07 / 1989 – Interview mit Dr. Michael Wunder

Teilnehmende

Reinhard Schulz

Nico Kutzner

Michael Wunder

Hans-Walter Schmuhl

Transkription

Kutzner: Guten Tag, mein Name ist Nico Kutzner von 17motion, herzlich willkommen hier zum Interview. Wenn Sie sich bitte vorstellen könnten.

Wunder: Danke, Nico. Ich bin Michael Wunder, bin Psychologe und Psychotherapeut von Beruf und werde nächstes Jahr 40 Jahre in Alsterdorf gearbeitet haben.

Schulz: Reinhard Schulz. Ich arbeite fĂĽr das Dokumentationsprojekt Vierzig Jahre Eingliederungshilfe-Entwicklung in der Stiftung.

Schmuhl: Hans-Walter Schmuhl. Ich bin Historiker und schreibe im Auftrag der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zusammen mit der Kollegin Ulrike Winkler eine Darstellung der Geschichte dieser Einrichtung von den Anfängen bis in die Gegenwart hinein.

Kutzner: Wie haben Sie den Umbruch in Ihrer Zeit erlebt?

Wunder: Erst mal ist zu sagen: Ich habe den ganzen Umbruch erlebt, und zwar – 1981 bin ich gestartet – von der gewesenen Anstalt, wo ich gleich von Anfang an zuständig war für ein riesiges Quartier oder ein Haus, in dem 220 Frauen untergebracht waren, Frauen mit Behinderung – bis zum heutigen Punkt, wo unsere Menschen mit Handicaps quer über die Stadt verteilt leben, wo wir Ambulantisierung aller Dienste auf allen Stufen haben. Ich bin beglückt, dass wir so weit gekommen sind, würde aber sagen, dass wir noch nicht am Ende des Weges sind.

Schulz: Wie hast du die Anstalt damals vorgefunden, als du 1981 dorthin kamst? Was hat sich an Bildern oder auch an Momenten eingebrannt, sodass du sie immer noch präsent hast?

Wunder: Als Erstes hat sich eine Oberschwester mit einer großen Haube bei mir eingebrannt, Schwester Helga. Die hatte bei der Bewerbung ein Wort für mich eingelegt und ihr habe ich es zu verdanken, dass ich in Alsterdorf eine Stelle bekommen habe, was ich während des Bewerbungsgesprächs irgendwie nicht gemerkt hatte. Im Gegenteil, ich ging davon aus, dass alles schiefgegangen war. Als ich dann in Alsterdorf war, hat sich bei mir wirklich eingebrannt, dass ich einerseits als Fachberatung zuständig wurde, was sich dann aber fast als Leitung des Frauenhauses Weiblich-II entpuppte – wobei, ich wollte durchaus mit Erwachsenen arbeiten, da ich aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie kam –, und ich andererseits in eine Anstaltswirklichkeit kam mit Massenschlafquartieren, mit Schwestern, die teilweise in Ordenstracht waren, mit Teams, die verschüchtert waren. Es war ein Kulturschock!

Kutzner: Wie wurden die Leute damals behandelt?

Wunder: Sehr unterschiedlich. Es ist keinesfalls so, dass alle gequält wurden. Es gab zwar den Wachsaal, der gegenüber von dem Haus war, für das ich zuständig war – ich war ja für den Hohen Wimpel zuständig, der Wachsaal war im Guten Hirten, den gibt’s heute schon gar nicht mehr –, und allen schwebte dieser Wachsaal als Damoklesschwert über dem Kopf: Wenn ich hier nicht alles richtig mache, also ich als Bewohnerin, dann komme ich rüber. So hieß es auch: Dann kommst du rüber! Dann kommst du in den Wachsaal! Und der Wachsaal, der ja eigentlich von seinem Ursprung her einen medizinischen Charakter hatte – man kann aber lange drüber streiten, was für eine Art von Medizin das wohl war –, war später und ganz bestimmt in den 1970er und 1980er Jahren ein Disziplinierungsinstrument, eine Bestrafung. So wurde es auch von allen erlebt. Mit anderen Worten: Wir arbeiteten immer entweder im Bereich des Trostes oder der Verhinderung, dass jemand in den Wachsaal kam. Es war dann auch zunehmend die Aufgabe der Psychologen, die sogenannten schweren Fälle – was immer das auch sein mochte – zu betreuen und so zu begleiten, dass sie sich teilweise angepasst haben. Natürlich haben wir zum Teil versucht, dass die Teams anders arbeiteten. So gab es zum Beispiel die morgendlichen Appelle wie Hände aus den Schürzentaschen – alle hatten im Weiblichen Bereich Schürzen an – und Kämme vorzeigen. Jede Frau hatte ihren Kamm dabei, auch so ein irrsinniges Anstaltsdetail, was gar keinen wirklichen Sinn ergab, aber sie mussten die Kämme vorzeigen, die natürlich sauber sein mussten, wenn nicht, dann mussten sie in der Ecke stehen. Das ist auch dokumentarisch belegt von einigen Bewohnern, die später im Film Mitten in Hamburg oder im Film Alsterdorfer Passion davon berichtet haben. Ihr könnt euch vorstellen, wie wir Psychologen das fanden und wie sich bei uns der Magen verkrümmt hat! Wir waren alle jung, hatten ziemlich struppige Frisuren und kamen aus einer anderen Welt, also ich habe in einer Wohngemeinschaft gelebt. Und es hat sich wirklich erst ziemlich langsam entwickelt und das erste Stichwort der Reform war „Auszüge“.

Schulz: Hast du in dieser Phase irgendwelche Ansätze zum Thema Normalisierung und Integration erlebt, also das, was in der Eingliederungshilfe in den 1980er-Jahren eigentlich das Paradigma war?

Wunder: Ja.

Schulz: Hast du davon irgendwas in der Anstalt damals erlebt?

Wunder: Sehr viel sogar, denn ich habe ja jetzt nur den Anfang erzählt. Also die weiblichen und männlichen Erwachsenenbereiche waren der Hort des Rückschritts. Aber im Kinder- und Jugendbereich – den gab es ja damals auch schon, der war gerade von dem Michelfelder Haus in das Wilfried-Borck-Haus umgezogen, das ja heute schon leergewohnt ist und anderen Zwecken dient, also eine rasante Entwicklung – hatte Herr Borck das Normalisierungsprinzip aus dem Dänischen übertragen ins Deutsche [gemeint ist das Normalisierungskonzept des Dänen Bank-Mikkelsen], was man als große Tat bezeichnen kann, obwohl Herr Borck sicherlich auch sehr konservative Dinge getan hat. Und diese Idee wurde im Kinder- und Jugendbereich wirklich ernst genommen, tröpfelte aber nur in ganz kleinen Dosierungen in die Erwachsenenbereiche hinein. Normalisierungsprinzip hieß: Es muss einen geregelten Tagesablauf und einen geregelten Jahresablauf geben. Das kollidierte eigentlich gar nicht so richtig mit der Anstaltsideologie. Allerdings, dass man jeden einzelnen Geburtstag jetzt feierte – das ist auch so ein Bank-Mikkelsen-Prinzip –, das war schon etwas Neues, weil es immer hieß: Die merken ja gar nichts! So war die Ideologie! Also, wir sind im Millimetertempo vorangekommen.

Und – wenn ich die Episode gerade erzählen darf – ich war natürlich geprägt von der Idee der Anstaltsauflösung. Ich war voll mit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie identifiziert. Anstaltsauflösung war das Stichwort des Tages. Und um überhaupt diese radikal andere Anstaltswirklichkeit mit dem, was eigentlich in unseren Köpfen und Herzen war, zusammenzubringen, habe ich Schwester Helga ein Auszugsprojekt aufgeschwätzt. Im männlichen Bereich gab es schon ein Vorbild von Herrn Schade und ich habe gesagt: Es gibt doch bei uns Bewohnerinnen und Bewohner – so wie wir uns damals ausdrückten –, die wirklich rauswollen, die rausmüssen und ein anderes Leben führen können! Dann haben wir uns so langsam darauf vorbereitet. Wir hatten ein Haus in Wohldorf gefunden. Und eines Morgens kam Sigrid Riegener, eine alte Bewohnerin, die bis vor Kurzem noch in Alsterdorf gelebt hat, auf mich zu und sagte mir mit ihrer Freundin Anni zusammen – die waren ein unzertrennliches Paar – fast unter Tränen: Michael, werden wir abtransportiert?! Das hat mir so einen richtigen Schock versetzt. Das heißt, ich habe da erst begriffen, dass, obwohl die Anstaltswirklichkeit so verheerend negativ war, die Menschen dort Wurzeln geschlagen und auch eine Art Heimatrecht hatten und dass der Gedanke, dort auszuziehen, den wir ja als Beglückung empfunden haben, Angst auslöste: Wir müssen hier raus! Wir kommen hier weg! Wir werden abtransportiert! Es war eine Beglückung von außen, die auch sehr offensichtlich viel zu schnell kam.

Die Anstaltsgeschichte, mit der ich mich ja dann über Jahrzehnte beschäftigt habe, hat bei dieser älteren Generation der Bewohner und Bewohnerinnen eine Gravur im Herzen und in der Seele hinterlassen: Abtransport bedeutet Unheil. Wegkommen bedeutet Unheil. Und das Wort Abtransport war damals bei den Bewohnerinnen und Bewohnern präsent. Damals hatte ich nur eine blasse Ahnung von dem, was alles in der NS-Geschichte in Alsterdorf passiert war. Ich wollte einfach sagen: Ich habe immer wahnsinnig viel von den Bewohnern und Bewohnerinnen gelernt!

Kutzner: Wie hat man versucht, diese Situation zu verändern?

Wunder: Ja, das war sehr schwierig. Die beiden [Frauen], die so eine Angst hatten, sind nie ausgezogen. Die haben gesagt, das ist uns zu gefährlich, hier auszuziehen. Für die beiden hatte es sich gelohnt, wie ich finde, denn andere zogen aus und die haben dann zu zweit ein Einzelzimmer bekommen, also eine Privilegierung. So lief das eben. Diese Hierarchisierung, dieses strenge Reglement hatte natürlich auch immer Gewinner und Verlierer. Aber andere sind ausgezogen und das war sozusagen der Fuß in der Tür dafür, dass auch dieser Weiblich-II-Bereich, der extrem konservativ war, weil die Alsterdorfer Schwesternschaft darin noch so stark verankert war, schon einmal so einen kleinen Blick in die Zukunft gewagt hat.

Es wurde dann über der alten Wäscherei [heute: Spende und alsterdialog] eine Wohnetage eingerichtet. Die war schon freiheitlicher, aber es war noch lange diese Hierarchie vorhanden, denn es gab die Besseren, die im Anstaltsjargon Abiturientinnen hießen, weil sie ein bisschen rechnen und schreiben konnten. Auch das ist ja einerseits fast liebevoll, andererseits ist es auch eine extreme Diskriminierung, weil die, die so genannt wurden, ja wussten, dass sie keine Abiturientinnen sind, aber man hat so eine Art Kunstwelt geschaffen. Also das war der Anfang. Die weitere Entwicklung ist natürlich doch rasant gewesen. Schwester Helga hat die Stiftung dann auch irgendwann verlassen.

Schmuhl: Ich wollte an einen Punkt anknüpfen, den du vorhin schon angedeutet hast. Als Psychologe warst du ja zu dieser Zeit ein ziemlicher Fremdkörper in diesem Anstaltskosmos. Das war ja etwas Neues, dass da Psychologen kamen. Was waren die Erwartungen, die an dich herangetragen wurden, und wie vertrug sich das mit den Perspektiven, die du selbst entwickelt hast, und wie ist das zusammengekommen?

Wunder: Das Interessante ist ja, dass ich nicht alleine gekommen bin, sondern mit einem ganzen Schwung von Psychologen. Nach dem ZEIT-Skandal [– im Jahr 1979 berichtete das ZEITmagazin zweimal über die unhaltbaren Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung in den Alsterdorfer Anstalten –] gab es verschiedene Wellenbewegungen. Alsterdorf musste etwas tun und irgendwann hieß es: Wir müssen jetzt Psychologen einstellen, denn das gehört heute zum guten Ton. Und das meinte auch Schwester Helga, die sagte: Ich brauche unbedingt in meinem Bereich einen Psychologen! Da hat sie mich genommen. Ich war auch sehr jung, muss ich sagen, hatte gerade drei Jahre Berufserfahrung hinter mir und passte da gerade gut rein. Für sie war es vielleicht auch eine Demonstration dafür, ein Wagnis einzugehen. Wir Psychologen wurden am Anfang von der obersten Leitung, von Pastor Schmidt, der sagte, ich brauche Psychologen als Feigenblatt gesehen.– Schwester Helga und Herr Tauscher und wie sie alle hießen, auf der Männerseite, haben das übernommen, aber die hatten gar keine Vorstellung davon, was Psychologen eigentlich alles machen –,: Wir haben jetzt Psychologen! Dann kann unsere Anstalt ja nicht mehr so schlimm sein! Und genauso wurden wir auch kleingehalten. Wir waren für alles Mögliche zuständig, sobald wir aber so etwas sagten wie: Ja, dann müsste man mal hier einen Neubau planen oder das alles reduzieren oder den Menschen Arbeit verschaffen – auch das war ein riesiges Thema –, kam die Antwort: Das können die gar nicht, das wollen die auch gar nicht! Und das war im Grunde genommen so wie in der Schulpsychologie. Auch die Schulpsychologen wurden zunächst als Feigenblatt in den Schulen in den 1980er-Jahren eingeführt und konnten kaum etwas machen, bis sich durchgesetzt hat, dass ein eigener Berufsanspruch dahintersteckt und damit eine Spirale in Gang gesetzt wurde, die nicht mehr aufzuhalten war, denn nach uns kamen die Sozialpädagogen und die Diplompädagogen – die gab es ja vorher auch nicht – und die anderen Berufsgruppen. Und diese vielen jungen Menschen, gut ausgebildet und mit anderen Ideen, haben natürlich diesen Apparat langsam ins Wanken gebracht.

Kutzner: Konnten die Psychologen die Situation ändern?

Wunder: Ja, das ist eine sehr schwierige Frage und, um da objektiv zu sein, bin ich wahrscheinlich der Falsche, weil ich ja selber Psychologe bin. Also wir waren zumindest der Anstoß für Veränderungen. Es war schon was, dass überhaupt Psychologen aufgetaucht sind, wir waren ja am Anfang nur zehn neue Personen, nur zehn, aber das waren alles Psychologen! Das muss man sich heute mal vorstellen! Das war die erste Berufsgruppe, die mit Macht in diese Anstaltswirklichkeit hineinkatapultiert wurde. Das hat schon etwas ausgelöst, überall waren Psychologen. Aber wir waren vereinzelt. Ich war für den Bereich Weiblich-II, meine Kollegin für Männlich-I zuständig und so weiter. Wir haben eine Psychologenkonferenz eingeführt, die war aber am Anfang, also die ersten zwei Jahre, die Konferenz, wo wir uns gegenseitig immer unsere Verwirrung und den Stillstand gegenseitig erzählt haben und dass wir gar nichts tun können.

Aber wir konnten doch etwas verändern, indem wir zum Beispiel sagten: Wir brauchen jetzt einen Sozialpädagogen oder eine Sozialpädagogin! Wir brauchen jetzt dieses und jenes! Das war ein langsamer Prozess. Wenn ich was gelernt habe, ist es diese extreme Geduld, wie man althergebrachte Organisationsformen verändert. Ab irgendeinem Punkt kann man die nicht mehr von innen verändern und das ist ja auch die Geschichte von Alsterdorf, dass eigentlich die Anstöße doch immer von außen kamen. Aber es war wichtig, von innen her auch nachzuschieben. Der sogenannte Kollegenkreis war absolut tonangebend in diesem Anstoßgeben. Aber er wurde von all den internen Leitungskräften dauernd diskriminiert und isoliert und es wurde gesagt: Oh, das sind schon wieder diese Flugblattverteiler an der Pforte! Wir haben diese Flugblätter als Psychologen zum Beispiel immer überall verteilt, aber ich muss ehrlicherweise sagen, ich zum Beispiel war nicht Mitglied im Kollegenkreis, die haben mich, glaube ich, als zum Freundeskreis zugehörig empfunden nach dem Motto, dem kann man die Flugblätter anvertrauen, der lässt sie dann irgendwo liegen. Es war ja verboten, diese Flugblätter in der Anstalt zu haben, und ich meine, wenn die irgendwo rumliegen, weiß ja keiner, wo die jetzt herkommen. Also das war so ein bisschen die Funktion. Aber das ebbte zu dieser Zeit schon ab. Ende 1981 und Anfang 1982 gab es – das ist jetzt wieder eine andere Geschichte – auch Prozesse und eben auch Gegenversammlungen. Damit hatten wir Psychologen dann nicht mehr so viel zu tun, aber wir verdanken natürlich unsere Existenz, also dass wir eingestellt wurden, dem Kollegenkreis. Diese Wende 1979 von dem ZEIT-Artikel an über den Kollegenkreis bis zur Einstellung von Psychologen, danach aber Sozialpädagogen, das ist eine interessante Zeit, weil die Anstalt nicht anders konnte und gar nicht so schnell gemerkt hat, dass die Weichen plötzlich umgestellt wurden. Man meinte wohl, man kann sich schmücken, aber im Grunde genommen so bleiben und dann ging es wirklich interessant weiter.

Wir Psychologen haben uns ja extrem aus dieser Situation auch wieder herausentwickelt. Denn dafür, eine Dienstbesprechung zu strukturieren und Protokolle auf Abteilungsebene zu schreiben, waren wir uns ein bisschen zu schade, und es kam eine Phase, wo wir uns alle als Entwicklungspsychologen verstanden haben, wo wir das, was Menschen mit Behinderung erlebten und wie sie vielleicht auch zu fördern waren, entwicklungspsychologisch aufgearbeitet, verstanden und auch zu diesem Thema publiziert haben. Bis heute ist dies eine Grundlage für die Diagnostik geblieben, also für die emotional-soziale Diagnostik, nicht für die Intelligenzdiagnostik. Das haben wir damals schon begriffen und wurden deshalb immer mehr in eine Fachberatungssituation gebracht, was auch richtig war, weil dieses andere An-der-Basis-Arbeiten, das heißt, wie man überhaupt in der Struktur arbeitet, das haben die Pädagogen übernommen, genauer die Sozialpädagogen und auch noch andere Berufsgruppen, zum Beispiel gut ausgebildete Pflegekräfte. Die Professionalisierung ist dann weitergegangen; denn sowie die Anstalt aufgewacht war und immer mehr Menschen, die dort wohnten, begriffen, das ist ihr Leben, das sie in die Hand nehmen konnten – ich rede von einem Einfach-so-normal-Leben, das für die Bewohner und Bewohnerinnen damals keine Selbstverständlichkeit war –, gab es natürlich auch Menschen, die sehr traurig wurden oder die nicht weiterwussten und Psychotherapie brauchten. In diese Lücke sind wir dann reingegangen. Wir haben begriffen, dass Psychologen, Psychotherapeuten gebraucht werden, und haben uns qualifiziert zu Psychotherapeuten. Mit dem Weggang von Pastor Schmidt – das war für mich persönlich wie die Vorwegnahme des Weggangs von Schwester Helga – ist die ganz alte Garde abgetreten.

Was dann aber kam, war im Grunde genommen ein Drama, weil die Kirche sich dafür zuständig fühlte, die Lücke zu füllen, und Pastor Kohlwage [der interimistische Nachfolger von Pastor Schmidt] schlicht eine Fehlbesetzung war. Der hatte zig andere Aufgaben, konnte sich kaum kümmern und war außerdem ideologisch sehr festgelegt. Aber was dann kam, das war das Drama. Weil – so haben wir das erlebt – keiner sich wirklich [für die Nachfolge] bereit erklärt hatte und zur Verfügung stand, wurde eben Probst Mondry genommen, der am Anfang ganz offensichtlich dazu keine Lust hatte, wenn man das mal so salopp sagen darf. Und das war für uns zunächst sehr, sehr schwierig, weil wir natürlich auf diesen Leitungswechsel ganz stark gehofft hatten, um das Schiff in die andere Richtung zu kriegen – ich meine, wir waren ja mittlerweile wie so eine Nachfolgeorganisation des Kollegenkreises. Wir, die jungen Menschen verschiedener Berufsgruppen und auch die Menschen, die auf den Abteilungen direkt arbeiteten, waren eng vernetzt und hatten schon eine ziemliche Gruppenstärke, auch in der Mitarbeitervertretung. Wir hatten so sehr gehofft, dass mit Mondry wirklich die neue Zeit beginnen würde.

Aber man muss sagen, dass Mondry sich damit abgefunden und sich eingearbeitet hat. Und dann hat er einen ganz tollen Schritt gemacht. Das darf man nicht vergessen. Er hat die Alsterdorfer Anstalten in Evangelische Stiftung Alsterdorf umbenannt. Und zwar nicht aus Wortkosmetikgründen – das haben wir damals auch teilweise missverstanden und auch dagegen geschimpft: Ja, ja, jetzt ist das immer noch die alte Anstalt und jetzt wird das kosmetisch gestrichen! Nein, er wollte das Evangelische in den Vordergrund stellen, was ja eigentlich interessant ist, denn wie konnte man das, was vorher war, evangelisch nennen! Das ging eigentlich gar nicht! Er wollte das Evangelische in den Vordergrund stellen und wollte sagen, dass es eine Stiftung ist, und Stiftungist auch ein Öffnungsbegriff, also vieles ist unter einem Stiftungsdach möglich. Das war ein richtig guter Akt, muss man sagen.

Auch was mich persönlich angeht, hat Mondry das Ruder dann doch herumgedreht. Ich habe noch unter Schmidt angefangen, die NS-Geschichte aufzuarbeiten, was mir dann von Kohlwage untersagt wurde – ich habe drei Kündigungsversuche überlebt, weil die zu duselig waren, die Kündigung formgerecht auszusprechen, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Unter Kohlwage wurde ich zitiert, ich musste nach vorne kommen, so hieß das in der Anstalt früher: Komm mal nach vorne! Vorne war die Pforte – das kann man sich heute gar nicht vorstellen, das war wie in der Schule! Du musstest nach vorne kommen! – und im ersten Stock saßen Herr Heine und der Direktor, und da musste man antreten, beim Vorzimmerdrachen im Zimmer warten und dann wurde man reingelassen. Dann musste ich nach vorne kommen zu Herrn Kohlwage und wurde verhört, weil ich – ich weiß nicht mehr genau, im Abendblatt stand ein Artikel über mich – über die NS-Vergangenheit, die aktiv beschwiegen wurde in Alsterdorf, berichtet hätte. Und das sollte ich zurücknehmen. Ich hatte schon ein Buch vorbereitet und auch gefragt, ob ich das veröffentlichen dürfte. Das war das Buch „Sie nennen es Fürsorge“. Das war natürlich ein böser Titel, aber dazu stehe ich heute noch. „Sie nennen es Fürsorge“, sie nennen es nur so. Und da wurde mir nun verboten, das Buch zu veröffentlichen. Gott sei Dank fiel mir ein: Ja, gut, wenn sie mir das verbieten, ich möchte den Job behalten, okay. Aber ich habe ja einen Co-Autor und auf die Art und Weise hat sich die Freundschaft zu Udo Sierk vertieft, denn ich habe danach Udo angerufen und gesagt: Du bist doch mein Co-Autor, oder? Und dann wurde es von Udo Sierk veröffentlicht. Der war der Sprecher der Krüppel-Initiativen Hamburgs. Und so ist dieses erste Buch über Alsterdorf erschienen. Und Mondry hat das Ganze dann umgedreht und mich beauftragt, sogar mit einer Teilfreistellung, ins Archiv zu gehen und die Geschichte gründlich aufzuarbeiten. Die Unterlagen hatten wir ja nicht, wir hatten bei dem ersten Buch nur die Unterlagen der Staatsanwaltschaft, von Dietrich Kuhlbrodt – also Dietrich Kuhlbrodt ist seither bis auf den heutigen Tag ein wirklich superguter Freund von mir. Auf jeden Fall war es so, dass ich damals ins Archiv gehen und dies [die NS-Vergangenheit der Anstalten] richtig aufarbeiten sollte. Das war Mondrys Tat und so kam es zu dem Buch „Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr“. Denn ich habe gesagt, das ist so gut, dass ich dazu einen Theologen bräuchte und einen Historiker, weil das beides nicht meine Disziplinen wären, Medizingeschichte schon, aber das andere nicht. So ist das Buch entstanden und das war auch Mondry. In bestimmter Weise war er sicherlich auch hemmend, aber er hat die Dezentralisierung eingeführt. Das ist jetzt die gesamte Strukturgeschichte, die ersten Schritte dazu. Mondry hat nicht blockiert, dass die NS-Geschichte aufgearbeitet wurde, im Gegenteil, er hat das gefördert. Ich finde, er hat da schon viel geleistet, auch wenn sein Ende etwas traurig ist.

Schmuhl: Ja, du hast ja auch eine prominente Rolle gespielt.

Wunder: Stimmt.

Schmuhl: Es hat eine heftige Auseinandersetzung gegeben um deinen RĂĽcktritt aus dem Stiftungsrat. Kannst du das noch mal kurz aus deiner Sicht schildern?

Wunder: Ja, ich wurde dann irgendwann während dieser bewegten Zeit in die Mitarbeitervertretung gewählt – das ist aber auch eine lange Geschichte, warum und wieso, gegen den Willen der Gewerkschaft übrigens. Auf jeden Fall wurde ich auch Mitarbeitervertreter – wir hatten immer drei Mitglieder – und Mitglied des Stiftungsrates. Im Stiftungsrat gab es natürlich immer diese Personalbesetzungsdebatten Wer kommt neu in den Vorstand? und dann wurde Herr Kraft berufen, der ja auch in der Stiftungsgeschichte eine große Rolle spielte und später mein Vorgesetzter wurde. Herr Kraft war Industriemanager und sagte: Für dieses diakonische Gehalt gehe ich bei euch nicht in den Vorstand! Und da hat der Hauptausschuss, ohne dass wir das im Gesamtstiftungsrat mitgekriegt haben, gesagt: Gut, der soll dieses hohe Gehalt haben! Daraufhin hat sich Mondry ganz offensichtlich bei der Kirche rückversichert, ob er in diesem Fall gleichziehen könnte. Und die Perfidie dieses Verhältnisses zwischen Kirche und Diakonie oder Alsterdorf war, dass die Kirche ihm – es gibt, glaube ich, keinen empirischen Beleg dafür – sagte, er dürfe die gleiche Gehaltsforderung stellen. Als er sie dann gestellt hatte und wir veröffentlicht hatten: Der Pastor will 39 Prozent mehr Lohn, während die Lohnrunde für die Angestellten gerade einmal 1,5 Prozent ergeben hatte – wir durften das ja nicht veröffentlichen, das war auch wieder so, dass eben ein bestimmtes Papier auf den Kirchenstufen gefunden wurde, wo das drinstand, keiner wusste, wie das auf die Kirchenstufen gekommen war –, da gab es eine riesige Protestwelle auch in der Hamburger Presse. Mondry hat dann argumentiert: Ich muss diese Gehaltsforderung stellen. Wenn die übrigen Vorstände so viel kriegen, dann ist das Wort des Pastors nicht mehr viel wert, wenn er so viel weniger kriegt.

Dann wurde Maria Jepsen zur Bischöfin bestellt und man trennte sich von Mondry. Man wollte Ruhe haben und verhinderte so, dass dieser Skandal hochkochte, und sagte: Dann geht das so nicht mehr! Das ist die Vorgeschichte von Baumbach, der bis zu diesem Zeitpunkt – er war ja unser Gemeindepastor – stillgehalten hatte. Also damit hatte niemand gerechnet, dass der nun Anstaltsdirektor oder Vorstandsvorsitzender werden könnte. Das ist jetzt sehr kurz zusammengefasst. Mondry hatte also in gewisser Weise ein Drama hinter sich, nämlich fallengelassen worden zu sein und in sein Verderben gerannt zu sein. Die Schlagzeile, die es damals gab, die war mir mal spontan auf einer großen Versammlung eingefallen, weil ich auch immer viel mit Spenden zu tun hatte – damals gab es noch Mitarbeiterversammlungen mit Hunderten von Mitarbeitern –, und da hatte ich in das Mikrofon gesagt: Was mich so empört, ist diese Moral: Brot für die Welt, aber wenn es um den Vorstand geht, Torte für uns! Und das stand dann in der Morgenpost und noch woanders. Daraufhin waren die natürlich ziemlich sauer auf mich. Das kann ich nachträglich auch verstehen. Wir haben dann ja noch so eine Betontorte gebacken und vor die Vorstandstüre gestellt. Das waren lustige Zeiten, muss ich mal sagen!

Kutzner: Haben die Leute dann durch die Umbenennung der Alsterdorfer Anstalten in Evangelische Stiftung Alsterdorf ein besseres Bild bekommen?

Wunder: Ja, sie haben ein besseres Bild bekommen. Ich möchte aber sagen, dieses Bild war erst Jahre später auch wirklich so berechtigt. 1984, als diese Umbenennung anfing – richtig aktenkundig ist sie 1987 geworden –, konnte man noch nicht sagen, dass die Anstalt überwunden war. Man konnte das in den 90er-Jahren im Grunde genommen noch nicht sagen. Aber man wollte es irgendwie auch in die richtige Richtung bringen. Das wollte Mondry ganz bestimmt!

Schulz: Kannst du noch was zum Sanierungsprozess in den 1990er-Jahren sagen?

Wunder: Ja, ich muss mich jetzt entscheiden, ob ich aus der Sicht der Psychologie und der Fachdienste spreche oder aus der Perspektive der Gesamtentwicklung. Also die Gesamtentwicklung war erst einmal die, dass es natürlich Irrungen und Wirrungen gab, die du [gemeint: Reinhard Schulz] ja genauer aufarbeitest. Dezentralisierung war eine Zeit lang das Zauberwort. Sie entpuppte sich als nicht wirklich ganz durchdacht und ebenso die Regionalisierung, die danach kam. Aber es gab immer auch diesen Effekt, dass die Fitteren auszogen und die Unfitteren auf dem Anstaltsgelände blieben. Es ging die Rede um von dem DDR, dem dummen Rest, der auf dem Anstaltsgelände wohnte, und auf dem Anstaltsgelände haben sich dadurch auch sehr konservative Strukturen gehalten. Das wurde erst überwunden durch diese radikale Auflösung, durch den Marktplatz. Und das ist Baumbach: Am besten eine Buslinie querdurch und alle [Bewohnerinnen und Bewohner, Wohngruppen] wirklich in die Stadt und wir bauen für die, die hierbleiben, neue Quartiere und alle alten Quartiere werden umgenutzt! Diese radikale Idee, einen Marktplatz zu bauen, es sich mit den Grünen zu verderben, weil man Bäume gefällt hat, um einen Parkplatz für Edeka und Aldi zu bekommen, diese radikale Idee hat mich total mitgerissen, auch wenn ich mit Baumbach nicht theologisch, sondern philosophisch eigentlich in einem Dauerstreit lag – ich habe ja auch Philosophie studiert und habe da bestimmte Positionen. Aber der Marktplatz war sein großes Werk, das war wirklich ganz die neue Welt. Erst da war die Anstalt aufgelöst, also ab den 2000er-Jahren, 2001/2002, weil dann wirklich klar war: Der Kern ist ein öffentlicher Platz für diesen Stadtteil. Das ist dieser radikale Wandel.

Für uns Psychologen hat sich die Welt ganz anders entwickelt, weil unser ursprünglicher Job, nämlich Stabsstellen zu sein, fest zugeordnet zu sein, dass die Menschen, wenn sie etwas brauchen, zu uns kommen und wir unsere festen Gehälter kriegen, immer mehr infrage gestellt wurde. Das war ein langer Prozess, bei dem es auch viele Verletzungen gab, und das hat dazu geführt, dass wir heute vollkommen anders denken. Als Herr Kraft das erste Mal zu mir sagte: Ja, Sie können ja ein Profit-Center gründen, habe ich gedacht: Oh nein, ich und ein kapitalistisches Profit-Center! Aber im Grunde machen wir das heute. Wir verkaufen heute unsere Therapien, unsere Supervisionen, unsere Diagnostik und unsere Gutachten zum Stundenpreis, also jetzt nicht so rein marktwirtschaftlich, aber wir sind wie eine große Praxis, werden abgerufen und finden gar nichts mehr dabei, dass wir von den Alsterdorfer Betrieben nur noch zu 15 Prozent und zu 85 Prozent quer über Norddeutschland verteilt abgerufen werden. Auch das ist ein Zeichen von radikalem Wandel. Wir sind keine Anstaltspsychologen mehr, obwohl wir alle so angefangen haben, sondern wir sind dienstleistende Psychotherapeuten, übrigens natürlich auch dienstleistende Pädagogen, Sozialpädagogen, also das Beratungszentrum ist ein bisschen größer. Die Ambulanz ist eine Ambulanz, die auch Alsterdorfer versorgt, aber eben zum großen Teil auch Nicht-Alsterdorfer Patienten und Patientinnen. Das ist schon eine ziemliche Strecke.

Schulz: Wir mĂĽssen auf die Zeit schauen.

Wunder: Aber vielleicht haben Sie noch eine Frage? [zu Herrn Kutzner gewandt]

Kutzner: Wie stehen Sie jetzt zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf?

Wunder: Nach 40 Jahren kann man sozusagen nur noch zugeben, dass man eng verbandelt ist. Es gibt so einen Spruch für mich – Sie sind noch so jung, aber eines Tages kommt das auch noch –: Es gibt auch noch ein Leben nach Alsterdorf, das musst du [zu Reinhard Schulz gewandt] ja bestätigen können. Damit freunde ich mich gerade an, denn ich bin jetzt wirklich schon im Rentenalter und habe erst mal drei Jahre, jetzt noch mal zwei Jahre verlängert, aber dann muss auch Schluss sein! Natürlich identifiziere ich mich mit diesem Wandlungsprozess in Alsterdorf hundertprozentig, stehe dahinter und habe den ja auch teilweise mitgestaltet und habe da noch andere Schwerpunkte, die jetzt nicht zur Sprache gekommen sind, wie die Entschädigung der Menschen, die Leid und Elend in Alsterdorf erfahren haben, die ganze NS-Geschichte, das Gedenken, das ich so wichtig finde, dass diese Geschichte uns immer wieder deutlich macht, was im Namen der Diakonie, der Inneren Mission mit Menschen damals wirklich gemacht worden ist. Das sind alles Punkte, die mich ganz eng an dieses Alsterdorf herangerückt haben. Ja, ich werde aber trotzdem gerne auch Abschied nehmen, ich werde natürlich immer daran denken oder ich werde wahrscheinlich auch im Hintergrund vorhanden sein oder mal gucken, was so geworden ist. Aber selbstverständlich gibt es auch noch andere Hobbys von mir.

Schulz: Ja, ganz vielen Dank.

Kutzner: Vielen Dank.

Schmuhl: Vielen Dank.