06 / 2006 – Interview mit Hilke Osterwald

Teilnehmende

Hilke Osterwald

Reinhard Schulz

Nico Kutzner

Transkription

Kutzner: Guten Tag ich bin Niko Kutzner von 17motion. Herzlich willkommen hier bei uns zum Interview. Wenn Sie sich doch bitte vorstellen mögen.

Osterwald: Vielen Dank, ich freue mich, dass ich hier bin. Ich heiße Hilke Osterwald, bin Pastorin und seit einem halben Jahr im Ruhestand. Meine wichtigste Zeit als Pastorin war tatsächlich die in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. In der St. Nicolauskirche bin ich ein- und ausgegangen, komme jetzt aber von einem Dorf in Ostfriesland.

Schulz: Reinhard Schulz ist mein Name. Ich arbeite im Dokumentationsbereich für die Entwicklung der Eingliederungshilfe der letzten 40 Jahre in der Stiftung.

Schmuhl: Mein Name ist Hans Walter Schmuhl. Ich bin Historiker und arbeite zusammen mit der Kollegin, Ulrike Winkler, an einer Darstellung der Geschichte der Alsterdorfer Anstalten von den Anfängen bis an die Gegenwart heran.

Kutzner: Wie haben Sie den Umbruch erlebt?

Osterwald: Es gab sicher mehrere Umbrüche. Ich bin 1994 in die Stiftung gekommen, in die St. Nicolausgemeinde. Da stand tatsächlich wieder ein Umbruch bevor, der kurz nach meinem Eintritt anfing. Ich erinnere – ich war neu in diesem Arbeitsbereich –, dass mich manches schockierte. Ich war z. B. in einem Wohnhaus, wo in erster Linie ältere Damen lebten und die den Hausleiter Vater nannten. Der zeigte mir deren Zimmer und ging ohne Anzuklopfen darein. Das war mir unendlich peinlich, so dass ich das Gefühl hatte: Das ist nicht gut, so geht das nicht! Tatsächlich kam dann so langsam ein Umbruch in Gang. Und dieser Umbruch bedeutete, vom Betreuenden zum Begleitenden zu werden. Das war an der Zeit und brachte Verunsicherungen mit sich, denn für viele war das damals neu: Wie sollte das gehen? Wie sollte es z.B. gehen, sagen zu können, was ich wirklich will, wenn ich das noch nie im Leben durfte.

Kutzner: Wie war die Situation damals?

Osterwald: Die Situation war tatsächlich so, dass ganz, ganz viele Menschen noch auf dem Stiftungsgelände lebten. Es gab noch die Schranke – die war allerding meistens oben –, es gab noch die großen Wohngruppen und es gab relativ wenig Privatsphäre. Ich war auch in den schon existierenden Außenwohngruppen tätig. Das war ein ziemlich großer Unterschied. Also, Menschen, die in Stadtteilen lebten, fühlten sich deutlich wohler und bewegten sich deutlich anders als die, die auf dem Stiftungsgelände wohnten.

Schulz: Sie kamen 1994 in die Stiftung. Die Sanierungssituation begann ein Jahr später, 1995. Wie haben Sie diese Situation in Ihrer Funktion als Gemeindepastorin erlebt?

Osterwald: Ich war in der Gemeinde die Nachfolgerin von Herrn Baumbauch, der in dieser Sanierungszeit und in dieser Zeit der Krise Direktor wurde. Auch in der Gemeinde gab es tatsächlich – ich würde mal sagen – Unsicherheit und Verunsicherung, weil so viel im Gange war. Es war nicht nur die finanzielle Sanierung, sondern es wurde inhaltlich plötzlich ganz viel in Frage gestellt, was schon immer so gewesen war. Nun sollte das nicht mehr sein und sollte sich verändern! Das hat manche tatsächlich vertrieben, also in erster Linie von den Mitarbeitenden oder auch von der Schwesternschaft, die dann z.B. auch nicht mehr zum Gottesdienst kamen, weil alles anders war und nicht mehr so in ihrem Sinn.

Schulz: Wie würden Sie paradigmatisch das Vorher und Nachher beschreiben? Als Sie kamen, war da noch viel Anstalt oder gab es auch schon Ansätze von Normalisierung und Selbstbestimmung?

Osterwald: Es war noch sehr viel Anstalt. Beispielhaft dafür die Antwort auf meine Frage: Wie hat der Gottesdienst zu sein? Da wurde mir gesagt: Die Predigt ist für die Nicht-Behinderten und die Liturgie ist für alle oder für die Menschen mit Behinderung. Ich habe das als einen ganz unsinnigen Spagat empfunden und das ganz schnell gelassen. Irgendwann bin ich von der Kanzel heruntergestiegen und nie wieder hoch.

Schulz: Wie haben Sie das gelöst?

Osterwald: Ich habe einfach versucht, Gottesdienst für alle zu machen und zwar von A bis Z und nicht den Teil für die und den anderen Teil für die. Das war tatsächlich noch ein Stück Anstalt und Bevormundung. Es wurde z.B. von Menschen mit Behinderung als Kindern geredet, woraufhin ich dann gesagt habe: Wieso, welche Kinder?! Das sind doch keine Kinder! Es war tatsächlich so. Die Kirchengemeinde war schon manchmal die letzte Bastion der Anstalt. Das habe ich auch gesagt.

Bei den Menschen, die im Stadtteil lebten, wie gesagt, spürte man den Unterschied. Ich habe damals bei den Schlumpern [Bewohner*innen der Außenwohngruppe Haus Schlump] Andachten gefeiert, die wunderbar waren und die mich auch sehr geprägt haben. Da war im Selbstbewusstsein der Menschen ein ganz, ganz großer Unterschied. Es waren sie, die mir gesagt haben, wie ich es machen soll.

Schmuhl: Ich gehe noch mal einen Schritt zurück zu der Gemeindepastorin an der St. Nicolauskirche. In welchen Punkten unterschied sich dieses Amt von einer x-beliebigen anderen Gemeinde?

Osterwald: In relativ vielen Punkten. Es gab z.B. keine oder so gut wie keine Abendveranstaltungen. Der Kirchenvorstand war anders und tagte anders. Die Gottesdienste waren natürlich sehr anders oder wurden es immer mehr, als ich mir die Freiheit dazu nahm. Auch was das Gemeindeleben anging – wobei sich das tatsächlich in diesen 20 Jahren, die ich insgesamt dann da war, sehr veränderte und es immer mehr zu inklusiven Angeboten kam –, blieben viele weg von denen. Dafür kamen andere dazu und es wurde richtig gut!

Schmuhl: Sie sagen, der Gottesdienst veränderte sich. Sie nannten vorhin schon das Beispiel der Predigt und, dass Sie so predigten, dass Sie alle erreichten. Was gibt es noch für Punkte – das finde ich sehr spannend – in der Gestaltung des Gottesdienstes?

Osterwald: Das Besondere an den Gottesdiensten in St. Nikolaus war von Anfang an das sonntägliche Abendmahl, also jeden Sonntag. Das war wirklich etwas Besonderes! Alle, die nur so als Gäste in die Kirche kamen, haben das rückgemeldet. Das war es, was sie auch am meisten berührte. Bei meiner Einführung war eine Frau aus meiner vorigen Gemeinde dabei und der Mensch neben ihr fragte sie: Kommste mitfeiern! Das Abendmahl als Feier zu begreifen! Es war ein ganz unordentlicher Kreis und es gab keine Scheu, so viel zu trinken wie man Durst hatte oder einer fragte mich zum Beispiel: Darf ich noch einen Keks haben? Also Gerechtigkeit bedeutet nicht, dass jeder den gleichen Teil kriegt, sondern, dass es sich nach der Bedürftigkeit richtet. Das habe ich da z.B. gelernt. Also ein wirkliches Miteinander, wo Unterschiede ausgeglichen waren. Also es kam nicht mehr darauf an, wer ist wie, sondern wir sind Mensch! Das war wirklich so besonders, dass es mich bis heute geprägt hat und ich es in jeder anderen Gemeinde auch vermisse, diese Lebendigkeit und auch dieses Spontane im Gottesdienst: Jemand hatte eine Idee und sagte etwas dazu. Es waren wunderbare Dialoge und manchmal konnte ich auch das Heft aus der Hand geben und Jemand anders hat weitergemacht. Ja, also da habe ich Kirche ganz, ganz anderes erlebt.

Kutzner: Haben Sie auch erlebt, wie das in der Gemeinde war, bevor Sie gekommen sind?

Osterwald: Als ich kam, habe ich tatsächlich noch diese Reste von Anstaltsgemeinde erleben können, und, wie gesagt, das hat mich eher irritiert und schockiert. Aber was mich überzeugt hat, mich zu bewerben, war diese Herzlichkeit, dieses Direkte, so dass ich das Gefühl hatte: Hier fühle ich mich wohl und wenn ich irgendwas noch nicht kann, noch nicht weiß, da sind Menschen, die mir helfen. Ich habe mich da sehr willkommen gefühlt.

Kutzner: Wie wurden die Leute früher im Gottesdienst behandelt in der Gemeinde?

Osterwald: Das weiß ich nicht mehr aus eigener Anschauung, sondern das weiß ich nur aus Erzählungen, dass es z.B. eine ganze Zeit bis kurz, bevor ich kam, so war, dass Menschen mit Behinderungen nicht mit allen anderen zusammen Abendmahl feiern durften, sondern dass das irgendwie getrennt war und dass sie teilweise auch woanders saßen. Das haben mir auch alte Alsterdorferinnen oder Alsterdorfer erzählt. Oder z. B. wenn sie gemaßregelt werden sollten, bekamen sie einen bestimmten Platz. Es war aber auch so, als ich anfing, dass es noch Bänke in der Kirche gab, wie ja fast überall, und das bedeutete, dass Jemand, der auf den Rollstuhl angewiesen war, entweder vorne oder hinten geparkt wurde, was nicht schön war. Irgendwann wagten wir den Schritt und nahmen alle Bänke heraus. Das war dann eine Gemeinschaft von allen und jeder konnte sich den Platz suchen, den er oder sie gerne wollte. Wie gesagt, Anstalt habe ich auch in dieser Kirche noch gespürt, aber das ist dann so nach und nach verschwunden und eine alte Schwester sagte einmal: Die Alsterdorfer haben sich ihre Kirche zurückerobert! Das fand ich eine schöne Aussage.

Schmuhl: Da kann ich anknüpfen mit einer Nachfrage, anschließend an das, was Sie über das Abendmahl gesagt haben. Gab es eigentlich auch noch eine Rückerinnerung an die Tradition? Was die Frage des Abendmahls für Menschen mit Behinderung angeht, ist seit Sengelmanns Zeiten viel Bedeutendes gesagt und geschrieben worden rund um Alsterdorf. Gab es da noch irgendwie eine Traditionslinie oder war das Vor-Vergangenheit?

Osterwald: Meinen Sie jetzt ganz speziell was das Abendmahl betrifft?

Schmuhl: Also diese Trennung des Abendmahls, von der Sie erwähnt haben, dass es vor Ihrer Zeit mal so gewesen sein sollte, wäre ganz gegen Sengelmann gewesen.

Osterwald: Also, ich habe mich auch mit Sengelmann intensiver beschäftigt und stelle fest, dass vieles ganz gegen seine Absichten war. Also im Grund genommen dieser ganze Gedanke von Anstalt und Geschlossenheit und einem System in sich, das war total gegen das, was Sengelmann wollte. Der hatte gesagt, dass Menschen, z.B. Kinder voneinander lernen sollten und dass jeder Mensch Möglichkeiten und Potential hat. Das habe ich tatsächlich auch so erlebt, dass das nicht sein durfte. Also auch mit Blick auf Gruppen, z.B. gab es den sogenannten Gemeindenachmittag, das war so etwas wie ein Seniorenkreis, würde man jetzt sagen, da durften bestimmte Klientinnen und Klienten – damals waren es Bewohnerinnen und Bewohner – nicht hinkommen. Sie saßen am „Katzentisch“ und waren ausgewählt. Also es durfte nicht jeder, der wollte.

Schulz: Welche Schnittstelle zur Eingliederungshilfe, also zu den Bereichen der Behindertenhilfe, hatten Sie aus der Kirchengemeinde heraus in Ihrer Funktion?

Osterwald: Also ich bin ja ganz viel in seelsorgerlicher Begleitung in den Gruppen gewesen, ganz, ganz viel natürlich in Fragen von Sterben, Tod und Trauer. Das war vielleicht auch so das Intensivste und auch wiederum das, wo ich ganz viel gelernt habe, also den Umgang mit einem Thema, um das viele einen Bogen machen. Das habe ich in Alsterdorf wieder ganz anders gelernt, und zwar von den Klientinnen und Klienten. Das war toll!

Schmuhl: Kommen wir noch auf das Kirchengebäude zurück. Wie haben Sie das mit dem Fresko im Altarraum erlebt? Ich finde es ja immer ein bisschen bedrückend in diesem Raum und freue mich schon auf die Umgestaltung. Wie haben Sie das erlebt? Wie sind Sie mit diesem merkwürdigen Bild umgegangen [gemeint ist das Fresko, das jetzt außerhalb, hinter der Kirche St. Nicolaus am Lern- und Gedenkort aufgestellt ist. Es zeigt die Menschen mit Behinderung ohne Heiligenschein, während die anderen Personen einen haben.]?

Osterwald: Wir sind mit diesem Bild so umgegangen, dass wir es verhängt haben. Es stand ja unter Denkmalsschutz oder steht immer noch unter Denkmalschutz. Die einzige Möglichkeit damals nach vielen Diskussionen war, diesen Vorhang und das große schöne bunte Kreuz von Peter David – ich weiß gar nicht, wo es jetzt steht, ich glaube im Haus Schönbrunn – davor zu hängen. Das hat wirklich das Bild in der Kirche sehr verändert. Ich fand es fast ein bisschen schade, als der Vorhang dann wieder wegkam, weil das Bild wieder zum Vorschein kam. Das Bild ist heftig und erschlägt. Es hat eine so massiv diskriminierende Aussage, dass man so nicht Gottesdienst feiern kann.

Schulz: Das eine ist die Kirchengemeinde, das andere Thema ist Diakonie in der Stiftung. Ich war selber lange Jahre Mitarbeiter in Alsterdorf und vor einiger Zeit ist die Kirchenzugehörigkeitspflicht gefallen. Wie haben Sie das erlebt bzw. erleben es jetzt aus dem Abstand heraus?

Osterwald: Das war auch etwas, was ich immer wieder gesagt habe, weil ich auch ein Stück die Leidtragende war. Ich habe ganz viele Menschen, wenn es gut war, wieder aufgenommen – das war dann nicht ganz so schlimm – aber ganz viele Menschen auch getauft. Und ich war mir dabei nie so sicher: Wollen die das wirklich, oder wollen die das nur für den Arbeitsplatz? Ich habe mich manchmal gewundert, dass in unseren Gesprächen doch etwas passiert ist – glaube ich jedenfalls. Ich habe dann gedacht: Taufe ist mir zu wichtig, ich möchte keinen zwingen, und Kirche ist einladend, Kirche ist offen und Kirche, nein, sagen wir mal so, Gott ist nicht nur für Jemand, der Kirchenmitglied ist, erfahrbar. Das ist viel zu klein! Das habe ich immer so gedacht und lange, lange Jahre dafür plädiert, über die Frage der Kirchenzugehörigkeit bzw. die ACK-Klausel anders nachzudenken. Ich habe aber gesagt: Es muss dann trotzdem, wenn wir das fallen lassen, spürbar sein, dass es anders ist als bei, was weiß ich wo, bei Leben mit Behinderung – nichts gegen Leben mit Behinderung – aber, dass es eben auch noch etwas anderes gibt in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf.

Schulz: Das führt jetzt zum Thema Leitbild und Leitbilder in der Stiftung. Damit waren Sie, glaube ich, auch gerade in der der Phase sehr aktiv beschäftigt, nachdem Herr Baumbach nicht mehr dabei war, oder war das auch vorher schon? Ich bin mir nicht mehr ganz sicher.

Osterwald: Ja, ich war in einem der Resonanzworkshops dabei – da waren Sie vielleicht auch da. Also insofern war ich schon in diesem Prozess drin. Es gab diese fünf Begriffe, die auf ziemlichen Widerstand stießen. Der Begriff der Nächstenliebe oder der Barmherzigkeit z. B. kamen nicht vor, was ja alles gute Worte sind, aber in gewisser Weise auch belegt, und bei ganz vielen gehen dann viele Bilder los. Das Ansinnen von Herrn Baumbach war, mit anderen Begriffen, vielleicht etwas zu öffnen und nicht gleich die Schotten dicht zu machen.

Dann starb Herr Baumbach. Ich bin in den Leitbildprozess eingestiegen und habe seine Arbeit fortgeführt. Wir haben unterschiedliche und viele Veranstaltungen zu dem Thema und zu den Begriffen gemacht für alle und für alle Bereiche der Stiftung, aber auch in den einzelnen Gesellschaften und auch bei den Einführungstagen.

Schmuhl: Wie kam es dazu, dass Sie stellvertretende Direktorin wurden?

Osterwald: Das musste immer einer von den anderen Pastorinnen und Pastoren sein. Und es bot sich an, dass ich das werde. Ich war kaum da, 1995 war das glaube ich, als ich schon für die Seelsorge in der Stiftung zuständig wurde. Mit Herrn Baumbach habe ich mich immer gut verstanden und insofern war das eine gute Sache, dass ich stellvertretende Direktorin wurde. Als er starb, war die Idee, dass Herr Fenker und ich erst mal in seine Fußstapfen treten sollten und ich als stellvertretende Direktorin dann kommissarisch Direktorin für knappe zwei Jahre werden sollte.

Schulz: Das ist eigentlich eine merkwürdige Konstruktion, dass die stellvertretende Direktorin bzw. der stellvertretende Direktor nicht Mitglied des Vorstandes an sich ist. Darüber habe ich mich gewundert.

Osterwald: [Das war so,] weil es tatsächlich nur für den kirchlichen und seelsorgerlichen Bereich gedacht war. Ich glaube aus der Geschichte heraus ist das dann eher so zu verstehen, dass die Stiftung und die Kirchengemeinde doch deutlich enger miteinander verwoben waren. Die Kirchengemeinde ist ja auch erst 1964, wenn ich das jetzt noch richtig weiß, eine eigene ev.-luth. Kirchengemeinde im Kirchenkreis geworden als Sondergemeinde, eine der paar Sondergemeinden in Hamburg. Also, die Gemeinde hat nur, glaube ich, 40 Jahre existiert. Das war nicht lange.

Kutzner: Konnten Sie im Umbruch auch etwas verändern?

Osterwald: Ach, wenn man das immer so genau wüsste. Ich hoffe sehr. Ich sag mal so, für mich war diese biblische Geschichte von dem blinden Bartimäus meine Leitgeschichte, bevor es die Leitgeschichte der Stiftung wurde. Und Eva Stempriakowski [eine Klientin aus der Karl-Wolff-Straße, die von Geburt an blind ist] hat mir dazu verholfen, dass es meine Geschichte wurde.

Das ist also ein Blinder und dem stellt Jesus die Frage: Was willst du, dass ich dir tun soll? Also, zu fragen, was machen wir jetzt miteinander, was wollen wir voneinander und welchen Weg gehen wir miteinander, das ist für mich so die Leitfrage geworden. Dieses Thema und die Frage Was willst du von mir? habe ich, wann immer es passte und wo immer es passte, auch tatsächlich eingebracht und mich mit vielen darüber auseinandergesetzt, weil das eine ganz andere Haltung ist als die, die vorher war, nämlich Ich weiß, was für dich gut ist. Was willst du von mir? ist eine andere Haltung. Und ich glaube und hoffe, ich habe etwas bewirkt habe.

Schulz: Es ging in den Phasen um Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Wenn Sie so zurückschauen, wie hat sich das aus ihrer Sicht zum Thema Inklusion hin entwickelt? Wurde irgendwann nach Ihrer Wahrnehmung ein Schalter umgelegt: Aus der alten Anstalt wurde eine moderne Einrichtung? War das in der Zeit, als Sie dort waren oder ist das nie passiert?

Osterwald: Doch. Es ist natürlich ein Prozess gewesen. Ich habe jetzt auf dem Hinweg noch einmal darüber nachgedacht. Ich bin der Meinung, einen wirklich, wirklich großen Anteil an dieser Veränderung hatte die Gestaltung des Alsterdorfer Marktes und die Öffnung des Geländes, also die Tatsache, dass einfach an diesem Ort Menschen sich ganz anders begegnen mit allen Problemen, die Sie auch kennen. Ich glaube, das hat wirklich auf allen Seiten viel in vielen Köpfen bewegt. Das war der Anfang oder ein ganz wichtiger Anfang auf diesem Weg zur Inklusion.

Inklusion – davon sind wir, glaube ich, noch ganz, ganz weit weg! Dass diese Buntheit der Gesellschaft wirklich ein ganz anderes Gesellschaftsbild ist, das ist bis heute nicht verstanden. Und in der Schule, finde ich, merkt man das am deutlichsten. Inklusion wurde, glaube ich, von manchen als Sparprogramm verstanden. Und das ist es überhaupt nicht. Das habe ich auch immer gesagt: Inklusion kostet Geld, und zwar viel. Das muss man wollen und dann muss man das Geld in die Hand nehmen, weil es unter Umständen heißt, dass Menschen viel, viel mehr Begleitung brauchen, um dann wirklich teilhaben zu können so, wie sie wollen.

Schulz: Als dann 2006 Pastor Baumbauch starb, gab es für Sie da ein inhaltliches Vermächtnis, was weiterzuführen war – das Thema Leitbildprozess haben Sie schon benannt?

Osterwald: Ich denke inhaltlich und vom Menschenbild her waren wir uns sehr einig und da konnte ich wirklich gut anknüpfen. Es war natürlich ein Stück Vermächtnis. Ich wusste schon auch, was ihm wichtig war und habe es tatsächlich als meine Verpflichtung angesehen, für diese Übergangszeit in seinem Sinne, was aber auch mein Sinn war – es war nicht schwer – weiter zu machen und das weiter zu entwickeln.

Schulz: Die neue Konstellation mit Herrn Kraft und Herrn Fenker – ein ganz anderes Feld! Wie sind Sie da zurechtgekommen? Wie hat das funktioniert?

Osterwald: Wir kannten uns und insofern hat es gut funktioniert. Es hat auch mal geknirscht. Aber eigentlich haben wir uns gut ergänzt und gut verstanden und konnten, bei aller Bremse, die natürlich da war dadurch, dass wir wussten, dass es dies eine Übergangszeit war, trotzdem auf diesem Weg weitergehen und auch etwas weiterentwickeln.

Für mich war natürlich, nicht nur für mich, ich glaube auch für die, die mich kannten, der Ort ein ganz neuer, da oben in der Vorstandsetage. Da tauchten plötzlich ganz andere Leute auf in der Vorstandsetage und in meinem Büro als die, die da sonst so ein- und ausgingen. Ich war immer sehr basisverhaftet. Das war mir wichtig.

Schulz: Noch mal zu den Räumen im Vorstand. Ich fand sie immer ein bisschen überdimensioniert zu Zeiten von Kraft und Baumbach. Der Vorstand danach hat die Räume halbiert. Hatte das auch noch eine andere Bedeutung?

Osterwald: dass die Räume erst mal so waren? Also, ich habe auch die vorigen gekannt –die kannten Sie auch, die Räume an der Pforte mit dem Schreibtisch von Pastor Sengelmann usw. Das waren andere Räume. Dem damaligen Vorstand war es, glaube ich, ganz wichtig, dass Diakonie nicht immer so verstaubt daherkommt und so altmodisch. Aber Sie haben recht, ich fand sie [die Räume] auch groß, aber manchmal waren auch viele Leute da. Also, es war im Grunde genommen ein Sitzungsraum. Ich habe das sehr genutzt für die wirklich oft vielen Leute; um den Tisch herum war es dann plötzlich auch nicht mehr so riesig. Mein eigenes Büro war nicht groß, das war klein.

Schmuhl: Wenn Sie jetzt auf die Anfänge zurückschauen, die Sie in Alsterdorf mitbekommen haben, was waren die großen Entwicklungslinien?

Osterwald: Das war in der Tat der Paradigmenwechsel und das war die Öffnung, das war diese konsequente Weiterverfolgung des Gedankens der Inklusion, und zwar differenzierter als ihn manche Politiker denken, deutlich differenzierter! Das schlägt sich tatsächlich in vielem äußeren nieder, das schlägt sich in der Kunst nieder, die hier gemacht wird, in den Medien und in vielem, was hier von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf ausgeht. Die große Linie ist, denke ich, das Menschenbild, was tatsächlich auch durch die Arbeit geprägt ist, und was etwas ist, wo andere von lernen können, was vielleicht auch anstößig ist für manche, das aber eben einen Anstoß gibt.

Kutzner: Wie haben Sie die Sanierung vom Alsterdorfer Markt erlebt?

Osterwald: Ich habe sozusagen am Rande gearbeitet, da war unser Büro noch im Herntrichhaus. Das heißt: Es war staubig und laut. Es war aber auch sehr spannend, was sich da entwickelte und was wegkam. Da war immer auch eine Mischung aus Trauer um die Orte, die verschwanden – also, als das Haus Guter Hirte abgerissen wurde und dieses Mosaik verschwand, das war für viele ein Stück Heimat, aber Heimat muss nicht immer was Gutes sein –, und insofern gab es immer eine Spannung zwischen Trauer um das, was damals verschwand, und Aufregung über das, was an Neuem passierte. Das war auch etwas Schönes. Das hatte in meiner Arbeit etwas ausgelöst, nämlich, dass Jemand sagte: Da geht jetzt auch unsere Geschichte verloren! Die Menschen, die schon ganz lange in Alsterdorf gelebt hatten, hatten das Gefühl, ihre Geschichte würde mit abgerissen. So ist ja das erste Büchlein „So war das hier“ entstanden. Das war eigentlich auch schon ein Inklusionsprojekt. Besonders schön war, dass wir auf Lese-Tour gegangen sind und das Buch vorgestellt haben.

Der Alsterdorfer Markt ist schon etwas sehr Besonderes und ich finde nach wie vor auch Gelungenes, ein guter Ort. Ich kannte eine Frau bei mir aus dem Stadtteil – ich habe in Eppendorf gewohnt –, die, wann immer sie konnte, mit dem Fahrrad über den Alsterdorfer Markt gefahren ist. Sie sagte: Das ist hier so gut, das fühlt sich so gut an!

Schulz: Zwei Jahrzehnte waren Sie in Alsterdorf. Wenn Sie jetzt erneut vor der Entscheidung stehen würden, dort noch mal wieder anzufangen, mit dem Wissen von heute, wie würden Sie sich heute entscheiden?

Osterwald: Ich würde es wieder machen. Ich habe in Alsterdorf angefangen mit den Gedanken: Erstens weiß ich gar nicht, ob ich das kann, zweitens ich probier‘s mal und mach‘s mal fünf Jahre. Daraus sind dann zwanzig geworden. Ich bin schweren Herzens gegangen. Ich hatte das Gefühl: Das ist jetzt der Zeitpunkt, wo es auch gut ist, Neues zuzulassen. Das war eine schwierige Entscheidung und mit ganz viel Trauer verbunden. Aber ich habe immer noch gute und innige Kontakte zu Alsterdorf.

Schulz: Schön. [ Alle nicken] Ich glaube, die Zeit ist auch um.

Kutzner: Eine Frage hätte ich noch zum Schluss: Wie stehen Sie jetzt zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf?

Osterwald: Ich beobachte aus der Ferne, was da passiert, und natürlich ganz besonders, was da in der Kirche passiert, also dass das Bild jetzt raus ist und freisteht – ich weiß nicht, ob es jetzt schon weiter ist –

Schulz: Es steht frei.

Osterwald: Es steht frei. Ich werde tatsächlich vorbeifahren, wenn ich schon mal in Hamburg bin, und werde mir das angucken. Oft erzähle ich auch Menschen von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Ich weiß ja, dass manches auch schwierig war, um manches gerungen wurde und vielleicht auch nicht alles immer gut gelaufen ist. Aber ich finde, dass der Weg insgesamt ein guter und auch ein mutiger war und hoffentlich weiterhin sein wird.

Kutzner: Sehr schönes Schlusswort. Vielen Dank.

Schulz: Gleichfalls, vielen Dank.

Schmuhl: Wir bedanken uns sehr herzlich.