05 / 2010 – Interview mit Tobias Gaiser, Marco Christl und Sebastian Weyhing

Teilnehmende

Sebastian Weyhing

Marco Christl

Tobias Gaiser

Monika Bödewadt

Reinhard Schulz

Transkription

Bödewadt: Ich begrüße Sie zur Diskussion. Mein Name ist Monika Bödewadt. Wenn Sie sich bitte vorstellen mögen.

Weyhing: Mein Name ist Sebastian Weyhing und ich bin aktuell Reha-Bereichsleitung bei alsterarbeit.

Christl: Mein Name ist Marco Christl und ich arbeite aktuell als KBQ-Leitung.

Gaiser: Mein Name ist Tobias Gaiser. Ich bin Geschäftsführer der Tohus-GmbH im Kreis Storman aber mit langer Vergangenheit in Hamburg. Seit 2003 bin ich bei alsterarbeit.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich koordiniere das Projekt „Dokumentation der Eingliederungshilfe in der Stiftung Alsterdorf der letzten vierzig Jahre“ und freue mich, dass Kollegen aus alsterarbeit und aus der Tohus-Gesellschaft zum Interview und zur Diskussion hier sind. Herzlich willkommen!

Weyhing: Danke.

Christl: Danke.

Schulz: Die erste Frage ist natürlich: Wie kam es dazu, dass Sie in die Evangelischen Stiftung Alsterdorf bzw. in die alsterarbeit gGmbH gekommen sind? Könnten Sie hierzu nacheinander ein kurzes Statement geben?

Weyhing: Soll ich beginnen?

Schulz: Ja.

Weyhing: Ich bin Ende 2008 nach Hamburg gezogen und stand vor einer beruflichen Neuorientierung. Meine damalige Partnerin hatte Kontakt zu dem neuen Vorsitzenden und der sagte: Bewerbe dich doch mal bei alsterarbeit, da gibt’s ein spannendes Arbeitsfeld. Das hat dann geklappt und so bin ich seit dem 01.01.2009 Mitarbeiter von alsterarbeit.

Christl: Ich bin 2002 von München nach Hamburg gezogen und wollte mich auch beruflich neu orientieren. Ich arbeitete damals im Service in einem kleinen Café. Dort lernte ich eine Kellnerin kennen, die im Hauptberuf bei der barner 16 arbeitete. Wir kamen ins Gespräch und sie fragte mich, ob ich in der barner eine Küche einbauen könnte. Ich sagte zu, weil ich gerade Zeit hatte, und lernte dort Kai Boysen kennen. Wir sind in ’s Gespräch gekommen und ich erzählte ihm, dass ich Sozialpädagoge bin und er sagte: Bewirb dich doch mal bei alsterarbeit! Das habe ich gemacht und bekam dann nach circa einem Vierteljahr einen Anruf. Danach war klar: Jetzt ist eine Fachdienststelle ausgeschrieben. Auf die habe ich mich beworben und seitdem bin ich hier bei alsterarbeit.

Gaiser: Bei mir war es so, dass ich die erste Berührung mit dem Thema Werkstatt und Teilhabe am Arbeitsleben im Rahmen eines Schulpraktikums mit 13 Jahren hatte. Das war noch in der nordrheinwestfälischen Provinz. Von da an war klar, dass ich in diesem Bereich tätig sein wollte. Den Zivildienst habe ich in einer Werkstatt gemacht, hab dann studiert und mein Anerkennungsjahr gemacht. Meine damalige Freundin, jetzige Frau, hatte in Lüneburg studiert, und wir sagten dann: Jetzt können wir mal das Zusammenleben riskieren. Und das machen wir in Hamburg!

Nach meinem Anerkennungsjahr habe ich mich damals bei den vier Hamburger Werkstätten initiativ beworben. Die damaligen Alsterdorfer Werkstätten luden mich zu einem Vorstellungsgespräch ein bei Gudrun Schulz, der damaligen Fachdienstleitung. Das klappte und dann bin ich nach Hamburg gezogen und habe angefangen.

Bödewadt: Was war bisher Ihr schönstes Arbeitserlebnis bei alsterarbeit?

Weyhing: Das lässt sich gar nicht so leicht beantworten, denn in den letzten zwölf Jahren, in denen ich hier tätig war, gab es sehr viele schöne Arbeitslebnisse. Aber um es pauschal zusammenfassen, es ist immer wieder schön, zu sehen, dass, wenn man ein gutes Setting schafft, um Kund*innen oder Klient*innen ein Angebot zu machen, diese sich dann selbst weiterentwickeln und ihre eigenen Erfolgstories schreiben. Das ist das, was mich motiviert, weiterzumachen.

Christl: Ich habe viele Abteilungen durchlaufen. Das schönste Erlebnis für mich war, als ich als KBQ-Leitung das Team neu zusammengestellt und meine ersten zwei Kollegen selbst eingestellt hatte. Mit ihnen hatte ich viel Glück und Erfolg und wir haben uns seitdem mit dem tollen Team ganz stark weiterentwickelt. Das macht seit acht Jahren enorm viel Spaß und ist deswegen ein lange dauerndes schönes Erlebnis.

Schulz: Mögen Sie noch mal sagen, was KBQ heißt. Das haben Sie schon zweimal genannt.

Christl: KBQ heißt Kompetenzzentrum Bildung und Qualifizierung und ist die Abteilung, die bei alsterarbeit für die gesamte berufliche Bildung zuständig ist.

Gaiser: Es ist gar nicht so einfach zu sagen, was der Höhepunkt oder das schönste Erlebnis war, aber ich werde mal eins erzählen. Nachdem ich gestartet war und noch gar nicht genau wusste, was meine Aufgaben sein würden, wurde irgendwann klar, dass ich die Zuständigkeit für den damaligen Dienstleistungsbereich bekommen würde. Das waren die Menschen, die nicht in den klassischen Werkstattbezügen tätig waren, sondern auf den Wohngruppen der Stiftung als Wohngruppenhelfer eingesetzt wurden oder auch schon damals sehr innovativ auf ausgelagerten Arbeitsplätzen arbeiteten. Aber die fanden sich noch nicht so richtig in einer Organisationseinheit wieder, sondern waren alle eher Einzelkämpfer und stärker an die Wohngruppen angebunden. Damals gab es schon den Impuls, zu sagen, dass auch diese Menschen irgendwie in eine Struktur eingebettet sein müssten und dass sie verlässliche Ansprechpersonen bräuchten und dass das alles strukturiert vor sich gehen muss.

Zu diesem Zeitpunkt bin ich eingestiegen. Die erste Zeit war davon geprägt, erst mal zu gucken, welche Menschen dort arbeiteten und wo sie arbeiteten. Das war wirklich in ganz Hamburg verstreut und teilweise im Umland. Damals bin ich mit dem Kollegen Steffen Aurich – das ist schon ganz lange her – viel im Auto herumgefahren. Irgendwann schafften wir es, das erste Mal eine sogenannte Betriebsversammlung zu machen, zu der auch sehr viele kamen und sagten: Mensch, jetzt haben wir erst das Gefühl, dass wir dazugehören und nicht solche Einzelkämpfer sind! Das war ein Highlight aus meiner Anfangszeit, an das ich auf jeden Fall gerne denke.

Schulz: Sie sind alle in der 2000er-Dekade bei alsterarbeit bzw. in der Stiftung angefangen. Während der vorhergehenden Dekade gab es wichtige Weichenstellungen, z.B. die Sanierung der Stiftung Mitte der 1990er-Jahre, die Öffnung des Anstaltsgeländes, die Initiierung des Alsterdorfer Marktes, und das Thema Binnenmodernisierung wurden erfolgreich abgeschlossen.

Was haben Sie noch an Nachwirkungen von diesen Entwicklungen wahrgenommen, als Sie angefangen sind? Der Begriff Alsterdorfer Markt war Ihnen wie die anderen Themen möglicherweise auch bekannt?

Weyhing: Ich habe am Ende der Dekade angefangen, als ich 2008 nach Hamburg kam. Da waren der [Alsterdorfer] Markt und das Stiftungsgelände schon offen. Die Zeit der Schließung, in der noch ein Zaun um das Gelände herum war, kenne ich eher aus den Erzählungen. Das heißt ich kenne ihn nur offen. Allerdings muss ich feststellen – es sind seitdem über zehn Jahre vergangen –, dass sich das Gelände in den letzten zehn Jahren trotzdem noch mal verändert hat. Ich habe den Eindruck, dass es sich mittlerweile noch mehr etabliert hat, noch bunter und noch vielfältiger geworden ist. Als ich das erste Mal dort ankam, fühlte ich mich sofort wohl, aber mein Eindruck war, dass viele Menschen sich dort noch zaghaft bewegten. Da ist jetzt eine ganz andere Selbstverständlichkeit entstanden und man kann man sich gar nicht mehr vorstellen, warum das irgendwann anders gewesen sein sollte. Das ist so meine Sicht auf das Ende der Dekade.

Schulz: Wie ging es Ihnen? [Hinwendung zu Marco Christl]

Christl: Ich kann mich noch gut erinnern, als ich das erste Mal auf dem Gelände unterwegs war und das Pförtnerhäuschen noch stand. Das war mir damals etwas suspekt, weil ich den Hintergrund der Stiftung nicht kannte. Aber dann war da natürlich dieser Alsterdorfer Marktplatz. Ich war bei alsterkontec angefangen, das ist ganz am Ende des Stiftungsgeländes, und wir sind oft zum Markt gelaufen, um uns etwas für den Mittag zu holen, und haben das sehr liebgewonnen.

Ich habe das Gefühl, dass sich das alles, wie Sebastian gerade gesagt hat, einfach toll entwickelt hat und sich immer noch weiterentwickelt. Es sind immer mehr Menschen dort, gerade am Freitag, wo der Wochenmarkt ist, hat man das Gefühl, dass man mitten in der Stadt unterwegs ist. Und es sind viele Menschen unterwegs! Was mir einfach sehr gut gefällt ist, dass der ganze Stadtteil wirklich diesen Marktplatz kennengelernt und für sich gefunden hat, um sich dort aufzuhalten und einzukaufen. Es ist, wie Sebastian gesagt hat, inzwischen eine große Selbstverständlichkeit geworden, auch mit der Terrasse vom – na, wie heißt das noch?

Schulz: Kesselhaus.

Christl: Da kann man ja wunderschön sitzen. Und die ganzen kleinen Geschäfte! Das hat sich einfach super entwickelt. Es war eine tolle Idee und die Umsetzung ist, glaube ich, sehr gut gelungen.

Gaiser: Wenn ich an die Anfangszeit denke, also Ende 2003 bzw. Anfang 2004, fällt mir tatsächlich sofort ein Gefühl von großer Unsicherheit ein. Die Entscheidungen darüber, was da passieren sollte, waren, glaube ich, schon getroffen. Die Gründung der Gesellschaften stand bevor und ich weiß, dass es eine große Unsicherheit diesbezüglich gab. Das Karl-Witte-Haus stand noch, aber es war klar: Irgendwie auch nicht mehr ewig. Beim Carl-Koops-Haus war auch die Frage: Was passiert damit eigentlich? Es gab schon Auszugsprojekte, die damals größtenteils von HamburgStadt umgesetzt wurden. Die Gesellschaften gab es noch nicht. Wie gesagt, es gab eine große Unsicherheit bei den Beschäftigten in der Werkstatt, mit denen ich zu tun hatte und die nicht genau wussten: Wo werde ich hinterher genau wohnen? Wo geht’s denn hin? Darf ich da auch mitreden? Wie wird es da sein? Aber dasselbe galt auch für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

Ich kann mich an Betriebsversammlungen erinnern, zu der die ganze ESA in den Herntrichsaal zusammengerufen wurde und dann über die Einführung des KTDs berichtete wurde, und daran, dass es schon auch Stimmen aus der Mitarbeiterschaft gab, die sagten: Mensch, wir haben beim Bündnis für Arbeit und Beschäftigung unseren Teil beigetragen. Und jetzt kommt ein Tarifvertrag, den viele als schlechter empfinden!

Ich habe keine harmonische Erinnerung an diese Zeit, sondern eher an sehr viel Unsicherheit und Aufruhr. Das, was daraus geworden ist, ist auf jeden Fall positiv und hat sich ziemlich gut entwickelt Aber wenn ich so an die Zeit von 2003 bis 2005 denke, habe ich eher eine Erinnerung an Umbruch, Veränderung und oft damit einhergehender Unsicherheit.

Schulz: Es gab offensichtlich noch Nachwirkungen der damaligen 90er-Jahre, was die Sanierungssituation und dann auch das Thema Binnenmodernisierung anging. In dem Zusammenhang gab es bei der Frage der Investition in die Stiftung, also auch zum Alsterdorfer Markt Ende der 1990-Jahre schon neue Weichenstellungen zu den Bereichen Arbeit, Werkstätten und Tagesförderstätten, die bis dahin getrennt unterwegs waren.

Die konzeptionelle Entwicklung ging dann ab dem Jahr 2000 mit alsterarbeit weiter als dem Teilbereich der Stiftung, der sich um das Thema Arbeit unter neuen Perspektiven und neuen Ausrichtungsfragen kümmern sollte. Die 2000er und 2010er Jahre waren geprägt von dem Thema Teilhabe in der Gesellschaft, Inklusion, Sozialraum und Quartier, wenn es um die Eingliederungshilfe ging.

Wenn Sie jetzt mal zurückschauen auf diesen für Sie überschaubaren Zeitraum in Richtung alsterarbeit: Welche Rolle hat aus Ihrer Perspektive alsterarbeit damals eingenommen, mit Blick auf diese Themenstellungen der Eingliederungshilfe? Wie fanden Sie die Entwicklungen, die wir [in alsterarbeit] durchlaufen haben?

Christl: Die Ambulantisierung der Wohngruppen war ein erster Aufschlag. Der Anstoß war so kräftig, dass sich auf dem Stiftungsgelände extrem etwas veränderte, denn es sind ganz viele Menschen weggezogen. In diesem Sog versuchte man auch, Arbeit in die Stadtteile zu bringen. Ich erinnere mich noch sehr gut an das Thema der integrierten Betriebsstätten und daran, was darüber gesagt wurde: Von jetzt an gibt’s keine spezielle Betriebstätte für psychisch erkrankte Menschen, für Menschen mit geistiger Behinderung und auch für die Tafö [Tagesförderung] Es gab sehr intensive und kontroverse Diskussionen drüber, ob das möglich und schlau wäre. Andere Werkstätten lehnten das eher ab. Sie sagten: Es ist schwierig, Menschen mit psychischer Erkrankung und geistiger Behinderung zusammenzubringen. Wir sind in der Folge auch mit den vielen Betriebsstätten weg vom Stiftungsgelände und haben uns über ganz Hamburg ausgebreitet. Ich denke, das war natürlich ein Riesenschritt hin zur Sozialraumorientierung, ein Anfang war gemacht, der wie ich glaube, viel für die Zukunft bewirkt hat.

Gaiser: Ich würde auch sagen, es gab natürlich für diese Entwicklung ein paar Treiber, sonst hätte das nicht funktioniert, aber grundsätzlich ist der Werkstattbereich generell eher veränderungsresistent, geht nicht vorneweg, wenn es um Veränderung geht.

Das hängt auch damit zusammen, dass die Werkstätten eine lange Historie haben, dass es Pfründe gibt, die es zu verteidigen gilt. Ich glaube, dass das auf alsterarbeit schon zutraf und dass es eine Zeit brauchte, bis so manche Veränderungen Fuß gefasst haben. In der Zeit, in der ich begonnen habe, hatte ich auf jeden Fall stark das Gefühl, dass alsterarbeit durch die übrigen Veränderungen in der Werkstatt gepuscht wurde und dass es durchaus auch Widerstände gab. Ich sag mal so – das darf ich sagen, denn damals war ich auch Sozialpädagoge im Fachdienst: Auch der Kreis, von dem man denken würde, dass er aufgrund einer innerlichen Sichtweise diese Veränderungen besonders mit vorantreiben würde, tat sich sehr schwer bei dem Gedanken an eine integrierte Betriebsstätte. Es gab auch die Frage: Was verlieren Menschen mit Behinderung, wenn sie aus einem Schutzraum rausgehen? Das ist nicht nur Gewinn, der dann entsteht, sondern das kann auch Verlust sein, denn man kann sich nicht mehr so frei bewegen. Das Stiftungsgelände gab schon auch einen gewissen Schutzraum für manche Menschen. Da kann ich mich an viele kontroverse Diskussion erinnern. Es gab viele Widerstände, die die Verantwortlichen von alsterarbeit damals überwinden mussten, um ein paar Schritte zu gehen.

Christl: Es gab schon Widerstände!

Schulz: Gab es Parallelen zum Wohnbereich, der einige Jahre vorher, Mitte der 90er-Jahre intensiv damit begann, Wohnangebote in die Stadt zu verlegen? Sehen Sie da Parallelen? Sind das Entwicklungen, die im Arbeitsbereich fünf oder sieben Jahre später passierten?

Weyhing: Ich würde sagen „Ja“, denn als ich Ende der 2000er-Jahre in Hamburg ankam und bei alsterarbeit einstieg, war die Firma kurz vor dem Ende eines sehr großen Expansionsprozesses. Meiner Wahrnehmung nach war der gar nicht mal willentlich ausgelöst, sondern dadurch, dass die Ambulantisierung im Wohnheim oder in den Wohnbereichen vorher stattgefunden hatte. Man hatte zwei Möglichkeiten: Entweder eine Riesenlogistik, um alle Menschen aus ganz Hamburg an einen zentralen Ort zu bringen oder die Arbeit zu den neuen Wohnbereichen oder Regionen der Klienten zu bringen. Und das hat, glaube ich, alsterarbeit, ob sie es wollten oder nicht, extrem gepuscht. Daraufhin sind viele kleine Betriebsteile entstanden.

Gleichzeitig kam in dieser Zeit auch ein neues Verständnis auf für die Umwandlung des Begriffes Integration hin zu Inklusion. Ich hatte den Eindruck, dass man ein neues Verständnis von Arbeit hatte, und eben nicht mehr das Verständnis: Sie kriegen nur gute Arbeit, wenn sie zu uns in die eigenen Gebäude kommen. Man gründete Werkstattabteilungen, die offener waren, Fahrradläden z.B. Aber man fing auch an, aus diesen ersten Erfahrungen, von denen du vorhin erzählt hast, das Thema „Ambulantisierte Werkstatt“ zu professionalisieren. Das war noch mal der Treiber dafür, zu sagen: Wenn wir das im Ganzen nicht hinbekommen, weil Traditionen und auch Widerstände da sind, dann gründen wir speziell kleine Abteilungen, die noch viel agiler sind, mit dem ganz klaren Auftrag – ich erinnere mich noch, als ich das las Innovationsmotor war so ein Wort – ich glaube, den hatten Sie mal irgendwie genannt, als ich den Integrationsservice Arbeit übernahm – mit dem Wording: Versucht mal, Werkstattarbeit anders zu gestalten! Das ging natürlich nicht in so einem großen Betrieb, dagegen war es total innovativ zu sagen: Da ist eine kleine Abteilung, die probiert sich mal aus, ohne dass gleich Parallelstrukturen entstehen, aber es ist ein erweitertes Angebot.

Schulz: Wenn Sie diesen Prozess Integrationsservice Arbeit noch mal anschauen,

wie erfolgreich konnte das im Korsett der Werkstatt umgesetzt werden?

Weyhing: Wir probierten es zuerst im Korsett der Werkstatt und stellten dann fest: Da stoßen wir schnell an die Grenzen. Das geht schon damit los, wie es im Gesetz beschrieben ist: Es gibt das Fachpersonal, es wird von Gruppenleitern gesprochen aber auch von Sozialpädagogen und vom Sozialdienst. Wir versuchten immer, in dieser Logik weiterzuarbeiten. Dann standen wir plötzlich vor fremden Firmen, aber die verstanden gar nicht, was da jetzt für ein Fachdienst kam Was ist das für ein Fach? Was ist das für ein Dienst? Habe ich hier nicht bestellt! Da war es ganz wichtig, neue Funktionen zu beschreiben und sich ein bisschen auszuprobieren. Als wir das hinbekommen hatten und das plötzlich Job-Coach hieß, konnten die Firmen, die Klienten etwas damit anfangen und die Mitarbeitenden haben sich damit identifiziert. Es ist ein ganz neues Berufsfeld innerhalb der Werkstattarbeit entstanden. Die Tatsache, auch noch mal andere oder erweiterte Möglichkeiten anzubieten, hat letztendlich zum Erfolg geführt

Christl: Man muss dazu sagen – da geht mir viel durch den Kopf: Den Wohnbereichen ging durch die Ambulantisierung viel Geld verloren. Das wurde von der Stadt bzw. von der Politik bezweckt , es ging nicht nur um Stadtteil- oder Sozialraumorientierung. Dahinter steckte auch: Wir wollen Geld einsparen! Man hatte zwischenzeitlich das Gefühl, dass die [Wohnbereiche] dadurch natürlich auch extrem viel Personal verloren hatten, dass einspart werden musste. Ich glaube, das hat es dort lange Zeit sehr schwierig gemacht. In den Werkstattbereichen haben wir kein Geld verloren. Wir konnten das, was wir sonst auch eingenommen hatten, soweit behalten, ob wir es für die Werkstattplätze brauchten oder für ausgelagerte Arbeitsplätze. So ist es uns immer gut gelungen, ausreichend Personal vorzuhalten, was extrem wichtig war und sonst nicht funktionieren konnte. Man merkt das jetzt immer noch, wie viel Personal gesucht wird für die Wohnbereiche. Da gibt es tagtäglich Stellenanzeigen. Es ist in diesem Bereich sehr schwierig geworden. Wenn wir ehrlich sind, haben wir es da schon etwas leichter.

Gaiser: Zu der Ausgangsfrage, die Sie vorhin gestellt hatten: Was gab es für Parallelen zwischen dem Thema Arbeit und dem Thema Wohnen? Ich würde aus meiner Sicht sagen, dass die größte Parallele ist, dass man einmal im Innen etwas verändern muss, also was Haltung angeht, was Bereitschaft zur Veränderung zu neuen Wegen angeht, aber dann gibt es auch noch ein Außen und das wird immer so gemeinhin als die Gesellschaft oder Sozialraum bezeichnet. Das ist, glaube ich etwas, was sowohl das Thema Wohnen als auch das Thema Arbeit hat. Ich sag mal: Man traf auf die Welt. Und die Welt [außen]war lange Zeit damit zufrieden, zu sagen: Diese andere Welt, die der Stiftung, spielt sich eben innerhalb der Mauern ab.

Als dann klar war: Jetzt würfeln wir diese Welten zusammen, trafen diese verschiedenen Menschen aufeinander. Da gab es schon Widerstände in der Gesellschaft, wo einfach klar wurde, wie schwierig das alles war. Es kamen Sätze wie Wir finden das toll, wenn Menschen selbstbestimmt wohnen, aber das muss jetzt nicht gerade in meiner Nachbarschaft sein! oder Ich find ‘s toll, wenn Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt finden, aber in meinem Betrieb kann ich mir das jetzt gar nicht vorstellen, weil….Das war etwas, was vergleichbar war [zwischen den beiden Bereichen Wohnen und Arbeit]: Es gab eine Veränderung innen und viel Überzeugungskraft im Innen, aber es ging nie ohne Überzeugungskraft im Außen und in der Gesellschaft, um dann eben auch Bereitschaft herzustellen, Möglichkeiten zur Zusammenarbeit zu schaffen.

Schulz: Stichwort Gesellschaft. Das Wohnen in der Stadt läuft inzwischen völlig normalisiert und von allen gesellschaftlichen Teilen akzeptiert ab. Es findet dezentral in der Stadt statt. Wenn man jetzt versucht, die Parallele zur Arbeitswelt herzustellen, wie schätzen Sie die Möglichkeit ein – Stichwort Integrationsservice Arbeit –, wirklich in Betrieben anzudocken? Wie ist Ihre Einschätzung diesbezüglich im Vergleich zu der inzwischen völlig normalen Situation, dass man in der Stadt wohnt.

Weyhing: Genauso. Da gibt es mittlerweile auch dieses Selbstverständnis. Wir haben natürlich Glück in Hamburg, dass wir eine sehr gute Infrastruktur haben. Egal in welchem Stadtteil ich wohne, es gibt Arbeitsplätze dort, wenn auch nicht in allen Branchen. Wenn man jetzt in der Luftfahrt arbeiten will, dann muss man natürlich zu Airbus rausfahren. Aber es gibt in jedem Stadtteil Restaurants oder Geschäfte, wo man arbeiten kann. Und was zunehmend hilft ist der Wunsch der Klient*in, im Rahmen der Sozialraumorientierung zu arbeiten. Da kommt die Frage: Wie lange möchtest du maximal zur Arbeit fahren? Es gibt Leute, die sagen: Maximal fünf Minuten oder es gibt Leute, die sagen: Mindestens drei Stadtteile weiter, damit mich hier keiner sieht! All diese Wünsche können wir in Hamburg bedienen. Ich glaube das ist deutschlandweit nicht immer so möglich, aber in Hamburg haben wir großes Glück und das ist zu einem neuen Selbstverständnis geworden.

Wir hatten auch in den letzten Jahren immer Glück was den Arbeitsmarkt anging angesichts der Hürden, die in den Köpfen waren. Das waren meistens Gedanken wie: Ich habe Angst, etwas falsch zu machen! Da kommt ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeitende zukünftig mit einer wie auch immer gearteten Behinderung und fragt: Kann ich da was falsch machen? Das war die erste Frage, die wir immer hörten. Mittlerweile ist das selbstverständlich geworden, weil der Arbeitsmarkt zwischendurch sehr leergefegt war. Die waren froh um jeden, der da kam, selbst Menschen mit Handicap. Da wurde das Potential entdeckt und dann wurde das Setting so gestaltet, dass die Arbeit einfach gut lief. Deswegen ging das relativ schnell, so dass das es kein Thema mehr war, egal wo zu arbeiten. Das gehört dann eben zum Stadtteilbild dazu.

Gaiser: Ich bin da ein bisschen nüchterner, sag ich mal, oder nicht ganz so euphorisch wie du vielleicht. Ich finde die Gesellschaft, oder der Teil von ihr, wo Geld fließt, ist nach meiner Einschätzung immer kapitalistisch und marktwirtschaftlich orientiert, im Idealfall vielleicht sozialmarkwirtschaftlich, aber es geht schon immer um Kosten-Nutzen und um den wirtschaftlichen Ertrag. Im Wohnen, glaube ich, ist es anders, weil es dort so ist: Ein Mieter, der regelmäßig seine Miete zahlt, der verlässlich ist und der sich angemessen an die Hausregeln hält, vielleicht auch mit entsprechender Assistenz, der kann an vielen Orten normal wohnen wie Menschen ohne Behinderung. Ich glaube, da ist der Bereich [Wohnen] deutlich weiter. Beim Bereich Arbeit, finde ich, kommt die Frage dazu: Wie ist es mit Leistungsfähigkeit? Und wenn dort eine geringere Leistungsfähigkeit ist, wie krieg ich das kompensiert? Ich glaube, es ist deutlich einfacher für einen Menschen mit Behinderung, einen „normalen“ Mietvertrag zu kriegen als einen „normalen“ Arbeitsvertrag. Das wäre das, wo ich sagen würde, da gibt’s noch einen Unterschied, weil eben beim Thema Arbeit diese Kosten-Nutzen-Rechnung bei Arbeitgebern eine viel größere Rolle spielt, also die Frage: Was krieg ich an Leistung für das Geld, das ich bezahle? Da fehlt es eben auch an Kompensation, was beim Budget für Arbeit ein bisschen über Minderleistung gelaufen ist. Aber grundsätzlich fehlt da noch was.

Bödewadt: Aber woher kommt diese Vorstellung, dass Menschen mit Behinderung nicht so viel leisten wie Normale, Das ist etwas, was nicht immer stimmt, weil Menschen, die mit einer Behinderung leben, durchaus etwas leisten können. Bei mir ist es z.B. so: Wenn ich arbeiten gehe, dann versuche, ich alles zu geben und ich glaube nicht, dass meine Arbeit schlechter ist als die eines Menschen ohne Behinderung.

Christl: Leider das hat eine lange Tradition. Es geht nicht nur um Menschen, die aus der Werkstatt kommen, sondern es geht darum, dass überhaupt jede Firma aufgefordert ist, Menschen mit Behinderung einzustellen. Da gibt es sogar Quoten, die gesetzlich vorgeschrieben sind, und wenn man die nicht erreicht, müssen Strafzahlungen durch die Firmen geleistet werden. Die sind aber leider so gering, dass viele Betriebe lieber diesen Weg gehen, anstatt Menschen mit Behinderung einzustellen.

Dann schwebt immer die Angst mit, wenn ich einen Schwerbehinderten einstelle, kriege ich ihn mein Leben lang nicht mehr los, d.h. wenn die Minderleistung zu groß wird, kann ich ihn nicht kündigen. Da gibt es ganz viele Ängste und viel Unwissenheit bei den Arbeitgebern.

Bödewadt: Aber würden die nicht ein besseres Geschäft machen, wenn sie nicht so denken würden, also wenn sie nicht denken: ich bezahle lieber, damit ich dann keinen einstellen muss? Vielleicht machen sie eine bessere Rechnung, wenn sie die Leute einstellen und die Arbeitskraft nutzen.

Christl: Auf alle Fälle! Klar!

Bödewadt: Dass man den Arbeitgebern das mehr bewusst macht.

Christl: Volkswirtschaftlich würde sich das auf alle Fälle sicher rechnen, denn es werden z.B. Rentenversicherungsbeiträge eingezahlt, wenn jemand arbeitet. Es gab schon früher viele Studien zu diesen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die von der Agentur gefördert worden sind, mit dem Ergebnis, dass sie sich langfristig rechnen würden. Aber die Maßnahmen waren nur auf zwei Jahre angelegt und wenn dann keine Übernahme stattfand, waren die Teilnehmer wieder raus. Menschen in Arbeitslosigkeit kosten viel mehr Geld, als wenn sie arbeiten.

Bödewadt: Sehen Sie das nicht auch so, dass Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Behinderung mehr Rechte haben sollten als Menschen ohne Behinderung? Man sagt immer: Sie haben nicht so viele Rechte, weil sie behindert sind, aber ich finde, das Gegenteil sollte der Fall sein, weil Menschen, die ein Handicap haben und trotzdem arbeiten gehen, wesentlich mehr leisten als ein gesunder Mensch. Der gesunde Mensch macht die Arbeit mit links, aber der Mensch mit Behinderung muss dafür richtig klotzen. Ich finde, das sollte sich wirklich ändern! Das wäre, glaube ich für die Gesellschaft sehr wertvoll. Sehen Sie das nicht auch so?

Gaiser: Der Anspruch ist doch, dass Menschen nicht aufgrund Ihrer Behinderung benachteiligt werden sollen. Das ist der Gesetzesrahmen. Ich glaube, es gibt ganz wenige „Vorteile“, also Schwerbehindertenurlaub z.B., die gesetzlich geregelt sind. Ich würde sagen, ich müsste darüber nachdenken, man müsste drüber diskutieren, bevor ich dem Satz zustimmen kann, den Sie gesagt haben Müsste es nicht noch mehr Rechte geben oder sonst was? Ich wäre wahrscheinlich schon mal ein stückweit glücklicher, wenn es in der Tat keine Benachteiligung geben würde.

Was ich noch sagen wollte, ist: Ich finde, Menschen mit Behinderung sind damit in relativ schlechter Gesellschaft, also guter schlechter Gesellschaft mit Alleinerziehenden, mit jungen Frauen, die möglicherweise auch Schwierigkeiten haben, Zugang zum Arbeitsmarkt zu kriegen, weil Arbeitgeber denken Och, die wird bestimmt irgendwann Mutter, und mit Menschen, die mit 58 Jahren ihren Job verlieren und sagen: aber ich würde gerne noch sieben Jahre arbeiten! Ich glaube, es gibt eine deutlich größere Gruppe, die im derzeitigen Arbeitsmarkt, wie wir ihn haben, große Schwierigkeiten haben, in gut bezahlte sichere, nicht krankmachende Arbeitsverhältnisse zu kommen.

Aber dass Menschen mit Behinderung natürlich ein großer Teil dieser Gruppe sind, ist klar, und dass das nicht okay ist, ist auch ganz klar. Das meinte ich, als ich am Anfang etwas nüchtern gesagt habe: Der Arbeitsmarkt funktioniert aus meiner Sicht eben doch kapitalistisch. Es wird sehr danach geguckt: Verdiene ich Geld? Und auf Menschen mit Behinderung wird mit einem ähnlichen Auge geguckt wie auf ältere Menschen, auf Menschen in besonderen Lebenslagen. Das ist nicht fair! Das wünschen wir uns, glaube ich, alle, dass das anders wird. Aber das ist aus meiner Sicht noch die Arbeitssituation und macht aus meiner Sicht eben einen kleinen Unterschied zur Wohnsituation.

Schulz: Wenn es darum geht, gute Arbeit zu kriegen, geht es auch darum, gut qualifiziert zu sein. Nicht zufällig haben wir ein Regelsystem, in dem es zur Eingliederungshilfe heißt: Es gibt Eingliederungshilfeleistung für das Thema „Arbeit und Beschäftigung“. Dies ist der Kontext, in dem wir uns bewegen. Insofern wäre meine Frage an Herr Christl: Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht das Thema „Berufliche Bildung“, die im Kern keine Eingliederungshilfeleistung ist, auch nicht in unseren Maßnahmen, sondern eine sogenannte SGB 3-Leistung, also eine Leistung im Rahmen der Arbeitsförderung?

Christl: Diese Maßnahme ist natürlich wichtig, weil das für jeden überhaupt der Einstieg ist, um in die Werkstatt reinzukommen. Das ist eine Maßnahme, die über der Agentur für Arbeit oder über die Rentenversicherungsträger bezahlt wird. Da gibt es natürlich einen klaren Auftrag, die Bildung steht absolut im Vordergrund und eben nicht nur die Arbeit. Das war auch der Grund, warum sich 2010 die Agentur für Arbeit so deutlich positionierte: Wie der BBB, der Berufsbildungsbereich bisher gelaufen ist, möchten wir das nicht mehr! Denn der war zu sehr mit dem Arbeitsbereich verschmolzen und es war kein großer Unterschied mehr zu erkennen. So folgte eine Handlungsanweisung, den ganzen BBB neu zu gestalten und aufzustellen, mehr von der Werkstatt abzutrennen und eben wirklich die Bildungsinhalte in den Vordergrund zu stellen. Das versuchen wir jetzt umzusetzen z.B. mit unseren Qualifizierungsmodulen, die wir bereitstellen, unserem großen Fortbildungskatalog und mit sehr enger Begleitung durch unsere Bildungsbegleiter. Wir arbeiten jetzt mit einer Eins-zu-dreißig anstatt einer Eins-zu-hundertzwanzig-Betreuung, wie es im Arbeitsbereich der Fall ist.

Da ist schon viel passiert! Trotz alledem gibt es natürlich immer noch viel Luft nach oben. Wir sind seit Jahren dabei, uns Gedanken zu machen und neue Ideen zu kreieren, wie man den Teilnehmern, den Menschen noch mehr anbieten kann, damit sie sich besser entwickeln können. Es geht auch darum, z.B. Zertifikate zu bekommen, die von der Handelskammer oder Handwerkskammer anerkannt sind. Aber auch da stößt man oft auf Widerstände. Diese brechen wir langsam. Aber man merkt, dass man an vielen Stellen, genau, wie Sie vorher schon gesagt haben, immer irgendwo anstößt, wo erst mal die Bereitschaft für Veränderung nicht sehr groß ist und wo man viel Überzeugungsarbeit leisten muss, um den Leuten klar zu machen, um was es da geht und warum wir das machen. Wir versuchen jetzt, uns bestimmte Bildungsbausteine zertifizieren zu lassen – viele Menschen bei uns können keine vollständige Ausbildung machen – , so sollte man trotzdem versuchen, dass Teile der Ausbildung zertifiziert werden und man damit zum Arbeitgeber gehen und sagen kann: okay, ich bin jetzt kein ausgebildeter Automechaniker, aber ganz viele Dinge kann ich schon! Auf diese Weise wird es vielleicht leichter für die Menschen, auf ordentliche Arbeitsplätze zu kommen und nicht in der Werkstatt zu bleiben.

Weyhing: Ich würde das gerne ergänzen. Ich glaube nämlich auch, dass Bildung das A und O ist für einen erfolgreichen Übergang in den Arbeitsmarkt ist, genauso das Thema Ungerechtigkeit, was wir vorhin schon hatten. Die Ungerechtigkeit fängt ja schon in der Schule an, dann bei der Ausbildung. Also auch in diesem Punkt haben Menschen mit einem Handicap deutliche Nachteile, erst mal einen Schulabschluss zu erreichen, und dann darin, damit, dass z.B. der Schulweg an diese Menschen angepasst so wird, dass sie genug Zeit bekommen. Manchmal geht es einfach nur um noch mehr Zeit, um die Inhalte zu erlernen und einen gleichwertigen Abschluss zu erreichen. Da sind wir bei dem Thema Ausbildung, ein ähnliches Thema wie vorher. Wir brauchen neue Systeme, um Menschen mit Behinderung frühzeitiger zu unterstützen. Ich glaube viele Menschen, die jetzt ihre Arbeit in der Werkstatt haben, können an der Werkstatt vorbei frühzeitig in den Arbeitsmarkt integriert werden. Natürlich sind wir in der Werkstatt auch gerade mit den Kollegen aus dem Berufsbildungsbereich aber auch darüber hinaus mit denen aus dem Arbeitsbereich – also lebenslanges Lernen ist so ein Thema – bemüht, ganz individuell zu gucken, wer braucht wann welche Möglichkeit, um etwas zu lernen, um sich dann auch später weiter zu qualifizieren, um Übergänge zu schaffen. Aber ich glaube, dass es auch früher geht, wenn man es wollen würde. Und da beginnt die Ungerechtigkeit schon mit der Frage, die Sie vorher benannt haben.

Schulz: alsterarbeit versucht seit 2000, vor allem auch die Menschen mit Schwerst-Mehrfach-Behinderung an den Bereich Arbeit heranzuführen, also für diese Menschen Teilhabe am Arbeitsleben, also arbeitsweltliche Kontexte zu organisieren. Wie gut ist alsterarbeit in den letzten 15 Jahren aus Ihrer Sicht die Umsetzung gelungen oder auch nicht gelungen?

Weyhing (mit Blick zu den Kollegen): Ich glaube, da ist noch ganz viel Luft nach oben! (Die Kollegen nicken zustimmend).

Es finden einzelne Bemühungen statt und es gibt immer vereinzelte Erfolge, aber in der Breite ist es noch nicht gut gelungen. Je komplexer das Behinderungsbild, je schwieriger wird es, weil die Schwellen dann deutlich höher sind. In so einem Fall die Begleitung zu organisieren, ist manchmal auch eine Kostenfrage. Ich glaube mit mehr Ressourcen für begleitendes Personal z.B. wäre mehr möglich. Da sind wir wieder beim kapitalistischen Arbeitsmarkt. Arbeitgeber schauen genau hin und manchmal entspringen die Chancen, die Menschen bekommen, dem Gedanken, dass ein Unternehmen sich sozial engagieren und seine soziale Verantwortung wahrnehmen möchte und nicht dem Gedanken, dass das jetzt genau die Arbeitskraft ist, die diesen Job am besten erledigt. Da ist noch sehr viel Luft nach oben!

Christl: Und für diese Menschen ist die Benachteiligung am größten, weil es ihnen besonders schwerfällt, sich einen Arbeitsplatz selbst zu suchen und z.B. auch zu sagen, ich möchte hier in Eppendorf arbeiten, weil ich auch hier wohne! Die Arbeitsangebote sind meistens sehr rar. Das macht es so schwierig.

Schulz: Was sind, Ihrer Einschätzung nach, die Herausforderungen der nächsten 10 Jahre für alsterarbeit in Bezug auf die Themenstellungen, die wir gerade diskutiert und reflektiert haben?

Weyhing: Also der Bereich Werkstatt befindet sich gerade aus verschiedenen Gründen sehr stark Wandel, und zwar seit der Umstellung des SGB 9 zum Bundesteilhabegesetz. Das ist bis jetzt nur ein „Reförmchen“, aber da wird noch mehr kommen, auch von politischer Seite, da bin ich ziemlich sicher. Teilhabe und Inklusion werden deutlich mehr in den Fokus gerückt werden. Die Bereiche individuelle bzw. sozialraumorientierte Angebote müssen aufpassen, dass sie nicht zweigleisig fahren, d.h. dass die ambulantisierte Arbeit, die in etwa dem entspricht, wo die Politik hinwill, sich zu weit entfernt von den klassischen Angeboten. Aber auch die klassischen Angebote müssen sich verändern. Wenn ich auf ganz Deutschland gucke, gibt es viele Werkstätten, die hierzu nicht bereit sind. Aber ich merke gerade bei alsterarbeit, dass das wahrgenommen wird und dass jetzt auch gerade ein Generationswechsel von Mitarbeitenden da ist. Die Leute kommen frisch aus der Ausbildung und aus dem Studium, bringen ganz andere Ideen und Inhalte mit als die von vor zwanzig oder dreißig Jahren und fordern diese auch ganz anders ein. Alleine das Thema Digitalisierung, das vor zwanzig Jahren überhaupt noch kein Thema war, wird uns jetzt nach vorne reißen.

Christl: Vor drei Jahren war das leider immer noch kein Thema.

Weyhing: Vor drei Jahren auch noch nicht. Da hätte es Thema sein können. Daran merken wir – das hat komischerweise die Pandemie auch sehr vorangetrieben –, dass es in Zukunft gar nicht mehr anders gehen wird. Das hat ja auch Vorteile. Wir versklaven uns ja nicht selbst, um einem System zu dienen, sondern wir nutzen ein digitales System, um Unterstützungsangebote zu machen. Die Arbeit ist so komplex geworden, dass wir das nur über solche Systeme lösen können. Diesbezüglich werden wir in den folgenden zehn Jahren deutliche Veränderungen spüren. Da wird es hingehen müssen!

Gaiser: Also ich fühle mich wie Jemand, der das schon aus der Distanz sieht. Wenn man sich Sachen aus der Distanz anguckt, wird man unter Umständen progressiver und mutiger. Ich würde tatsächlich sagen, Werkstattarbeit generell und auch alsterarbeit müssen sich vom „Dualen Auftrag“ lösen. Der Bereich Werkstatt der Zukunft muss die Produktion aus dem Kernprozess der Werkstatt rausnehmen und sich eher als einen Begleit- bzw. Unterstützungsprozess sehen und einen klaren Fokus auf berufliche Reha und Teilhabe am Arbeitsleben legen, vor allem auf berufliche Reha. Ich glaube, dass Werkstatt noch zu viel in der Struktur und den Angeboten kompensiert und den Ersten Arbeitsmarkt zu sehr entlastet und Probleme löst, die der Arbeitsmarkt und die Politik sonst anderweitig lösen müssten und sollten. Von daher würde ich sagen, wenn ich mir etwas wünschen dürfte: Leute, die Herausforderung ist die: trennt euch vom Kernprozess, von der Produktion!

Schulz: Herr Christl, haben Sie dazu auch eine Haltung?

Christl: Das ist sehr progressiv. Ich bin gespannt, ob wir das schaffen in den nächsten 10 Jahren! Aber natürlich muss man sich die Ziele auch setzen. Ich denke gerade noch einmal auf operativer Ebene. Gerade der Berufsbildungsbereich muss laut Gesetz eine Vollzeitmaßnahme sein. Wir erleben es immer mehr, dass Menschen zu uns kommen, die lange nicht in Arbeit waren, gerade im Bereich der psychischen Erkrankungen, die, gerade am Anfang nicht fähig sind, Vollzeit zu arbeiten, der Kostenträger das aber verlangt, und wir deshalb seit Jahren im Streit mit den Kostenträgern sind. Durch den Corona-Lockdown war es plötzlich möglich, dass die Menschen sich auch zu Hause bilden können und teilweise auch arbeiten, weil sie nicht in die Werkstatt durften. Wir haben das jetzt teilweise schon ausprobiert und werden weiter bei den Kostenträgern die Möglichkeiten abzuklopfen in der Frage: Warum können nicht Menschen mit Behinderung auch zwei Tage in der Woche im Homeoffice sein, wie wir das selbstverständlich in unserer Arbeitswelt praktizieren? Bisher war es undenkbar, dass die Teilnehmer einer Maßnahme nicht um 8.00 Uhr da sind. Das geht nicht und man muss in Listen den Tag ankreuzen, an dem sie krank oder nicht da sind, dann muss man das noch dem Kostenträger melden. Von diesen nicht zeitgemäßen Zwängen müssen wir uns alle verabschieden. Das sind so kleinere Dinge, die uns gerade beschäftigen und die wir vorantreiben. Das ist nicht Think Big, aber auch Schritte, die wichtig sind und die vielen Menschen helfen würden, die sich sonst sehr quälen.

Gaiser: Vielleicht noch ein Satz zu der Frage: Wie ist der Blick auf alsterarbeit? alsterarbeit als Teil von der Stiftung Alsterdorf, in einer, das muss man sagen, schon auch starren Werkstattstruktur, war immer ein Bereich, der diese Grenzen ausgelotet und versucht hat, auszureizen und auch zu verändern, insbesondere in Bezug auf das Arbeitszeitthema. Ich kann mich an Gespräche erinnern – das ist noch nicht so lange her – , in denen Werkstattträger gesagt haben: Wie Teilzeit? Um 8.00 Uhr geht es los und 16.30 Uhr kommen die Busse und holen alle wieder ab. Etwas anderes geht nicht!

Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, aber in meinen letzten Phasen bei alsterarbeit haben über 50 Prozent der Menschen in individuellen Arbeitszeiten gearbeitet, viele halbtags, aber auch teilweise von 10.00 Uhr bis 14.00 Uhr, weil das einfach die Zeit war, in der jemand sich leistungsfähig fühlte oder weil das einfach auch mit seinem privaten Leben passte. Von daher glaube ich, dass alsterarbeit als Werkstattträger schon immer sehr innovativ war. Werkstatt an sich hat noch Veränderungsbedarf.

Christl: Es geht, glaube ich auch gar nicht um die Rechte, die Sie vorher eingefordert haben, sondern, genau wie Tobias gesagt hat, um die Benachteiligung. Warum verlangen wir von Menschen mit Behinderung, dass sie, wie Tobias sagt, von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr arbeiten müssen? Es gibt eine Alternative. Menschen sitzen inzwischen am Strand mit ihrem Laptop und arbeiten dort. Das geht auch! In einer normalen Firma hat kein Mensch etwas dagegen, solange die Arbeit gemacht wird. Das sind Dinge, die wir öffnen müssen und da kommt dann eher eine Gleichbehandlung heraus.

Schulz: Wir sind jetzt leider am Ende unserer Zeit angekommen. Ich würde gerne noch eine kurze Schlussfrage stellen. Das ist eine Einschätzungsfrage, die Sie, wenn möglich, kurz beantworten. Wie lange werden wir das im Rahmen der Eingliederungshilfe verfasste Werkstattrecht noch haben? Sagen Sie einfach eine Jahreszahl!

Weyhing: Ich sage 15 bis 20 Jahre.

Christl: Ich denke, es wird weniger sein. Ich sage 12 Jahre.

Gaiser: Ich sage 40 Jahre, also ganz lange, weil es eine unfassbare Lobby gibt und, bis sich das verändert, muss ganz viel passieren. Momentan sehe ich auch keine politischen Bestrebungen, dass so aufzubrechen, dass das verändert wird.

Bödewadt: Ich habe noch was im Hinterkopf von einer beschäftigten Kollegin. Im Homeoffice wurden wir aufgefordert zu sagen, welche Fragen wir haben. Da hat eine Beschäftigte gefragt: Wie ist das eigentlich, wenn ich meine Wohnung wechseln möchte, von einer kleineren zu einer etwas größeren Wohnung? Sie sagt immer, sie hätte nicht genug Wohnraum. Sie bräuchte als Einzelperson einen größeren Wohnraum. Es ist aber so, dass ein Mensch mit Behinderung als Einzelperson nur auf eine bestimmte Anzahl von Quadratmetern Anspruch hat. Sie sagt, dass das dringend geändert werden müsste und dass sie nicht einsehen würde, warum sie, nur weil sie behindert sei, nicht größer wohnen dürfe. Wie verhält sich das damit? Kann mir das Jemand von Ihnen beantworten? Ist das wirklich so schwierig, wenn man größer wohnen will?

Weyhing: Ja, genau. Das ist aber eine Gesetzgebung, die erst mal nichts mit der Werkstatt zu tun hat, deswegen ist das für uns schwierig zu beantworten. Es gibt natürlich für diesen Bereich Wohnen – das wird ja finanziert – ein Reglement. Ob diese Sinn macht oder fair und gerecht ist, kann man natürlich diskutieren.

Schulz: Das Thema Eingliederungshilfe haben wir gerade als Überschrift gehabt und alles, was wir hier besprechen, geschieht für Menschen mit Behinderung unter dieser gesetzlichen Regelung der Eingliederungshilfeleistung, die immer ein bestimmtes Mindestmaß vorsieht und daher auch relativ restriktiv ist. Das ist im Wohnen wie im Arbeiten, denke ich, ein Thema. Insofern sind wir alle aufgefordert zu schauen, dass sich das positiv verändert, sowohl die Arbeitswelt, das Wohnen, als auch das Thema Rechte im Wohnen und Arbeiten inklusiver werden.

In diesem Sinne müssen wir jetzt leider aufhören, weil die Zeit vorbei ist.

Herzlichen Dank, dass Sie da waren. Viel Freude im Beruf!

Weyhing, Christl, Gaiser: Dankeschön!