fanden, wo gerade eine Disco entstand. Diese Disco wurde von einem Freund von unserem Bassisten als Architekt betreut und der sagte: Wir haben hier noch 200 Quadratmeter, mit denen wir nichts anzufangen wissen. Darauf sagte ich: Die mieten wir und machen Proberäume daraus! Damit fing das an.

Schulz: Welche Highlights gab es mit Barner16 – wir haben jetzt nicht mehr so viel Zeit in dem Interview – und welche Highlights in der Entwicklung gab es in den Folgejahren deiner Ansicht nach?

Boysen: Das eine Highlight war die Wiedergeburt von Station17. Die Bandwar in den 1990er-Jahren auch wegen der Alten Küche langsam eingeschlafen und die freien Musiker*innen aus der Hamburger Szene hatten sich nach und nach verabschiedet, weil sie nicht mehr bei alsterarbeit arbeiten wollten. Sie waren immer noch freie Musiker*innen und sagten: Okay, das war‘s jetzt für uns. Wir sind raus!

Dann kam eine neue Generation von Praktikant*innen von der Sozialpädagogenschule. Die haben sozusagen die Instrumente in die Hand genommen und sich die Zeit genommen, wieder eine Band aufzubauen. Und das war dann Station17, die zweite Version. Diese nächste Generation hat dann das Album Goldstein-Variationen herausgebracht, und zwar nach den Grundprinzipien, nach denen wir das in den frühen 90er-Jahren gemacht haben, also mit prominenten Musikern, aber auch mit einem ganz einheitlichen Sound. Sie haben sich wirklich wieder sehr intensiv um die persönlichen Beziehungen zu den Menschen gekümmert. Es standen wieder die Menschen mit Behinderung im Mittelpunkt und nicht mehr die Institution und ihre Strukturen. Um die Institution und ihre Strukturen habe ich mich gekümmert, ich bin Sozialpädagoge, ich weiß wohl, wie das geht, und die Musiker, die Sozialpädagogik studiert hatten, hatten plötzlich die Freiheit, wieder Künstler zu sein.Das war dann das erste Highlight.

Dann machten wir verschiedene Theaterproduktionen. Wir haben mit Christoph Grothaus, der bei uns für Musiktheater und für berufliche Bildung verantwortlich war, Musiktheater gemacht. Dann kam das nächste Highlight. Am Anfang fand ich es anstrengend, dass wir mit dem Theater wieder zusammengelegt wurden, wir waren eine Zeit lang mal getrennt. Und da kamen die ersten Produktionen gemeinsam mit Barner16 und Station17 und Meine Damen und Herren, so hieß das Theater inzwischen, in dem wir unsere gesamten Potentiale zusammenführten. Das waren wunderbare tolle Produktionen, die wir dort zusammengebracht haben!

Es ist uns auch gelungen, eine Finanzierung für das Theater aufzubauen, indem wir nicht mehr nach der Großen Kunst geschaut haben nach dem Motto Wir wollen in Schauspielhaus oder auf sonstige Staatsbühnen, sondern uns eher um die Soziokultur kümmerten, d.h. wir machten Projekte mit Kindern gemacht, mit Geflüchteten, wir machten Projekte gemacht mit unseren Nachbarn im Bunker der Feldstraße (dort war die Probebühne des Theaters), mit Hajousom, dem Theater der Geflüchteten, wir machten Stadtteilarbeit und Projekte in Kooperation mit der Bugenhagenschule. Wir hielten nicht Ausschau nach der großen Bühne Schauspielhaus, sondern eher nach der kleinen Bühne Stadtteil und am meisten nach der Kulturfabrik Kampnagel in Barmbek. Das war einfach der richtige Weg!

Schulz: Sie haben eine Frage? [zu Frau Bödewadt]

Bödewadt: Worin siehst du die Bereicherung von Station17 und Barner16 für den gesamten Hamburger Kulturbereich?

Boysen: [Sie sind eine Bereicherung] nicht nur für den Hamburger Kulturbereich, sondern für die inklusive Kulturarbeit in Deutschland und Europa, denn überall haben sich Initiativen gebildet, auch in anderen Ländern! Viele der deutschen oder auch der Hamburg Kulturinstitutionen, die selber Projekte entwickelt haben, berufen sich auf uns und auf unsere Konzepte. Wir haben viele Praktikanten aus ganz Deutschland, vor allem aus Süddeutschland, und Österreich. Die sind ein halbes Jahr oder ein Jahr bei uns und gehen dann wieder zurück in ihre Region und bauen eigne Projekte auf. Das heißt, wir sind Multiplikatoren geworden. In der Presse und in der Fachwelt werden wir als Impuls- oder als eine Urzelle der Inklusion gesehen. Inklusion wurde von vielen, vielen Menschen in Deutschland entwickelt, aber es gab immer so ein paar Highlights oder bestimmte Dinge, die populär wurden und die dann prägend waren. Deswegen gibt es in Berlin, in München, überall Projekte und Bands, Theatergruppen, bildende Künstler und so weiter. Manche sind bekannt, manche sind weniger bekannt. Wir haben niemals darauf geachtet, dass wir ein Alleinstellungsmerkmal haben und dass wir die einzigen sind, sondern es war im Gegenteil immer unser Anliegen, möglichst viel von der Idee in die Welt zu tragen.

Schulz: Wenn du jetzt mal schaust, was in zehn Jahren sein wird, wie steht dann Barner16 da? Es jetzt nicht nur Station17 und das Theater „Meine Damen und Herrn“ zu euch, sondern auch die Schlumper sind, jedenfalls organisatorisch gesehen, auch Bestandteil von euch, obwohl sie ein eigenes Atelier haben. Wo steht das Ganze aus deiner Perspektive in zehn Jahren?

Boysen: Meiner Meinung nach wird es die Werkstatt so wie sie es heute gibt, nicht mehr geben. Die Diskussion um die Löhne, um die Strukturen hat begonnen. Es geht dabei darum, noch mal genauer hinzugucken, was gehört eigentlich in den professionellen Kunstbereich und was gehört eher in die pädagogisch-künstlerische Arbeit. [Es geht darum,]mehr den Fokus darauf zu setzen, auch wenn sich das nach Eliteförderung anhört, dass die Künstler, die auf dem Ersten Arbeitsmarkt der Kunst arbeiten können, dort auch stärker verankert sind, dass wir z.B. nicht mehr diesen Zwang haben, an fünf Tagen die Woche acht Stunden zu arbeiten, sondern dass es eher darum geht, sich an den Strukturen von echten Künstlerarbeitsplätzen zu orientieren. Niemand, der ein echter Berufskünstler ist, fängt Montag morgens um 9.00 Uhr an, zu arbeiten und hört immer um 16.00 Uhr auf, sondern die Berufskünstler arbeiten manchmal ganz intensiv, dann gibt es Phasen mit weniger intensivem Arbeiten, manche haben mehrere Berufe, arbeiten nebenbei auch in anderen Bereichen, sind in der Lehre tätig oder machen Workshops. Wir müssen das viel diverser gestalten: Weg von dieser Kulturarbeit, die sich sehr an den Strukturen der Werkstatt orientiert, hin zu einer nachhaltigen Entwicklung einzelner Künstler, die es auch wert sind, sodass es viel normaler wird, auch in allen möglichen Bereichen Künstler mit Einschränkung zu treffen und niemand sich mehr drüber wundert.

Bödewadt: Nach welchen Kriterien hast du dir deine Leute unter den Beschäftigten zusammengesucht?

Boysen: – Nach Schönheit!

Gelächter.

Boysen: Meine Frau ist auch Künstlerin und ihre Professorin – Maria Lassnig war ihre Professorin – hat immer gesagt, dass sie sich ihre Studenten nach Schönheit aussucht. – Nein, bei unseren Beschäftigten, geht’s erst mal nach Interesse, also ist bei demjenigen ein wirkliches Interesse an Kultur vorhanden oder geht’s nur darum, irgendwie Zeit totzuschlagen? Wir gucken: Hat jemand etwas zu sagen, hat jemand Ausdruck, hat jemand Charakter, ist jemand in der Lage, zu experimentieren, versucht jemand, etwas zu entwickeln, also hat jemand wirkliches Interesse? Es geht gar nicht so sehr darum, dass jemand ein Instrument spielen kann oder dass er etwas, was zum künstlerischen Handwerk gehört, schon perfekt beherrscht. Das kann man bei uns lernen. Es geht darum, ob jemand etwas Künstlerisches mitbringt. Teilweise ist es auch so, dass wir Leute einstellen, weil wir Plätze besetzen müssen oder weil ein bestimmter Druck herrscht, und dann merken wir, dass es manchmal Leute gibt, die falsch bei uns sind, und dann versuchen wir, sie woanders unterzubringen. Manchmal merken es die Menschen auch selber und suchen sich dann bei alsterarbeit einen anderen Arbeitsplatz oder verlassen uns. Aber sie wechseln!

Das hast Du ja auch gesehen, Monika! Wir haben so viele Bereiche, in denen man arbeiten kann. Wir machen Digitalisierung, wir machen Siebdruck, wir machen Theater, wir machen Filme, wir machen Literatur usw. Manchmal ist das Theater und seine Strukturen jemandem zu viel und er geht dann in die Siebdruckwerkstatt und fühlt sich da in einer eher ruhigen Atmosphäre besser. Deswegen gibt es ja auch immer die Querwechsler. Oder es gibt Streit in einer Gruppe – das haben wir auch gehabt! Plötzlich streiten sich zwei in einer Band, die vorher Superfreunde waren, und dann müssen sie vielleicht in zwei verschiedenen Häusern arbeiten.

Schulz: Die Zeit ist fortgeschritten. Ich möchte gerne noch eine Frage stellen. Wenn du mit deiner heutigen Erfahrung, mit dem Ganzen, was passiert ist, zurückblickst auf den Anfang, was würdest du jetzt, wenn du den Anfang noch mal machen könntest, ganz anders machen als damals oder was würdest du genauso machen oder würdest du es überhaupt nicht mehr so machen?

Boysen: Ich würde mir nicht noch mal so eine Riesenbaustelle wie die Alte Küche anhängen. Ich habe das wirklich als verschwendete Arbeitskraft und Mühe angesehen. Wir hätten uns von Anfang einfach mehr um die Inhalte kümmern können, denn die Inhalte standen 1988 fest, aber es hat bis 2004, bis zur Gründung von Barner16 gedauert, bis wir die Inhalte wirklich umgesetzt hatten. Dazwischen haben wir nichts anderes gemacht als unsere Band gepflegt, uns um ein Haus gekümmert und uns mit Strukturen von Alsterdorf herumgeschlagen, denn an diesem Haus waren zu viele Leute interessiert. Das würde ich nicht noch mal machen, sondern von vorne herein sagen: Erst die Inhalte und das andere später!

Schulz: Genau. Was hat dein Engagement mit den künstlerischen Dingen dazu beigetragen, dass die Stiftung Alsterdorf heute in der Eingliederungshilfe als relativ inklusiv und innovativ dasteht? Was waren eure Beiträge aus deiner Sicht?

Boysen: Unsere Beiträge waren die, dass wir immer wieder sozusagen die Fahne der Inklusion hochgehalten haben und andere haben sich natürlich auch daran orientiert. Ich denke schon, dass wir auch im Wohnbereich Eindruck hinterlassen haben. Es gab immer Kollegen, die uns nicht so sehr mochten, die sagten: Ah, die stehen ständig in der Zeitung, die sind arrogant und die wollen immer nur gelobt werden, Künstler halt! Und es gab andere, die sehr interessiert bei uns reingeschaut haben und auch mal zu uns gewechselt sind. Es sind ja auch Leute vom Wohnbereich als Musiker zu uns in die Barner gewechselt, z. B. Stefan Gundelmann und Oliver Rumkorf von der alsterdorf assistenz ost.

Ich denke, wenn man so ein Projekt wie Station17 unter sich hat, dann muss auch der Rest so funktionieren. Es kann nicht sein, dass man ein Leuchtturmprojekt hat und alles andere läuft weiter wie bisher. Von daher denken wir dankbar daran, dass wir viel Unterstützung vom Vorstand bekommen haben, nachdem am Anfang der Vorstand eher skeptisch war. Es hat mit Pastor Baumbach angefangen bis zu Herrn Haas und Frau Stiefvater und alle, die jetzt noch da sind, Frau Schulz, alle waren Fans von uns und haben uns unterstützt. Wenn man von ganz oben unterstützt wird – von dir natürlich auch Reinhard! –, dann kann das nicht so schlecht sein, was man macht!

Bödewadt: Herzlichen Dank, Kai, dass du mitgemacht hast!

Schulz: Vielen Dank und alles Gute!