06 / 2012 – Interview mit Martin Eckert

Teilnehmende

Martin Eckert

Reinhard Schulz

Monika Bödewadt

Transkription

Bödewadt: Ich begrĂŒĂŸe Sie zum Interview. Mein Name ist Monika Bödewadt. Wenn Sie sich bitte einmal vorstellen mögen.

Eckert: Ich bin Martin Eckert. Bis zu meiner Rente vor etwa fĂŒnf Jahren habe ich als GeschĂ€ftsfĂŒhrer des Elternvereins bei Leben mit Behinderung Hamburg gearbeitet. Danach war ich noch vier Jahre Vorsitzender des Vereins. Innerhalb meiner BerufstĂ€tigkeit habe ich umfangreich ehrenamtlich in der Landesarbeitsgemeinschaft fĂŒr Menschen mit Behinderung neben anderen Vereinen und VerbĂ€nden mitgearbeitet und die Landesarbeitsgemeinschaft fĂŒr Menschen mit Behinderung krĂ€ftig in ihrer Rolle als Interessensvertretung der Hamburg Selbsthilfeszene unterstĂŒtzt.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich koordiniere das Projekt „Vierzig Jahre Entwicklung der Eingliederungshilfe in der Stiftung Alsterdorf“ und die Dokumentation dazu und freue mich, in diesem Zusammenhang das Interview mit Herrn Eckert fĂŒhren zu dĂŒrfen. Herzlich willkommen!

Sie sind kein Mitarbeiter der Stiftung Alsterdorf. Und es ist gut so, dass wir hier auch Interviewpartner*innen haben, die nicht Mitarbeitende in der Stiftung sind. Wir wollen aber trotzdem und erst recht ĂŒber gelingende Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Hamburg sprechen, an der die Stiftung auch einen großen Anteil hat. Sie sprachen schon davon, dass Sie in der Landesarbeitsgemeinschaft behinderter Menschen aktiv waren und dort das Thema Selbstvertretung der Betroffenen mitorganisiert, mitbegleitet und mitentwickelt haben. Welche Bedeutung hat diese Landesarbeitsgemeinschaft fĂŒr behinderte Menschen aber auch fĂŒr Hamburg?

Eckert: Die Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft hat 1995 relativ klein angefangen. Es gab damals den Wunsch, dass die vielen BetroffenenverbĂ€nde, kleine und große VerbĂ€nde zusammenzufĂŒhren.den großen gehört zum Beispiel seit jeher der Blinden- und Sehbehindertenverein, der Gehörlosenverein oder auch mein Verein damals, der Spastiker-Verein. Daneben gibt es eine große Zahl von kleinen Initiativen, die sich rund um eine bestimmte BeeintrĂ€chtigung, eine chronische Krankheit gebildet haben und in aller Regel ehrenamtlich organisiert sind. Der Kerngedanke der Landesarbeitsgemeinschaft fĂŒr Behinderte war, diese bunte Mischung zusammenzubringen, gemeinsame Ziele zu identifizieren und die in dieser Stadt, die sehr stark auf Mitwirkung ausgerichtet ist, zu Gehör zu bringen.

Nach und nach hat sich das durch die gesellschaftlich-rechtlichen VerĂ€nderungen rund um das Thema Behinderung doch recht stark entwickelt und dazu gefĂŒhrt, dass die Landesarbeitsgemeinschaft am Anfang als ein bisschen lĂ€stig empfunden wurde nach dem Motto Na, ja mit denen muss man auch noch reden! Inzwischen ist sie ein gesuchter Partner, der in Bezug auf das Thema Behinderung den Satz „Nichts ohne uns und ĂŒber uns hinweg!“ auch in Hamburg realisiert.

Schulz: Wie haben Sie als Landesarbeitsgemeinschaft die Mitte der 1990er-Jahre, die gerade auch fĂŒr die Stiftung eine sehr wichtige Phase der Sanierung und kompletten Konversion der Angebotsstruktur waren, als Betroffenenverband erlebt? Gab es da einen Reflex oder eine Wahrnehmung?

Eckert: NatĂŒrlich wurde diese Phase wahrgenommen, auch von mir persönlich. Ich selbst bin Vater einer Tochter mit Schwerbehinderung, die inzwischen in den 40er-Jahren ist.

Das, was die Alsterdorfer in Hamburg gemacht haben und machen ist natĂŒrlich nicht das Maß aller Dinge. Aber das, was die Stiftung macht, ist ein Vorzeichen fĂŒr das, was in der ĂŒbrigen Behindertenszene auf der institutionellen Ebene in Hamburg passiert. Deswegen muss man sich sehr genau angucken, was dort passiert, und eben auch sehen, wie dann mit den Jahren die Alsterdorfer, ich sag es mal etwas blumig, in der Kommunikation zutraulicher wurden – das war nicht von Anfang an so –, und zwar in der Kommunikation mit BetroffenenverbĂ€nden und in der Kommunikation mit Selbstvertretern und mit Interessensvertretern. Auch das ist eben ein Gewöhnungsprozess.

Schulz: An dieser Stelle wĂŒrde ich gerne noch mal genauer fragen. Die Stiftung ist der grĂ¶ĂŸte EingliederungshilfetrĂ€ger in Hamburg und war in der Tat sehr mit sich selbst beschĂ€ftigt. Welche war die Rolle der betroffenen Menschen hierbei? Wie wichtig war es, auch gerade in dieser VerĂ€nderungssituation der 1990er-Jahre eine externe Betroffenenorganisation zu haben, die ein Auge darauf hatte, was in Alsterdorf passierte, und wie wichtig war es, die Stiftung ein StĂŒck weit zu begleiten?

Eckert: Das war ein oder ist teilweise immer noch ein widersprĂŒchlicher Prozess. SelbstverstĂ€ndlich gibt es und gab es in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf immer schon die betroffenen Menschen, die WĂŒnsche und AnsprĂŒche haben, die in der Gestaltung ihres Lebens vorkommen sollen. Dann gibt es die Angehörigen und die rechtlichen Betreuer, die sich in ihrer jeweiligen Aufgabe auch in einer respektvollen Weise wahrgenommen sehen wollen. Dies war ein Prozess, der viele Änderungen mit sich brachte, der zu vielen Änderungen und auch zu verschiedenen Sichtweisen beiderseitig fĂŒhrte. Man muss ganz klar sagen, dass am Anfang der Umgang mit der Betroffenenszene, also sowohl mit Angehörigen-ZusammenschlĂŒssen als auch mit den ZusammenschlĂŒssen der Selbstvertreter, eher etwas distanziert war und diese Distanz erst nach und nach durch GesprĂ€che, durch Modifizierung in der Kommunikationsweise sich hat aufarbeiten lassen.

Schulz: Hatten Betroffene aus dem Umfeld der Stiftung, also Menschen mit Behinderung oder deren Angehörige, Sitz und Stimme auch in dieser Landesarbeitsgemeinschaft?

Eckert: Ja, die Landesarbeitsgemeinschaft ist sehr streng in ihrer inneren Struktur. Sie sind voll stimmberechtigte Mitglieder mit dem Recht, Vorstandsaufgaben oder andere Aufgaben wahrzunehmen. Es sind ausschließlich Vertreter aus dem Zusammenhang Selbstvertretung oder Angehörige. Deswegen hatten wir in der langen Zeit, in der ich selbst im Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft tĂ€tig war, immer eine Mischung von ĂŒberwiegend selbstbetroffenen Menschen und ein oder zwei Angehörigen, also VĂ€tern oder MĂŒttern. Wie der Zufall so wollte, fiel die Elternrolle sehr hĂ€ufig mir zu, und zwar in einem Zusammenhang, der auch in der Auseinandersetzung oder in dem Zusammenwirken mit der Evangelischen Stiftung sehr wichtig war.

Es geht immer darum, dass bei allen Entwicklungen in der Eingliederungshilfe die Situation von Menschen mit sehr komplexen Behinderungen berĂŒcksichtig wird. FĂŒr Menschen mit einer Körperbehinderung Teilhabe zu veranstalten, ist nicht mehr schwierig. Klar, da gibt es auch Probleme, aber da sollten wir drĂŒber weg sein. Spannend wird es, wenn wir ĂŒber so etwas wie Selbstbestimmung, das In-die Hand-Nehmen der eigenen Lebenssituation, der Lebensplanung, der Formulierung von WĂŒnschen an das eigene Leben, von Menschen sprechen, die richtig intensiv von Behinderung beeintrĂ€chtigt sind. Dazu gehört zum Beispiel der Kreis der Nichtsprechenden, die nicht nur Lernschwierigkeiten, sondern tatsĂ€chlich sehr ausgeprĂ€gte erhebliche geistige Behinderungen haben.

Aufgrund meiner eigenen Situation war die Elternrolle immer mein Part in der Landesarbeitsgemeinschaft, weil meine Tochter zu diesem Kreis gehört. Mein Eindruck war, dass die Selbstvertreter mir diesen Part auch ganz gern ĂŒberließen. Ich habe spannende Diskussionen mit Gerleff Gleis, dem damaligen prĂ€genden Mann bei Autonomem Leben gefĂŒhrt, der den Anspruch hatte, Autonomes Leben vertritt auch Menschen mit komplexen Behinderungen. Irgendwann sagte er zu mir: Ja, Martin, mach mal! Das ist so ein Zeichen, das ist die Schnittstelle, wo dann doch die Eltern wieder in ’s Spiel kommen. Es ist schwierig fĂŒr Eltern, sich in dieses GeschĂ€ft einzufinden. Auch die Eltern brauchen auch eine vernĂŒnftige Begleitung und einen Spiegel, denn Eltern sind tendenziell ĂŒbergriffig und da braucht es ein gutes Korrektiv. DiesbezĂŒglich war das Zusammenspiel in der Landesarbeitsgemeinschaft von Angehörigen und Eltern einerseits und Betroffenenvertretern andererseits eine gute Situation.

Schulz: Welche Impulse konnten Sie setzen, gerade im Zusammenhang mit, Sie sagten es schon, Selbstbestimmung, Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, also mit den Paradigmen der 1990er- und 2000er-Jahre?

Eckert: Die Ziele wurden relativ schnell, gut und grĂ¶ĂŸtenteils unstrittig formuliert. Auch die Evangelische Stiftung hat sich in ihrer Umbruchphase sehr aktiv dort betĂ€tigt. Die Sache wurde spĂ€ter durch Behindertenrechtskonvention und durch gesetzliche Anpassungen kodifiziert und verstĂ€rkt. Aber zunĂ€chst einmal waren es Ziele, die beschrieben wurden und noch freihĂ€ndig im Raum standen. Damals – ich erinnere mich an diesen sehr spannenden Prozess – gab es auf der einen Seite Menschen, die etwas Ă€ndern wollten, die das damals bei der Evangelischen Stiftung, so hatten wir den Eindruck, etwas hoppla-hopp umsetzen wollten, ohne mit allen Betroffenen so richtig in Ruhe und auf Augenhöhe zu sprechen. Auf der anderen Seite gab gab es Menschen, die sich alles sehr genau anguckten und natĂŒrlich auch ein Grundmisstrauen hatten, weil alle in der Behindertenhilfe, Betroffene und Angehörige, in den vielen, vergangenen Jahrzehnten erlebt hatten, dass Änderungen hĂ€ufig auch Sparveranstaltungen waren. Erst mal gab es teilweise ein gesundes Misstrauen. Das musste auch sein! Das musste man kommunizieren und glatt kriegen, sonst wĂ€re das nichts geworden.

Schulz: Es gibt das DreiecksverhĂ€ltnis zwischen der Landesarbeitsgemeinschaft, den LeistungstrĂ€gern und den Leistungserbringern, den großen und kleinen, auch in Richtung der Senatsbeauftragten fĂŒr Belange von Menschen mit Behinderung in Hamburg. Welche Erfahrungen als Zeitzeuge können Sie diesbezĂŒglich schildern?

Eckert: Das Dreieck war am Anfang kein Dreieck! Es bestand zwar formal, aber es gab eben eine dicke Linie zwischen KostentrĂ€ger und EinrichtungstrĂ€ger. Die Betroffenen lagen als Spielball auf dieser Geraden. Nach und nach kam die Landesarbeitsgemeinschaft mit ins GeschĂ€ft. Das war aus dem Grund, dass es sich in Hamburg so gehörte, denn Hamburg hatte als sehr bĂŒrgerschaftlich verstandenes Gemeinwesen immer schon den Anspruch, dass man Menschen mit einbezieht.

Als die Menschen mit Behinderung ankamen und sagten: Ja, ohne uns geht’s nun mal nicht, war die Bereitschaft unterschiedlich. Es bestand immer die Gefahr oder die Versuchung, dass man die Einbeziehung der Betroffenen oder ihrer Vertreter instrumentalisierte, so wie es gerade passte. Es war mir völlig klar, dass die Erstarkung der Landessarbeitsgemeinschaft, die auch sehr stark von der Arbeits- und Sozialbehörde in ihren verschiedenen Namenserscheinungen unterstĂŒtzt wurde, natĂŒrlich auch so gesehen wurde, dass man mit der LAG einen zusĂ€tzlichen Player am Tisch sitzen hatte, der auch den großen TrĂ€gern mal in die Suppe spukte und das sehr wirksam tat. Das ist eine der Rollen und die ist auch in Ordnung.

Umgekehrt gab es natĂŒrlich auch viele Situationen, in denen die Betroffenenvertreter gemeinsam mit den Anbietervertretern der Behörde oder den Krankenkassen oder den Pflegekassen oder wem auch immer heftig versuchten, jeweils einer dem anderen auf die FĂŒĂŸe zu treten. Das Dreieck stellte sich erst in den letzten Jahren nach und nach ein, und zwar als ein Dreieck, das auch ein faires Miteinander beinhaltet.

Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang war seinerzeit das Zustandekommen des sogenannten Konsenspapieres. Der Vorschlag der LAG war, diese alten Kommunikationsstrukturen zu Ă€ndern, die lauteten: Ihr als Behörde, ihr als KostentrĂ€ger wollt was und ihr als EinrichtungstrĂ€ger wollt auch was, aber noch mal etwas anderes. Es gab gegenseitiges Misstrauen bis zum Geht-nicht-mehr, denn jeder, der was machte, kriegte sofort die Interpretation vom anderen, dass dies irgendwie Unsinn wĂ€re. Auch wenn man nicht verstand, was das fĂŒr Unsinn sein sollte, wurde es erst Mal so unterstellt. Dann machte die LAG damals der Vorschlag – wir waren damals als dritte Bank bei allen möglichen klugen Prozessen dabei, also auch bei der beginnenden Umsetzung der Ambulantisierungsvereinbarung: Leute, lasst uns ein einfaches Papier machen, wo wir uns auf Kleinigkeiten verpflichten, alle miteinander, auf Freiwilligkeit, auf RĂŒckkehrmöglichkeiten und auf das Wunsch- und Wahlrecht. Wenn wir das miteinander klarhaben, kriegen wir auch viele Dinge viel einfacher miteinander hin. Das hat dann auch ganz gut funktioniert.

Schulz: Schön.

Eckert: Das hatte dann auch Auswirkungen auf das Zusammenwirken der Landesarbeitsgemeinschaft mit den TrÀgern und auch mit der Evangelischen Stiftung.

Schulz: Okay. Haben Sie Fragen. (Hinwendung zu Frau Bödewadt)

Bödewadt: Noch nicht.

Schulz: Dann frag ich mal weiter. Welche Rolle spielte die LAG in Bezug auf das in Hamburg besondere Thema TrĂ€gerĂŒbergreifende Budgets?

Eckert: Der Fortschritt kommt erst mal. Dass man die Betroffenen einbeziehen musste, kam dann im zweiten oder dritten Nachdenken. Das TrĂ€gerbudget ist in Hamburg – das wissen Sie, das wissen viele Beobachter der Szene – in trauter Zweisamkeit zwischen der Evangelischen Stiftung Alsterdorf als dem großen Anbieter und der Behörde als dem großen Finanzier der ganzen Veranstaltung ausgekartet worden. Damit wurden fĂŒr die gesamte Entwicklung in Hamburg Vorspurungen gelegt. Die anderen TrĂ€ger, auch die wesentlichen TrĂ€ger – unser Verein hatte auch einen TrĂ€ger als Tochtergesellschaft, der zwar zehnmal kleiner war als die Alsterdorfer, aber nicht ganz unbedeutend – mussten letztlich versuchen, sich mit ihren eigenen Kriterien in diesen vorgeformten Weg einzufinden. Die Landesarbeitsgemeinschaft ist zu dem Zeitpunkt nicht ordentlich einbezogen worden. Ich kann mich an GesprĂ€che erinnern, zu denen wir auch Vertreter des großen TrĂ€gers, der die ersten Schritte schon fest vereinbart hatte, in die Landesarbeitsgemeinschaft eingeladen hatten. Das war ein Mitteilen von Ergebnissen, kein Prozess oder gar ein Partizipationsprozess im Sinne von ‘Nun wollen wir mal gucken, wie und was ihr meint und und was wĂ€re insbesondere zu berĂŒcksichtigen‘, sondern das waren Prozesse, in die die Landesarbeitsgemeinschaft damals erst im Nachhinein einbezogen wurde.

Inzwischen ist das anders und die Landesarbeitsgemeinschaft nimmt auch als Unterschriftsbeteiligte an vielen Vereinbarungen teil. Die Altvorderen, die das geprÀgt haben, hÀtten sich noch gar nicht vorstellen mögen, dass die Landesarbeitsgemeinschaft so eingebunden wird und dass sie sagt: Das können wir unterscheiben! Sie hat ja mit dem Geld, das da bewegt wird, nichts zu tun, sondern nur mit den Inhalten, die da bewegt werden.

Schulz: Wie zufrieden sind die Menschen, die Sie damals reprÀsentiert haben, mit diesen Entwicklungen der Eingliederungshilfe, Stichwort TrÀgerbudget?

Eckert: Das TrĂ€gerbudget ist in der Umsetzung aus unserer EinschĂ€tzung besser geworden als es zunĂ€chst aussah. Das TrĂ€gerbudget hatte am Anfang einige MisstrauensanhĂ€ngsel an sich, auch aus Sicht der Leistungsberechtigten, denn anfangs war die Frage offen: Welchen Leistungsbescheid kriegt der Menschen denn eigentlich und wer trĂ€gt die GewĂ€hr dafĂŒr, dass er die Leistung, die er braucht, auch wirklich bekommt? Das TrĂ€gerbudget stellt besondere Herausforderungen an das verantwortliche Handeln von TrĂ€gern. In Hamburg haben sich die TrĂ€ger allesamt in dieser Verantwortungswahrnehmung bewĂ€hrt, auch deswegen, weil sie sich ab einem relativ frĂŒhen Zeitpunkt in eine offene und tatsĂ€chlich auch auf Augenhöhe stattfindende Kommunikation mit den Betroffenen gestellt haben.

Es ist z. B. das passiert, was frĂŒher völlig undenkbar war, nĂ€mlich dass die Landesarbeitsgemeinschaft aus dem Geld des TrĂ€gerbudgets Geld bekam, um damit Beratung stattfinden zu lassen. Diese Beratung wurde zwar von den TrĂ€gern bezahlt, aber sie war nicht von den TrĂ€gern beeinflusst. Das ist eben ein dialektischer Vorgang, der in Hamburg gut funktioniert hat und noch immer gut funktioniert, der aber in vielen anderen Ecken in der BRD damals nicht denkbar war und auch heute noch nicht so richtig denkbar ist.

In Hamburg haben wir eine Umgangskultur miteinander hingekriegt, die bei den betroffenen Menschen wahrgenommen wird und die auch etwas wert ist.

Schulz: Wenn Sie mit dem Blick von heute bewerten mĂŒssten, wie inklusiv und sozialraumorientiert sich das Ganze entwickelt hat, also, wie weit sind wir in den 2010er-Jahren mit dem Konzept gekommen sind, den Sozialraum zu erschließen, quartiersorientiert zu arbeiten und darĂŒber Teilhabe zu verbessern, was wĂŒrden Sie sagen?

Eckert: Wir sind mittendrin. Es ist viel erreicht worden, wenn ich mir vorstelle, wie sich die Wohnformen fĂŒr Menschen mit Behinderungen und auch fĂŒr Menschen mit komplexen Behinderungen entwickelt haben. Es gibt viele, sehr offene Wohnformen, wo die Menschen tatsĂ€chlich die eigene TĂŒr haben, die sie zumachen können, bis hin zu Wohnformen, die auch auf die intensive UnterstĂŒtzungsbedĂŒrftigkeit von einem Teil der betroffenen Menschen eingeht, aber trotzdem in einer ganz anderen Weise mit einem ganz anderen Vorzeichen diese Assistenz vornimmt. Es ist kein Zufall, dass aus dem Begriff der Betreuung inzwischen der Begriff der Assistenz geworden ist und der Mensch, um den es geht, eine ganz andere Rolle hat.

Deswegen ist es aber auch so schwierig, immer wieder in diesem Prozess zu gucken, wie es den Menschen mit komplexen Behinderungen geht. Werden die tatsĂ€chlich mit allen Segnungen des Fortschritts in der Eingliederungshilfe fair mitgenommen und haben sie auch was davon? Ich kann mich an eine Veranstaltung erinnern, die wir ganz am Anfang der Ambulantisierung gemacht haben und die sich auf eine Auseinandersetzung mit den Alsterdorfer Mitarbeitenden bezog. Das war eine Veranstaltung in der Katholischen Akademie, die ein Schlagwort aufgriff, das von den Alsterdorfer Mitarbeitenden damals vorgebracht wurde, nĂ€mlich das Ende der Barmherzigkeit. Wir wollten das genauer wissen, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass rechtliche Betreuer*innen und Angehörige und auch Betroffene von manchen ersten Umsetzungsschritten der VerselbstĂ€ndigung des Lebens im eigenen Apartment nicht so recht begeistert waren. Da saßen dann die Menschen mit Behinderung in ihrem eigenen Apartment, mit dem eigenen KĂŒhlschrank und einem eigenen Telefon und im KĂŒhlschrank vergammelte der KĂ€se und keiner schaute danach, weil der Mensch mit Behinderung leider nicht den Drang oder vielleicht auch nicht die Möglichkeit hatte, zum Telefon zu greifen und die Assistenz zu organisieren.

Das waren Anfangsschwierigkeiten, da darf man kein Kind mit dem Bad ausschĂŒtten. Aber das waren natĂŒrlich Dinge, ĂŒber die musste gesprochen werden. Damals hat Gerliff Gleis, von dem ich gerade schon angesprochen hatte, gesagt: Eines wird passieren – Menschen mit Behinderungen werden von dieser Entwicklung insgesamt profitieren, den Preis werden aber Menschen mit komplexen Behinderungen zahlen. Denen wird es schlechter gehen. Die werden – so war die Fantasie – in eher heimorientierten Wohnformen bleiben! Da haben wir von der Landesarbeitsgemeinschaft und auch mein eigener Verein gesagt: Nein, so wetten wir nicht, das muss anders gehen! So ist es im Prinzip an vielen Stellen auch gelungen, dass Menschen mit komplexen Behinderungen ihre eigenen vier WĂ€nde haben, die richtige Assistenz haben, und die Barmherzigkeit, die frĂŒher bei Ihrem weltanschaulich gebundenen TrĂ€ger die ErklĂ€rung fĂŒr alles war, inzwischen von einem Begriff abgelöst wird, der viel besser ist, nĂ€mlich von dem der Verbindlichkeit. Das heißt, dass dieses Leben und die Assistenz von Menschen mit Behinderung verlĂ€sslich und ohne Bevormundung begleitet wird und die Assistenz von Menschen mit Behinderung verbindlich ist. Das ist noch besser als Barmherzigkeit!

Schulz: Frau Bödewald haben Sie eine Frage?

Bödewadt: Ja, und zwar in Bezug auf die Selbstwirksamkeit. Was haben Sie speziell fĂŒr die Menschen mit Behinderung erwirken können, was auch die Nachwelt noch interessieren könnte?

Eckert: Was haben wir erreicht? Es gab eine Zufriedenheitsbefragung, die irgendwann auch ĂŒber die gesetzlichen Vorgaben ĂŒber die Einrichtungen kamen und die in Hamburg in einer besonderen Weise auch durch betroffene Menschen selbst durchgefĂŒhrt wurde. Diese Menschen wurden ausgebildet und haben dann diesen Prozess gestaltet. Das war dann wieder der Lackmus-Test durch die Frage, wie Menschen mit komplizierten Behinderungen darin vorkommen konnten, die dann auch ĂŒber ihre Situation Auskunft geben mĂŒssten. Ich denke, damals sind Instrumentarien entwickelt worden, wie man auch tatsĂ€chlich die Zufriedenheit der Menschen, die nichtsprechend sind, die erhebliche, kognitive EinschrĂ€nkungen haben, wertig und vernĂŒnftig erfragen kann. Und das ist etwas, was in Hamburg erreicht worden ist und was auch eine gewisse Nachhaltigkeit entwickelt hat.

Schulz: Wenn wir auf die aktuellen Entwicklungen schauen, welche Chancen sehen sie in dem neuen Bundesteilhabegesetz? Stichwort TrÀgerunabhÀngige Teilhabeberatung gibt es eine Konkurrenz zu dem, was die Landesarbeitsgemeinschaft darstellt und tut, oder ist das eine ErgÀnzung?

Eckert: Nein, das ist eine ErgĂ€nzung. Die Beratung, auch die im Teilhabegesetz vorgesehene unabhĂ€ngig Beratungsstelle, die ganze Struktur ist in Hamburg wesentlich von der Landesarbeitsgemeinschaft in die Umsetzung gebracht worden, nicht mehr von mir, sondern von den Menschen, die danach gekommen sind. Es braucht immer wieder das Zusammentragen von Erfahrung, damit man aus diesen vielen, verschiedenen Beratungsgeschichten, auch die Erfahrungen identifizieren kann, die auf der Handlungsebene, auf der politischen Auseinandersetzungsebene mit den KostentrĂ€ger oder den EinrichtungstrĂ€gern vorkommen mĂŒssen. Das ist eine Leistung der Landesarbeitsgemeinschaft. Sie fĂŒhrt regelmĂ€ĂŸig die unabhĂ€ngigen Beratungsleute zusammen und verstĂ€rkt und stabilisiert dadurch die ganze Struktur. Letztendlich ist das auch in Bezug auf die Beratung eine qualitĂ€tssichernde Maßnahme, dadurch dass eben ein kollegialer Austausch stattfindet. Da nimmt der Landesarbeitsgemeinschaft keiner die Butter vom Brot.

Bödewadt: Was können Sie fĂŒr den Werkstattrat der Alsterarbeit und fĂŒr die Frauenbeauftragten tun?

Eckert: Das sind Kernbereiche, die auch immer wieder BerĂŒhrung zur Landesarbeitsgemeinschaft haben, und zwar durch die Frage: Wie können die WerkstattrĂ€te tatsĂ€chlich eine gute, eine gleichberechtigte und eine wertige Rolle spielen? Das ist durch die inzwischen nicht nur im Bereich der Stiftung Alsterdorf, sondern auch bei anderen TrĂ€gern von WerkstĂ€tten inzwischen gut eingeĂŒbt, dass es dort Assistenten fĂŒr die WerkstattrĂ€te gibt, die auch ein echtes professionelles AssistenzverstĂ€ndnis haben und die nicht das VerstĂ€ndnis haben ‚Wir helfen und entscheiden auch noch gleich, was hinterher bei rauskommt‘, sondern tatsĂ€chlich eine offene Beratung, Hilfe und Assistenz machen. Bei dem Thema Die Situation von Frauen mit Behinderung ist eine Entwicklung ĂŒberhaupt erst einmal wahrnehmbar geworden. Das Thema gibt es schon lange. Aber es ist eben jetzt wahrnehmbarer geworden und wird nun auch in ArbeitsangĂ€ngen bearbeitet. Ich hoffe, dass sich da noch viel mehr tut, denn die Situation von Frauen mit Behinderung ist durch viel stĂ€rkere Benachteiligung und Diskriminierung geprĂ€gt als die von MĂ€nnern. Ich erinnere mich an meine Zeit bei Leben mit Behinderung Hamburg und an den Aufbau der Erwachsenenbildung in den Jahren direkt vor der Jahrhundertwende, also 1995, wo wir in der Erwachsenenbildung das Thema Frauen und Beratung von Frauen das erste Mal aufgenommen haben und mit einigem Erschrecken feststellten, welche Riesenrolle Missbrauchserfahrung und Gewalterfahrung fĂŒr Frauen mit Behinderung spielte. Man musste nur darĂŒber reden und man musste es eben so auch in der Beratung aufgreifen, so dass die Frauen einen Weg fanden, sich zu öffnen und ihre Situation zu bearbeiten. Dann stellte sich heraus, das hört sich jetzt sehr plakativ an, dass viele Frauen große LebensbeeintrĂ€chtigungen hatten. In der Außenwahrnehmung hieß es ‚Ja, sie ist behindert und dann ist das auch noch!‘ aber in Wirklichkeit waren es unbearbeitete traumatische VerhĂ€ltnisse aus Gewalterfahrungen. Und damit sind wir noch lange nicht fertig! In den Einrichtungen gibt es inzwischen viel Bewusstsein. In den ElternhĂ€usern sind solche Vereine wie unser Elternverein heftig unterwegs. Es fĂ€llt nicht vom Himmel, dass dort fair und respektvoll mit MĂ€dchen und mit Frauen umgegangen wird.

Bödewadt: Ich bin stellvertretende Frauenbeauftragte und mich wĂŒrde interessieren: Was wĂŒrden Sie mir die nĂ€chsten ein, zwei Jahre mit auf den Weg geben zur Frage, was ich fĂŒr die Frauen bei alsterarbeit tun könnte?

Eckert: Also, ich weiß nicht, inwieweit das in Ihre Struktur reinpasst, aber aus meiner Sicht ist es erforderlich, dass die Begleitung von Frauen mit Behinderung ganz bewusst auch aus einer Interessenvertretungssicht schon in Jugendjahren, schon als MĂ€dchen ansetzt. Selbstvertreter-Frauen, also Selbstvertreterinnen, gehören in die Arbeit mit jungen Frauen mit Behinderung, gehören in die Schulen, wo diese MĂ€dchen und jungen Frauen hoffentlich inklusiv beschult werden. Auch da, wo sie noch in separaten Schulen unterrichtet werden, gehört eigentlich schon das GesprĂ€ch und die Auseinandersetzung mit erfahrenen, Ă€lteren Frauen mit Behinderung dazu, um auch diesen jungen Menschen Peers anzubieten. Das Anbieten von Peers ist das Entscheidende ĂŒberhaupt!

Schulz: ErklĂ€ren Sie bitte noch mal kurz Begriff Peers fĂŒr die Zuhörer und Zuhörerinnen.

Eckert: Peers meint, dass Gleichbetroffene sich mit anderen Gleichbetroffenen gemeinsam ĂŒber ihre Situation auseinandersetzen, Erfahrungen weitertragen, vor allen Dingen auch Modelle anbieten, so dass eben ein junger Mensch, eine junge Frau oder ein junger Mann sehen kann: Aha, der hat eine Behinderung, die ist vielleicht ein bisschen anders als meine, aber der hat auch eine BeeintrĂ€chtigung und der richtet sein Leben so ein und das gefĂ€llt mir. Oder er oder sie sagt: So wie der will ich es ĂŒberhaupt nicht machen!

Man braucht Modelle, auch in den Inklusionsschulen. Man darf die Menschen nicht einfach vereinzeln nach dem Motto ‚Hier sitzt ein Mensch mit Behinderung und fĂŒnf Klassen weiter sitzt auch einer.‘ Man muss auch wirklich gucken, dass Menschen mit Behinderung die Chance haben, sich miteinander und aneinander abzuarbeiten Wie gehen wir denn eigentlich mit unserer Behinderung um? Dasist nicht das private Problem von einem Einzelnen, sondern das ist ein gesellschaftliches Problem. Da muss man sich mit anderen auseinandersetzen und dann darf man nicht erst warten, bis die Leute im gesetzten Alter sich in Selbsthilfegruppen zusammenraufen. Das muss viel frĂŒher anfangen!

Schulz: Jetzt mĂŒssen wir ein bisschen auf die Zeit schauen. Ich wĂŒrde gerne zum Schluss noch eine Frage stellen. Wenn Sie sich die Landesarbeitsgemeinschaft 2031 vorstellen, wie sieht diese aus?

Eckert: Man kann es sich einfach machen und kann sie linear fortschreiben. Die Landesarbeitsgemeinschaft – erinnere ich mich noch – ging bettelte regelmĂ€ĂŸig einmal im Jahr die Sozialbehörde an, um einen Fehlbetrag von 1500 Euro zusammenzukriegen, der aber fĂŒr die Landesarbeitsgemeinschaft tödlich gewesen wĂ€re, wenn er nicht gekommen wĂ€re. Inzwischen bekommt die Landesarbeitsgemeinschaft eine ordentliche Zuwendung. Sie ist dabei, eine ordentliche Fachlichkeit aufzubauen und nicht nur darauf angewiesen zu sein, dass die beteiligten VerbĂ€nde ihre Fachlichkeit zur VerfĂŒgung stellen.

Das muss weiter ausgebaut werden! Wir sind einen großen Schritt in Hamburg weitergekommen, so dass der Senatsbeauftragte inzwischen ein Hauptamtlicher ist. Ingrid Körner, die letzte Ehrenamtliche, hat gute Arbeit gemacht. Aber Ehrenamtler*innen, die das können, die das wollen und dann auch noch die Power und die Fachlichkeit haben wie Ingrid Körner, die findet man nicht so einfach. Das ist der Job eines Profis! Daher ist es klasse, dass das jetzt auch in Hamburg ein regulĂ€rer Job ist. Die Selbstvertretung in der Landesarbeitsgemeinschaft ist auch ein regulĂ€rer Job. Da mĂŒssen Leute hin, die dafĂŒr ausgebildet sind wie auch bei den VerbĂ€nden, bei der Wohlfahrtspflege oder auch im diakonischen Zusammenhang. Da gibt es ordentliche Verbandsstrukturen, die eine professionelle Arbeit machen mit Leuten, die das fachlich gelernt haben und die auch eine KontinuitĂ€t schaffen. Bei der Landesarbeitsgemeinschaft hatten wir lange Zeit die Situation: Beteiligung, Beteiligung, Beteiligung, Beteiligung! Wunderbar, aber dann rennt heute Morgen der hin, nĂ€chste Woche rennt ein anderer hin und ĂŒbermorgen rennt noch jemand drittes hin. So wird das nichts! Die Beteiligung muss vielmehr derart sein, dass die Leute erstens fachlich mithalten können und dass sie zweitens auch kontinuierlich eingebunden sind. Erst wird eine wirksame Kraft freigesetzt!

Ich wĂŒnsche mir, dass die Landesarbeitsgemeinschaft, auch von der Ausstattung her, neben der Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtspflege, neben dem ParitĂ€tischen oder von mir aus auch neben Ihren diakonischen VerbĂ€nden – die sind auch nicht so schlecht aufgestellt – ein gleichberechtigter Player wird. Darin hat die Landesarbeitsgemeinschaft derzeit noch ein bisschen Luft nach oben. Ich wĂŒrde mir sehr wĂŒnschen, dass es linear weitergeht. Wenn man einmal vom dem Weiter und Mehr abgeht und zur QualitĂ€t geht, dann wĂŒnsche ich mir, dass das Dreieck auf den Kopf gestellt wird und die Betroffenen und die Vertreter der Betroffenen ganz tatsĂ€chlich wesentlich zum steuernden Element werden. Es ist nicht in Ordnung, dass die KostentrĂ€ger und der EinrichtungstrĂ€ger sich mit den Betroffenen irgendwie arrangieren. Wir mĂŒssen dazukommen, dass tatsĂ€chlich die Betroffenen und ihre Vertretung die Taktgeber werden. Das war der geniale Gedanke des persönlichen Budgets, dass derjenige, der den Bedarf hat, das Geld kriegt und das Geschehen bestimmt. Die Idee des persönlichen Budgets hat nicht funktioniert. Es ist ein Nischenprodukt, das ist an sich nicht schlecht, aber aus der Nische ist es nicht so richtig rausgekommen.

Schulz: Okay.

Bödewadt: Herzlichen Dank fĂŒr ’s Mitmachen!

Schulz: Herzlichen Dank, dass Sie hier waren zum Interview. Ihnen alles Gute und der LAG auch!