07 / 1988 – Interview mit Carsten Feddern

Teilnehmende

Carsten Feddern

Monika Bödewadt

Evelin Klemenz

Transkription

Bödewadt: Ich begrüße Sie zur Diskussion. Mein Name ist Monika Bödewadt. Wenn Sie sich bitte einmal vorstellen mögen.

Klemenz: Mein Name ist Evelin Klemenz. Ich bin seit 1997 in der Stiftung und koordiniere das Projekt „Dokumentation der Eingliederungshilfe in den letzten 40 Jahren“.

Feddern: Mein Name ist Carsten Feddern. Ich war von1974 bis 2018 in der Stiftung, erst als Zivi und zum Schluss als Sozialpädagoge und harre jetzt der Dinge, die da kommen.

Klemenz: Als erstes wĂĽrde ich dich gerne fragen: Als du als Zivi in der Stiftung angefangen bist, was hast du da vorgefunden? Was waren deine ersten EindrĂĽcke und was war der Grund fĂĽr deinen Entschluss, in den Anstalten, wie sie damals hieĂźen, weiterzuarbeiten?

Feddern: Mein erster Gedanke war ein reiner Fluchtgedanke. An irgendeinem Novembertag kam ich dort an– ich hatte damals den Kriegsdienst verweigert, nach der Schule wollte ich gleich Zivildienst machen und mich dorthin [nach Alsterdorf] bewerben. Das war irgendwie so ein geschlossener Gelände-Raum mit einer Pforte und mit einem großen Gitterzaun drumherum. Als ich dann auf dem Gelände war: Kaum ein Mensch! Ich hörte irgendwelche Geräusche, Schreie und dachte: Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin! Dann bin ich aber weitergegangen, hab mich beworben und war dann im Michelfelder Kinderheim als Zivi tätig.

Klemenz: Kannst du beschreiben, wie das Leben in diesem Michelfelder Kinderheim war?

Feddern: Das ist unter heutigen Bedingungen kaum vorstellbar! Für mich war das damals völliges Neuland und ich dachte, das wäre halt normal. Die Gruppengrößen waren immer zwölf Kinder und für die zwölf Kinder gab es einen Schlafsaal und einen Tagesraum, wo sie sich aufhalten konnten. Das war im Grunde alles. Es gab einen Zivi und zwei Kinderpflegerinnen, die damals im Internat der Stiftung ausgebildet wurden.

Klemenz: Und was waren deine Aufgaben als Zivi?

Feddern: Die Aufgaben waren vielfältig. Das hieß im Grunde, das ganze Tagesgeschehen zu begleiten, morgens waschen, anziehen, essen machen, frühstücken und solche Geschichten. Das war der Tagesablauf bis zum Abend hin. Und dann das Gleiche wieder rückwärts, also waschen, ankleiden für die Nacht und so weiter.

Bödewadt: Was hat Sie bewogen, nicht zu fliehen?

Feddern: Ich dachte: Du willst das ja machen, also probiere es zumindest erstmal aus! – Das war natürlich so ein erster Eindruck. Es war einfach so: Die damaligen Alsterdorfer Anstalten waren ein Gebiet, das man besser umging, weil, so eingezäunt wie es war, war es im Grunde wirklich nur ausladend und hatte keinen Aufforderungscharakter.

Das war für mich natürlich auch völliges Neuland. Ich hatte die Schule beendet und bis dahin überhaupt keinen Kontakt mit Menschen mit geistiger Behinderung gehabt!

Bödewadt: Und was war das erste positive Erlebnis, was Sie dort hatten?

Feddern: Das war eigentlich relativ schnell klar: Mit den Menschen in Kontakt zu treten war positiv. Am Anfang kamen auch Erwachsene mit geistiger Behinderung auf mich zu, die im Gelände waren, und die waren alle total freundlich und da dachte ich: Ja Gott, das ist ja doch ganz nett hier! Und dann bin ich halt geblieben und dachte: Mach mal erst deinen Zivildienst hier und danach kannst du ja gucken, was noch so wird!

Klemenz: Okay. Und dann hast du dich entschlossen, einzutreten und du hast dein Sozialpädagogikstudium fertiggemacht.

Feddern: Zuerst – während des Zivildienstes konnte man eine Ausbildung machen – habe ich die einjährige Krankenpfleger-Helferausbildung gemacht. Ich dachte so: Während des Zivildienstes, das kann ja nicht schaden! Nach dem Zivildienst hat man mir eine Gruppenleitung im Erwachsenenbereich angeboten. Die habe ich noch fünf oder sechs Jahre gemacht und habe dann erst Sozialpädagogik studiert.

Klemenz: Gab es damals schon irgendwelche pädagogischen Konzepte, als du angefangen hast?

Feddern: Also in der Zeit war die Stiftung oder die damaligen Anstalten nicht in erster Linie pädagogisch ausgerichtet, sondern pflegerisch. Die Gruppenleiter*innen waren in der Regel ausgebildete Krankenpfleger*innen, die fachlichen Leitungen waren in der Regel Ärzt*innen. Da war die Pädagogik erst in den Anfängen und auch die Heilerzieher-Ausbildungen sind in dieser Zeit erst angefangen. Es begann langsam, sich zu pädagogisieren, aber insgesamt war die Ausrichtung mehr krankenpflegerisch als pädagogisch.

Klemenz: Kommen wir zur Erwachsenenbildung. Du hast gesagt, du wärest schon vorher auf Wohngruppen mit Erwachsenen tätig gewesen. Was hat überhaupt den Anstoß für die Entstehung einer Erwachsenenbildung gegeben? Wie waren die Impulse?

Feddern: Es gab ja diesen Riesen-Umbruch in Alsterdorf, diesen Skandal

gemeint ist die Veröffentlichung der unhaltbaren Lebensbedingungen in den Anstalten durch zwei Artikel im Zeitmagazin und das, was dann folgte: Regionalisierung und Normalisierung wurden die Schlagworte, d.h. die Menschen sollten raus aus dieser Anstalt und hinein in die Stadtteile.

Fakt war natürlich, dass die Menschen, die bei uns lebten, anstaltssozialisiert waren, also in Totalversorgung groß geworden waren. Das heißt: Du kannst nicht einfach in einen Stadtteil ziehen und weißt nicht, wie du dann zur Arbeit oder zu irgendwelchen Angehörigen kommst. Also ging es darum, ein Bildungsangebot zu machen, das sich darum bemühte, die neue Lebensumwelt und alles, was dazugehörte, zu erfassen. Das waren Grundsachen wie Einkaufen, Umgang mit Geld, Kochen, öffentliche Verkehrsmittel, Stadtteilorientierung und so was in der Art. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg!

Es war Frau Maibauer – das ist mir nicht gleich eingefallen –, die damals das Konzept zur Erwachsenenbildung geschrieben und diese überhaupt erst ins Leben gerufen hat.

Frau Maibauer studierte damals Sozialpädagogik und war zwei Semester vor mir. Ich kannte sie vom Sehen durch Alsterdorf. Sie sprach mich auf das Thema an und ich fand es hochinteressant. Dieses Konzept entwickelte sich während des Studiums immer weiter. Als sie dann mit dem Studium fertig war, fing sie mit der Erwachsenenbildung [in Alsterdorf] an und ich bin nach meinem Studium auch gleich eingestiegen.

Klemenz: Also Sie beide, du und sie, ihr wart praktisch die Initiator*innen fĂĽr diese Erwachsenenbildung?

Feddern: Nein, sie war eigentlich die Initiatorin und zwei Kommilitonen aus ihrem Semester waren schon miteingestiegen. Es waren also damals drei Sozialpädagogen und ich kam ein Jahr später als vierter Sozialpädagoge dazu. Dann wurde noch ein Sonderlehrer eingestellt. Das war dann praktisch die Standformation.

Klemenz: Wie habt ihr das denn eigentlich der Leitung vermittelt oder wer ist da auf wen zugegangen?

Feddern: Sie hatte dieses Konzept geschrieben und hatte es damals dem Vorstand vorgestellt. Der war natĂĽrlich ziemlich begeistert, weil, denen war auch klar: Sie mussten diesen Umbruch vollziehen und dazu musste es MaĂźnahmen geben! Das war ziemlich eindeutig. Und dieses Konzept war schon auch ein recht gutes. Von daher wurde das dann auch relativ schnell durchgewinkt.

Klemenz: Und die Finanzierung passierte aber über die Stiftung Alsterdorf, über die Alsterdorfer Anstalten –

Feddern: Ja, das war damals schon Stiftung. Die Finanzierung lief ganz normal über die Pflegesätze, wie es damals üblich war.

Klemenz: Ich habe gelesen, da gab es ein Kolloquium 1989. Das kommt mir irgendwie sehr entscheidend vor, weil da Vernetzung passierte, weil sich da eine Gesellschaft grĂĽndete. Kannst du sagen wie sich die Situation bis dahin entwickelt hatte und was der Sinn dieses Kolloquiums war?

Feddern: Wir waren zunächst sehr an die Stiftung gebunden. Der Teilnehmerkreis dieser Kurse resultierte natürlich nur aus Stiftungsbewohner*innen. Und das war eben der Punkt: Es ging nach Bedarfen und Bedürfnissen der Bewohner*innen der Stiftung. Uns war aber klar, dass es natürlich um einen allgemeinen Bildungsanspruch ging. Wir wollten nicht immer begründen, warum Menschen mit Behinderung Erwachsenenbildung haben müssten. Das ist ein Grundrecht! Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung! Das muss nicht speziell für Menschen mit Behinderung extra begründet werden! Sie haben das gleiche Recht wie jeder andere. Das war unser Ansatz. Wir wollten uns daher natürlich auch über die Stiftung hinaus mit anderen Einrichtungen und mit Bildungseinrichtungen für Menschen ohne Behinderung vernetzen.

Daher war unser nächstes Anliegen: Wir machen ein Kolloquium, was relatives Neuland war. Wir versuchten erst mal, aus dem deutschsprachigen Ausland und Deutschland Erwachsenbildner*innen, aber darüber hinaus auch Vertreter*innen der Volkshochschule und solche Teilnehmer einzuladen. Das haben wir gemacht und das war ein großer Erfolg, muss man schon sagen. Durch dieses Kolloquium haben wir eine Vernetzung in Hamburg hinbekommen. Es waren dabei: Die Volkshochschule, die Lebenshilfe, ein Kirchenkreis in Lokstedt und alle, die Erwachsenenbildung anboten.

Wir haben einen Vernetzungs-Kreis gebildet: Also Alsterdorfer Teilnehmer*innen konnten zu einem anderen Anbieter*innen gehen, Externe konnten zu unserer Erwachsenenbildung gehen. Diese Angebote wurden dann extra finanziert. Wir haben damals bei der Sozialbehörde einen Topf von circa 200.000 D-Mark durchgesetzt. Damit konnten wir Kurse und Workshops anbieten, die über den Alsterdorfer Teilnehmerkreis hinausgingen. Wir sind dann noch weiter gegangen und haben Bildungsurlaube angeboten [für Menschen mit und ohne Behinderung]. Die haben wir damals über die Gewerkschaft ÖTV gemacht.

Was die WFB-Mitarbeiter*innen [WFB = Werkstatt für Behinderte] anging, sagten wir der Gewerkschaft: Die sind überhaupt nicht vertreten! Die Gewerkschaft hat sich daraufhin bereit erklärt und für einen Beitrag von einem Euro wurden die WFB-Mitarbeiter*innen Gewerkschaftsmitglieder und konnten auch an diesen Bildungsurlauben teilnehmen. Wir haben drei Bildungsurlaube für Menschen mit Behinderung und ohne gemacht. So hat sich die Erwachsenenbildung immer weiterentwickelt.

Klemenz: Es musste bei diesen Angeboten, wenn sie dann in verschiedenen Stadtteilen stattfanden, ja auch die Infrastruktur geschaffen, werden. Die Leute mussten hin und sie mussten wieder zurück. Man musste die Lehrkräfte auch anders organisieren. Das wurde aus dem Einheitspflegesatz bezahlt, reichte das, um die Lehrkräfte zu qualifizieren? Ich denke, es waren mit Blick auf individuellem Lernen Lehrmaterialien zu beschaffen, weil, das ist ja eine wahnsinnige Vielfalt von Menschen, die befähigt werden mussten, die man nicht so über den gleichen Kamm scheren konnte. Also man konnte da ja nicht so Standards setzen wie bei einer Schulklasse. Wie war das mit den finanziellen Mitteln?

Feddern: Grundsätzlich noch mal: Die finanziellen Mittel kamen aus der Stiftung bis auf diesen Topf, der sich nach dem Kolloquium ergab, da gabs ja noch mal diesen Topf von der Arbeits- und Sozialbehörde.

Die Lehrer*innen waren Sonderschullehrer*innen, und wir, die Sozialpädagog*innen, waren alle in dem Bereich Erziehung und Bildung und Sonderpädagogik tätig, d.h. wir hatten natürlich Erfahrung. Die meisten kamen aus dem Beruf und ich war auch schon sechs Jahre in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung tätig. Es ist klar, dass das mit einer Schulklasse eben nicht vergleichbar ist.

Wir haben die Kurse so gestaltet, dass sie Sinn machten. Wir hatten auch Kurse mit nur drei Teilnehmer*innen. Also, wenn ich z.B. einen Kurs Lesen und Schreiben gegeben habe, ging es nicht klassisch wie in der Schule um das ABC, sondern es war immer projektbezogen. Im Projekt Öffentliche Verkehrsmittel ging es darum, dass nach dem Kurs jemand wusste, wie er von A nach B kam, wie die Stationen hießen und welche U-Bahnlinie er nehmen musste. Das war das Ziel und nicht, dass jemand einen Roman lesen konnte. Es ging immer nach dem Bedarf und den Bedürfnissen der Teilnehmer*innen. Das war zu der Zeit bei uns schon möglich und es war natürlich ganz schön, dass wir nie so große Gruppen und nicht so einen Lehrplan wie in der Schule hatten, der vorgebeben war, sondern dass wir uns immer an den Bedürfnissen [der Menschen mit Behinderung] orientieren konnten.

Klemenz: Aber drei [Teilnehmer] pro Kurs rechnete sich das?

Feddern: Nein, natürlich nicht, aber zunächst mal mussten wir nicht rechnen. Wir hatten insgesamt immer so dreihundert Schüler pro Jahr. Wir hatten auch andere Kurse. Station17 war z.B. eine Zeit lang bei uns angegliedert und dann waren wir z.B. auch mal zehn oder zwölf im Kurs. Die von Station17 haben den „Musik-Unterricht“ gemacht und geguckt: Wer ist in der Lage, nachher mal mit aufzutreten und solche Geschichten.

Also es war sehr unterschiedlich. Ich hatte z. B. einen Kurs Fahren mit dem E-Rollstuhl. Da war nur ein Teilnehmer; wir hatten auch die eine oder den anderen, die den Hauptschulabschluss gemacht haben. Dadurch konnten wir aufzeigen, dass vermeintliche Behinderungen, wie sie denn diagnostiziert waren, gar nicht so waren. [Das heißt, dass sie nicht die einzigen Gründe für Lerndefizite waren.] Die Situation war einfach so, weil die armen Leute schlichtweg nie etwas gelernt hatten. Das war das Problem! Niemand kann lesen und schreiben, wenn es ihm nicht beigebracht wird. Und das war ganz oft der Fall. Und wir hatten die Möglichkeit, sehr zu individualisieren. Das war schon ganz gut.

Klemenz: Irgendwann ist die Erwachsenenbildung eingestellt worden. Ich habe den Eindruck, dass die Zeit so um das Kolloquium herum der Zenit war –

Feddern: Ja (zögerlich) –

Klemenz: oder wie hat sich das fortentwickelt?

Feddern: Das Kolloquium war natĂĽrlich ein Meilenstein, aber es war nicht der Zenit, denn danach hat es sich ja weiterentwickelt: Man musste verhandeln, Partner suchen und so weiter und so fort. Das haben wir gemacht.

Mitte der 1990er Jahre kamen neue Pflegesatzbestimmungen und anhand dieser Bestimmungen sind wir dann aus der Finanzierung durch den Pflegesatz rausgeflogen, auch viele andere Bereiche in Alsterdorf, also der Psychologische Dienst, die Organisation- und Personalentwicklung, alle, die nicht direkt mit dem Bewohner*innen zu tun hatten. Letztendlich finanzierten die Bewohner*innen diese Erwachsenenbildung, selbst wenn sie nicht dran teilnahmen. Auf diese Weise ging es nicht mehr und das war dann im Prinzip das Aus. Es hieß: So könnt ihr nicht weiterfinanziert werden! Der Betriebskindergarten und noch anderes wurde geschlossen, weil es nicht finanziert wurde. Wir gehörten eben auch dazu. Das war ein Riesenproblem! Wir haben noch versucht, von woanders Gelder zu kriegen. Das ging zum Teil, aber hat uns dann so nicht mehr getragen.

Klemenz: Ich kann mir vorstellen, dass gerade diese Erwachsenenbildung etwas ist, was nicht nur Sinn machte im Zuge der Regionalisierung und später auch Ambulantisierung, sondern auch in Bezug auf das Leitbild. Pastor Mondry hatte in seinem Vorwort zu dem Kolloquium-Reader diesen Zusammenhang sehr ausführlich beschrieben. Wie war das mit der Unterstützung innerhalb Alsterdorfs? Gab es da Leute, die sich dafür einsetzten, die Alternativvorschläge machten, wie man diesen Erwachsenenbildungs-Bereich aufrechterhalten könnte?

Feddern: Was heißt Vorschläge! Es gab ein paar Alternativen, die man probieren konnte. Das machten wir auch. Wir versuchten zum Beispiel, die Kurse übers Sozialamt zu finanzieren. Wir wussten nicht genau, welchen Status die Bewohner*innen hatten und dachten, wenn z.B. die Bewohner*innen den Status eines Sozialhilfeempfängers hätten, dann hätten sie einen Anspruch auf Kurserstattung bei der Volkshochschule.

Über diesen Weg haben wir es dann versucht. Das war aber sehr schwierig, denn man musste klagen. Das hätten wir sowieso nicht gekonnt. Das konnte nur Jemand aus der Wohngruppe [Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin hätte individuell klagen müssen.] Und es war ein höllischer Aufwand, über diesen Weg Gelder zu erlangen. Letztendlich war es auch dann noch nicht ausreichend, um das fortzuführen, was wir so geplant hatten und wie es uns eigentlich auch sinnvoll erschien.

Bödewadt: Ich habe noch eine Frage. War Ziel der Weiterbildung auch, Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen?

Feddern: Das war das Ziel und das haben wir auch zum Teil hingekriegt. Wir hatten z.B. einen Kurs Hilfe beim Führerschein für Gabelstapler. Einige Teilnehmer*innen sind, ich glaube sogar in der WFB, dann auf dem ersten Arbeitsmarkt als Fahrer*innen tätig gewesen. Also das haben wir schon geschafft!

Nur der Arbeitsmarkt hatte sich zu der Zeit schon so entwickelt, dass es viele Jobs, die damals noch möglich waren, später schlicht nicht mehr gab.

Schon in den 1970er Jahren hatte ich auf der Wohngruppe zwei Menschen mit Behinderung. Die haben in der Behörde gearbeitet und Post verteilt. Und das gab es alles aufgrund von Computern schlichtweg nicht mehr. Diese Jobs fielen alle weg! Deswegen haben sich natürlich Bereiche wie die WFB oder alsterarbeit jetzt auch so entwickelt, weil, auf dem ersten Arbeitsmarkt war es schwierig. Da bedurfte es bestimmter Grundvoraussetzungen, die auch schon mal da waren, aber eben nicht der Regelfall waren.

Bödewadt: Und wie war die Quote der Leute, die es auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft haben?

Feddern: Das kann ich jetzt nicht sagen. Das war wirklich nicht viel.

Bödewadt: Wo sehen Sie die Gründe, dass es nicht so klappte?

Feddern: Ich glaube, der erste Arbeitsmarkt ist massiv gewinnorientiert und solche Arbeitsplätze wurden nicht mehr gebraucht oder wurden eben aus diesem Grund abgeschafft. Da ist natürlich für diesen Personenkreis sehr viel verloren gegangen.

Bödewadt: Was können Sie tun, um bei den Arbeitgeber*innen ein Umdenken zu bewirken?

Feddern: Das ist eine gute Frage! Es ist ja eine grundsätzliche Einstellung je nachdem, wie man die Wirtschaft definiert: Geht es um reine Gewinnmaximierung oder geht es auch darum, soziale Standards miteinzubauen? Letztendlich geht es darum, letzteres wieder mehr miteinzubringen.

Bödewadt: War das nicht manchmal frustrierend für Sie, wenn das nicht so klappte?

Feddern: In dem Fall war es nicht so frustrierend, weil, für die Bewohner*innen war die Möglichkeit, aus der Anstalt rauszukommen und vielleicht sogar eine eigene Wohnung oder zumindest ein eigenes Zimmer in einer Wohngemeinschaft zu haben, so etwas wie ein Lottogewinn – für die war es ja immer noch die Anstalt.

Da war eine unglaublich hohe Motivation bei den Teilnehmer*innen. Also wirklich, wenn der Kurs um Neun losging, waren die ersten um halb acht da. So muss man das wirklich sehen. Da stellte sich dieser Arbeitsbereich erst in zweiter Linie. Erst mal waren die Lebensumstände bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern total im Vordergrund.

Aber grundsätzlich haben Sie natürlich Recht. Es redet kaum Jemand darüber, weil alle sich abfinden, dass es Jobs gibt in diesen Werkstätten und damit sind die Meisten offensichtlich zufrieden, also zumindest die, die in der Sozialpolitik oder Arbeitgeber*innen sind.

Klemenz: Wir nähern uns jetzt dem Ende. Von daher noch ein, zwei Fragen. Also die erste Frage, die sich mir stellt, gerade so nachdem, was du jetzt erläutert hast: Wie stark siehst du jetzt im Nachhinein die Erwachsenenbildung von damals als Treiber für die Eingliederungshilfe? Welche Rolle hat sie gespielt auf einer Skala von 1 bis 10? Und was würdest du heute nach deiner Einschätzung sagen: Welche Bedeutung hat Erwachsenenbildung jetzt noch in der Eingliederungshilfe auch auf der Skala von 1 bis 10?

Feddern: Also zur ersten Frage denke ich mindestens acht, weil, es gab nichts Vergleichbares. Wie gesagt, Anstaltssozialisation ist gekennzeichnet durch Totalversorgung und das musste aufgebrochen werden. Die Bewohner*innen mussten einfach Fertigkeiten in Bezug auf Lebenspraxis entwickeln, um ein ganz „normales“ Leben führen zu können. Und von daher war die Erwachsenenbildung eminent wichtig und eigentlich auch das einzige, was zu der Zeit angeboten wurde , außer vielleicht noch ein paar Initiativen von den Wohngruppen selbst. Aber das war in organisierter Form das einzige. Und im Rahmen der Eingliederungshilfe – was war die zweite Frage noch mal eben?

Klemenz: Wie schätzt du die Bedeutung von Erwachsenenbildung heute ein für die Eingliederungshilfe, wo es ja jetzt die Sozialraumentwicklung gibt?

Feddern: Also ich denke es hat sich schon einiges gebessert, weil die Leute praktisch drauf vorbereitet werden. Jetzt ist es so: Du kommst aus einer Förderschule, wenn überhaupt, oder aus irgendeiner Stadtteilschule und bist im Stadtteil schon integriert und hast viele Möglichkeiten. Das gab es damals in der Form noch nicht. Ansonsten halte ich Erwachsenenbildung nach wie vor für ein Grundrecht für alle. Warum gehst du in die Volkshochschule? Die Frage warum ist die Frage nach dem Bedürfnis oder nach dem Antrieb, warum ich mich irgendwie weiterbilden möchte! Das ist der Punkt! Da ist es völlig unerheblich, ob ich ein Mensch mit Behinderung bin oder ohne. Wenn ich den Antrieb habe, mich weiterzubilden, muss es die Möglichkeit geben, dies zu tun. Es ist jedem anderen freigestellt, das zu machen und das muss bei Menschen mit Behinderung eben auch so sein. Das ist der Punkt. Und wenn ich das Bedürfnis habe, mich in bestimmten Dingen weiterzubilden, weil ich es noch nicht so gut kann, dann muss es die Möglichkeit geben, dies zu tun.

Klemenz: Meine Frage zielte darauf ab, zu gucken, welche Bedeutung hat die Erwachsenenbildung jetzt noch für die Vermittlung in den Ersten Arbeitsmarkt. Hat sie da eine höhere Bedeutung heute oder wie schätzt du das ein?

Feddern: Da muss man in der Erwachsenenbildung natürlich auch trennen. Es gibt natürlich auch eine berufliche Fortbildung, aber das ist eine andere. Also wenn du jetzt eine berufliche Fortbildung innerhalb der Stiftung machst, weil du deinen beruflichen Horizont in deinem Job erweitern möchtest oder vielleicht eine andere Stufe erreichen möchtest, dann ist das etwas anderes, als wenn du zur Volkshochschule gehst und einen Kunstkurs machst oder ähnliches. Beides ist natürlich wichtig. Nur ist dann die Frage, die müsste eher alsterarbeit gestellt werden: Welche Möglichkeiten gibt es z.B. über diesen Bildungsweg in den ersten Arbeitsmarkt zu steigen? Das kann nicht automatisch die Aufgabe irgendeiner Bildungseinrichtung sein. Eine Bildungseinrichtung kann das immer nur begleiten und inhaltliche Impulse setzen, aber der Wille, das überhaupt zu machen, der muss woanders, der muss vom Arbeitgeber bzw. der Arbeitgeberin kommen. Und in dem Fall, denke ich mal, müssten Arbeitgeber*innen für Menschen mit Behinderung gucken, welche Möglichkeiten es gibt und sich fragen: Vielleicht fange ich bei uns an und gibt es eine Möglichkeit, diesen Menschen einzugliedern im Bereich des ersten Arbeitsmarktes. Aber das ist in erster Linie, glaube ich, deren Aufgabe und nicht Aufgabe der Bildung.

Bödewadt: Sehen Sie das auch so, dass die Freiwilligkeit bei den Arbeitgeber*innen in den Hintergrund treten sollte und dass doch vielleicht mehr Gesetze in Kraft treten sollten, so dass sie mehr gezwungen sind, auch Menschen mit Behinderung einzustellen?

Feddern: Es gibt ja für Firmen die Auflage, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen. Die Frage ist immer nur: Wie wird’s gemacht? Welcher Druck ist dahinter oder welche Möglichkeiten habe ich, das zu umgehen? Da scheint es viele Möglichkeiten zu geben, denn meines Wissens – ich bin da jetzt nicht auf dem letzten Stand – gibt es kaum eine Firma, die ihre Quote an Schwerbehinderten erfüllt. Also von daher ist das natürlich eine Frage an die Arbeitgeber*innen und wenn sie es nicht tun, müsste man solche Dinge durchsetzen. Wie sinnvoll das für die Betroffenen sein kann, weiß ich nicht, aber das wäre dann schon auch eine Maßnahme, die man meiner Meinung nach entsprechend der Regelung durchsetzen sollte, wenn man sie schon hat. Auf Freiwilligkeit kann man da, glaube ich, nicht setzen.

Klemenz: Da bräuchte es einen Kollegenkreis wie damals in Alsterdorf.

Feddern: Ja, aber das bräuchte dann einen größeren „Kollegenkreis“, das ist ja praktisch ein Gesamtproblem.

Klemenz: Noch eine Abschlussfrage oder haben Sie noch eine Frage?

Bödewadt: Nein, im Moment nicht.

Klemenz: Du warst ja jetzt fast vier Jahrzehnte in der Stiftung, kann man sagen. WĂĽrdest du dich im RĂĽckblick noch einmal fĂĽr die Stiftung entscheiden, da zu arbeiten?

Feddern: Ja, die Stiftung hatte natürlich gerade am Anfang auch ihre Schwachstellen und das zeigte sich ja dann damals bei diesem Skandal und diesem ganzen Umbruch. Aber was mich persönlich betrifft: Ich habe in dieser Stiftung in so vielen, unterschiedlichen Arbeitsbereichen gearbeitet, Wohngruppenarbeit bei Kindern, bei Erwachsenen, im Freizeitbereich – während des Studiums habe ich da gearbeitet – , in der Erwachsenenbildung und dann nachher in der Bugenhagenschule. Und das alles bei einem Arbeitgeber! Das ist schon sehr attraktiv, sonst hätte ich jedes Mal den Arbeitgeber wechseln müssen! Das ging eben ganz gut. Wie gesagt, es gab ja auch Veränderungen. Das kann man nicht anders sagen. Wenn ich das jetzt vergleiche mit den 1970er Jahren und ich würde heute die Stiftung betreten, ich würde nichts wiedererkennen. Die Stiftung Alsterdorf ist ein großer Arbeitgeber mit all seinen Facetten, aber im Grunde attraktiv, wie gesagt, sonst wäre ich da auch nicht so lange geblieben.

Bödewadt: Ich habe noch eine Frage. Was würdest du den jungen Menschen, die jetzt ins Berufsleben eintreten wollen, von deiner Arbeit erzählen?

Feddern: Ich kann eine Menge positives erzählen.

Klemenz: Das schönste?

Feddern: Ach, ja, das schönste. Da gabs so viel!

Klemenz: Das schönste Erlebnis?

Feddern: Das Schönste, das kann ich so nicht sagen. Ich finde einfach, dass der Umgang mit diesen Menschen durchweg schön war, das muss ich wirklich sagen. Es gab natürlich immer auch Situationen, die ein bisschen brenzliger waren, aber das waren immer ehrliche Situationen. Das habe ich immer sehr bewundert. Auch, wenn jemand stinkesauer war auf mich, dann hatte er wahrscheinlich recht und es ehrlich gesagt. Das fand ich so toll! Da gab’s nicht so ein Geplänkel und irgendwie ein Sich-Zurückzuhalten. Das hat mir sehr viel gegeben, weil du wirklich immer so ein ehrliches Feedback gekriegt hast. Es konnte ja mal wirklich sein, dass man schlecht drauf war und der andere merkte das und hat es dir einfach gesagt. Dann ist es aber auch wichtig, das zu hören. Das hat mich an diesem Personenkreis sehr, sehr fasziniert.

Klemenz: Ein schönes Schlusswort.

Bödewadt: Auch ich bedanke mich herzlich für ’s Mitmachen.

Feddern: Ja, gerne.

Klemenz: Herzlichen Dank noch mal!