05 / 1997 – Interview mit Petra Eggert

Teilnehmende

Petra Eggert

Nico Kutzner

Reinhard Schulz

Transkription

Kutzner: Guten Tag, ich bin Nico Kutzner von 17motion. Herzlich willkommen zum Interview hier im Studio!

Eggert: Vielen Dank! Ich bin Petra Eggert. Ich arbeite in der alsterdorfer assistenz ost und bin Fachdienst für Wohnraum.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich organisierte das Projekt „Dokumentation der Eingliederungshilfe der letzten vierzig Jahre in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf“ und führe jetzt das Interview zusammen mit meinem Kollegen.

Kutzner: Wie war das damals, als Sie angefangen haben? Wie haben Sie die Anfangszeit erlebt?

Eggert: Das war eine sehr spannende Zeit, weil – man darf nicht vergessen, ich habe 1981 in der Stiftung angefangen – alles noch sehr zentral organisiert war. Das ist mir in Vorbereitung auf dieses Interview noch mal eingefallen. Im Grunde genommen war Alsterdorf wie ein in sich geschlossenes Dorf. Es gab dort alles bis auf Geld, das war klar. Aber ansonsten gab es alles: Kleiderkammer, Wäschekammer, Brotkammer, Polsterei, Tischlerei, Malerei. Es gab den Herntrichsaal, in dem alle jahreszeitlichen Feste gefeiert wurden, und es gab eine Kirche und keiner verließ das Gelände.

Das fand ich schon sehr befremdlich und die Wohnsituation der Menschen war die, dass sie dort lebten wie in einem Krankenhaus, in einem Zimmer mit vier Betten, jeder einen Nachttisch, eine Pinwand und der Kleiderschrank auf dem Flur. Ich fand das furchtbar!

Kutzner: Wie sind die Menschen mit dieser Situation umgegangen?

Eggert: Erstaunlich gut! Ich fand es schon sehr beeindruckend, dass sie das alles ausgehalten haben. Es gab natürlich viele Streitereien, das darf man nicht vergessen. Wenn vier Personen sich ein Zimmer teilen, in dem sie nicht nur vorübergehend wie im Krankenhaus sind, sondern in dem sie ihr Leben gestalten müssen, dann gibt es einfach Ärger.

Ich erzähle mal ein Beispiel: Da ist ein Bewohner, von der Beschäftigungstherapie kommt. Er legt sich auf sein Bett und döst ganz gemütlich vor sich hin. Ein anderer Bewohner kommt rein und beißt ihn einfach in den Fuß. Dass der dann sauer wird und ausrastet, kann man sich vorstellen. Es gab solche Streitereien einfach aufgrund der unerträglichen Wohnsituation.

Schulz: Du bist 1981 in die Stiftung eingestiegen, das war knapp zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Artikels im Magazin Die Zeit, „Schlangengruben der Gesellschaft“. Was war dein Motiv, als Mitarbeiterin in die Stiftung zu gehen?

Eggert: Ich war vorher als Erzieherin in einem Kindergarten. Das war mir zu langweilig, um ehrlich zu sein. Alle drei Jahre bekam man neue Kinder und dann fing alles wieder von vorne an. Behindertenhilfe bzw. Eingliederungshilfe war mir damals über die Kirchengemeinde bekannt. Dort gab es nachmittags eine kleine Gruppe, wohin Mütter mit ihren Kindern mit Behinderung oder mit Erwachsenen kamen. Dabei habe ich immer mitgemacht. Das fand ich spannend. Ich hatte in meiner Ausbildung den Schwerpunkt Sonderpädagogik gewählt und das Ganze war eher Zufall, eine Anzeige damals in der Morgenpost.

Dann habe ich mich beworben und kam da an. Ich war im männlichen Bereich – Männer und Frauen lebten getrennt und nicht zusammen, das kam gar nicht in Frage! Sie suchten Personal für die Schwerst-Mehrfach-Behindertenabteilung, für die sogenannte Liegeabteilung. Das guckte ich mir dann an und stellte fest, dass das nichts für mich war. Dorthin würde ich nicht gehen. Da fiel ihnen ein, dass sie in den anderen Etagen im Karl-Witte-Haus noch Jemanden brauchen könnten und so habe ich dann auf der 17 AB angefangen und fand das spannend. Allerdings muss ich sagen, nach den ersten acht Wochen dachte ich: Das machst du nicht mehr mit! Hier hörst du wieder auf! Das ist doch nicht so, wie du dir das vorgestellt hast! Es gab dieses Enge, dieses Krankenhausmäßige, es gab Oberpfleger im weißen Kittel und uns Mitarbeiter*innen wurden auch noch so orangefarbene Hosen und orangefarbene Hemden angeboten, die wir anziehen sollten. Das haben wir allerdings nicht gemacht.

Schulz: Was hat dich nach acht Wochen motiviert zu bleiben?

Eggert: Im Grunde genommen Herr Giese, der kam und hospitierte – er sollte das Carl-Koops-Haus übernehmen – und zeigte uns die Pläne.

Schulz: – Für die Zuhörer: Wer war Herr Giese? –

Eggert: Herr Giese war Heimleiter des Carl-Koops-Hauses, das noch nicht ganz fertig war, aber die Pläne waren schon da. Es bestand die Hoffnung, dass man nach dorthin umziehen konnte und das Tolle damals war – das Gebäude war eigentlich nicht schön –, dass die Möglichkeit bestand, in eine Wohngruppe mit acht Einzelzimmern zu ziehen. Das war natürlich ganz großartig: Acht Einzelzimmer plus einemVorraum mit eigenem Waschbecken und Kleiderschrank.

Schulz: Wo kamen die Menschen her, die vorher dort nicht gewohnt haben? Wo und wie haben sie gewohnt, weißt du das?

Eggert: Die im Karl-Witte-Haus waren?

Schulz: Ja.

Eggert: Die kamen meistens aus den Familien, denn die 17 AB war so eine Art neue Notaufnahme, also ein bunt gemischter Haufen. Es gab noch die 17 C hinten. Das war eine Extragruppe. Die von der 17 AB kamen in der Regel von zuhause. Die Eltern waren letztendlich froh, dass sie einen Platz bekommen hatten. Die Bewohner*innen kamen natürlich auch aus den Kinder- und Jungendbereichen. Wer zu alt wurde, musste die Wohngruppe verlassen. Es wurde sauber getrennt zwischen Männern und Frauen. Es gab keine Mischung.

Kutzner: Das wirkt so wie ein Krankenhaus. Kann man sich das so vorstellen?

Eggert: Absolut! Es war alles zentral, z. B. die Bettwäsche. Besonders schlimm, dass einmal in der Woche Jemand ein Paket Wäsche bekam. Da waren Leibwäsche, ein Paar Socken und ein Schlafanzug drin, was natürlich nicht für die ganze Woche reichte. Der Rest wurde in Körben angeliefert. Es gab z.B. einen großen Korb nur mit Unterhosen.

Kutzner: Hatten Sie den Ehrgeiz, auch etwas verändern zu wollen?

Eggert: Ja. Die Vorstellung, dass Änderungen möglich sind, wie z.B. im Carl-Koops-Haus, wo die Menschen ein eigenes Zimmer bekommen konnten, war schon auch eine große Motivation angesichts so simpler Sachen wie z.B. das Wohnzimmer, das auch aussah wie im Krankenhaus. Es gab nichts Persönliches. Da stand ein großer Fernseher, ein paar Stühle, kein gemütliches Sofa oder etwas Ähnliches. Es gab einen schönen Gemeinschaftsraum, der von einem Pfleger abends aber immer abgeschlossen wurde, damit keiner etwas kaputt machte. Es gab noch einen anderen Gemeinschaftsraum, der wirklich grenzwertig war.

Eine witzige Erfahrung, nachdem ich das System in Alsterdorf mitgekriegt hatte – man brauchte kein Geld, man hatte Bedarfsscheine, mit denen man sich überall etwas aussuchen konnte: Es gab eine Gärtnerei und ich fing an, immer dahin zu gehen, Pflanzen zu holen. Die waren spätestens nach zwei Tagen weggefegt. Wir sind dann so lange in die Gärtnerei gegangen, bis sie eines Tages auch stehenblieben. Also es ließen sich durchaus Veränderungen einführen.

Schulz: Welche Rollen spielten pädagogische Konzepte damals? Gab es irgendetwas in dieser Richtung?

Eggert: Gar keine! Wir waren die ersten Erzieherinnen, die dort anfingen. Meistens waren es männliche Kollegen. Pädagogische Konzept gab es damals nicht. Es war wirklich immer so, dass man sich fragen musste, was man unter den gegebenen Umständen machen konnte. Es gab Hilfsjungen, die den ganzen Tag in der Küche arbeiten mussten. Es gab einen großen Essraum für 27 Personen und einer musste natürlich den ganzen Abwasch machen und der hatte dann bis abends um 20.00 Uhr zu tun. Das war Ausbeutung!

Schulz: Damals gab es acht Heimbereiche, du hast es angesprochen mit Herrn Giese. Es folgte dann der Beginn der Regionalisierung. Wie hast du den erlebt? Regionalisierung, Stichworte Region Ost, West, Nord, Region Umland, Schleswig-Holstein hieß das damals.

Eggert: Das kam noch mal später. Der erste Schritt war das Carl-Koops-Haus und es war klar, dass das auch nicht so ganz gelungen war. Das Ziel waren die Außenwohngruppen, die damals gegründet worden waren. Allerdings musste man sich selber darum kümmern, wenn man eine Idee in diese Richtung hatte. Es gab niemanden, der irgendetwas raussuchte. Wir fanden dann die Fettsche Villa in Hamburg-Niendorf, die von der Lawaetz-Stiftung umgebaut worden war. Eigentlich sollte das Bezirksamt mit Büroräumen da rein, aber die sagten, dass sie nicht dort umziehen würden, da es eher ein schönes Wohnhaus wäre. Über verschiedene Kontakte konnte die Stiftung das Haus anmieten. Dann, Anfang der 1990-Jahre – es gab ja immer Umbruchzeiten, wie z.B. die Binnenmodernisierung – entstanden die drei Bereiche AlsterDorf, HamburgStadt und HamburgUmland.

Schulz: Nach der Regionalisierung, die 1993 abgebrochen wurde, gab es die Sanierungssituation, die Konversion, vor allem finanziell, und ab 1996 gab es dann die drei großen Bereiche.

Noch eine Frage zur Fettschen Villa. Habt ihr das aus der Wohnsituation Karl-Witte-Haus heraus organisiert?

Eggert: Nein, wir waren im Carl-Koops-Haus.

Schulz: Du bist dann in‘ s Carl-Koops-Haus gewechselt?

Eggert: Wir zogen dann mit acht Personen in das Carl-Koops-Haus. Ein netter Kollege, der später Sonderschullehrer geworden ist, sagte immer: Was wir da nicht machen können, das können wir draußen auch nicht machen.

Als wir in‘ s Carl-Koops-Haus zogen, gab es die Möglichkeit – und wir haben immer alle Möglichkeiten ausgenutzt, die wir hatten –, die Wäsche nicht mehr in der Wäscherei abzugeben. Wir hatten zwei Waschmaschinen, wir hatten Tümmler. Wir sind aus der sogenannten Kaltverpflegung ausgestiegen. Das hieß, dass man für das Frühstück und für das Abendbrot selber einkaufen konnte. Das war ein großer Schritt nach vorne, weil sonst das Essen zugeteilt kam. Während dieser Zeit wurde auch die Werkstatt eingerichtet. Das war ebenfalls ein großer Schritt, dass die Leute morgens normal zur Arbeit gehen konnten. Das haben wir alles selber organisiert.

Kutzner: Wie haben Sie den Umbruch erlebt und die Binnenmodernisierung?

Eggert: Wir waren alle daran beteiligt und hatten ein großes Interesse daran, dass sich am Wohnraum wirklich etwas verändern muss, weil klar war, wenn Jemand nicht nur vorübergehend irgendwo lebte, dann muss es ein Sich-Zurückziehen-Können geben, dann muss er etwas Eigenes haben. Es begann damit, dass Jemand z. B. seinen eigenen Kühlschrank haben konnte – der war dann im Zimmer – oder seine eigene Kaffeemaschine. Das waren so kleine Fortschritte, die für uns aber ganz wichtig waren wie z. B. auch, keine Besuchszeiten mehr zu haben, denn das gehörte auch zu Alsterdorf, dass am Mittwoch, am Sonnabend und am Sonntag Besuchszeit wie im Krankenhaus war. Das hatten wir schon im Koops-Haus aufgehoben.

Schließlich gab es die Möglichkeit, Anfang der 1990-Jahre in die Fettsche Villa in das Gemeinwesen zu ziehen. Damals waren Eva Bohne und Helga Treeß in Schnelsen schon ganz aktiv. Gemeinwesenarbeit bedeutete, sich zu fragen: Wie bewegt sich die Bewohner*innen im normalen Stadtteil, denn die Menschen mit Behinderung kamen nach Alsterdorf, aber nicht in den Stadtteil. Sie waren auch nicht sichtbar und andere Menschen konnten auch nicht unbedingt mit denen umgehen. Es gab schon gewissen Irritationen. Wir haben dann eine große Aktion gemacht und ließen eine große Karte produzieren lassen, die wir überall am Tibarg und in den Geschäften verteilten. Dadurch machten wir Mitarbeiter*innen uns auch bekannt, damit klar war: wir wohnen jetzt hier! Wir haben uns dann geöffnet. Der Gemeinderat ist gekommen, wir haben uns aktiv an den Stadtteilkonferenzen beteiligt. Die Polizei war nebenan, das war auch praktisch. So kamen wir im Prinzip in diesem Stadtteil an.

Schulz: Wie war die Lebenswirklichkeit für die Menschen mit Behinderung in der Fettschen Villa im Gegensatz zu dem, was vorher im Carl-Koops-Haus lief?

Eggert: Die war erheblich freier. Es gab keine Nachtwache mehr, sondern eine Nachtbereitschaft. Viele, die von zu Hause kamen, kannten das. Sie waren es gewohnt, einkaufen zu gehen. Das Problem waren eher wir Mitarbeiter*innen, weil wir Bedenken hatten, ob Jemand tatsächlich mit dem Straßenverkehr klarkommen würde. Vor der Villa war eine große, vierspurige Straße und wir sagten immer: Um Gotteswillen! Hoffentlich passen die auf, wenn die über die Straße gehen! In Alsterdorf hatten wir ja nichts dergleichen.

Schulz: In welchem Jahr wurde die Fettsche Villa bezogen?

Eggert: 1992, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.

Schulz: Also noch vor der Sanierungssituation der Stiftung?

Eggert: Ja.

Kutzner: Wie haben Sie die Sanierungssituation erlebt?

Eggert: Erst mal waren wir außerhalb des Stiftungsgeländes, aber es gab Arbeitsgruppen, die dazu führten, dass man sich daran beteiligen konnte. Das war eine positive Entwicklung.

Schulz: Dann gab es in der Sanierung in der Tat eine Neuorganisation der gesamten Wohnangebote. Wie hast du das damals aus der Situation in der Fettschen Villa heraus erlebt, die Aufteilung in Stadt, Dorf und Umland?

Eggert: Im Prinzip war es für uns so, dass wir einen neuen Vorgesetzen bekamen, und ansonsten hat uns das nicht weiter interessiert. Wir haben frei gestalten können. Ich arbeitete bereits in den einzelnen Arbeitsgruppen, aber für das Leben der Menschen an sich war das relativ unwichtig. Was wir mitkriegten, war, dass, wenn neue Mitarbeiter*innen in der Fettschen Villa anfingen, dass denen gar nicht klar war, in welchem Kontext sie arbeiten, also Stiftungsgelände und alles, was so dazugehört. Das war schon damals ein schwieriger Prozess. Die dachten immer, das wäre eine Wohngruppe, die für sich völlig unabhängig lebte.

Schulz: Also wirklich verschiedene Lebenswelten auch Mitarbeiter*innen betreffend aber auch Menschen mit Behinderung betreffend, was das Thema AlsterDorf und HamburgStadt anging.

Eggert: Also was damals noch ganz wichtig war, Raimond Jacob, Christine von Bargen und ich, wir haben damals das Qualitätshandbuch „Wohnhaus als Unternehmung“ entwickelt, denn wir stellten fest, dass, wenn man in so einer Außenwohngruppe ist, man sich um alles kümmern musste. Da konnte man nicht einfach sagen: dafür bin ich nicht zuständig! Da gab es verschiedene Elemente, was die Wohnsituation betrifft, was die Personalplanung betrifft, also wir haben eine Jahresstundenplanung, eine Dienstplanabrechnung usw. Das Qualitätshandbuch Wohnhaus als Unternehmung ist dann auch im Rahmen der Binnenmodernisierung vom Vorstand und von der Mitarbeitervertretung abgesegnet worden und wurde dann eingeführt, wir haben auch Schulungen gemacht. In diesem Rahmen bin ich fast überall gewesen, auch in HamburgStadt oder auch in HamburgUmLand. Das war noch einmal ein ganz wichtiger guter Schritt, was sich dann aber auch irgendwann natürlich auslief. Das war ja auch alles noch in Papierform, das war ja noch nicht digital. Wir saßen alle noch mit dem Taschenrechner da.

Kutzner: Wie haben die Bewohner*innen die Situation erlebt, den Umbruch?

Eggert: Für die Bewohner*innen war das großartig. Sie haben unglaublich viel Kompetenzen entwickelt, haben Dinge gemacht, von denen man vorher nicht wusste, dass sie das überhaupt können und haben alles, was angeboten wurden, für sich auch angenommen. Nicht nur für die Bewohner*innen war das ein großer Schritt nach vorne, sondern auch für die Eltern und Angehörigen, denn wir hatten keine Besuchszeiten in der Fettschen Villa. Jeder konnte kommen, wie er wollte. Wir hatten auch ein Gästezimmer, in dem auch mal eine Mutter übernachtet hatte oder eine Schwester, die in Wiesbaden wohnte. Also es war ein richtig offenes Haus.

Schulz: Stichwort pädagogische Konzepte bzw. das Thema „Wohnhaus als Unternehmung“, welche Rolle spielten in der Phase Konzepte?

Eggert: Die waren schon ganz wichtig. Wir hatten schon so etwas wie individuelle Assistenzplanung gemacht, denn wir stellten fest: Es gibt den normalen Alltag, da gibt es immer bestimmte Assistenzzeiten. Es gab ja immer die Frage, wieviel Stunden jemand überhaupt zur Verfügung hatte und wieviel Assistenz er bekommen konnte. Das haben wir damals schon so gemacht, dass wir sagten, dass die normalen Schichten abgedeckt werden mussten – es musste eine gewisse Präsenz sichergestellt werden –, aber wir hatten dann auch herausgearbeitet, dass jeder so ungefähr acht Stunden im Monat hatte, um nur etwas für sich individuell alleine zu machen. Manche nahmen jeder Woche zwei Stunden in Anspruch, um etwas Besonderes zu machen. Ein anderer hat die Stunden angesammelt und konnte dann mal zwei Tage in Berlin mit einer Kollegin verbringen. Dieses Konzept war schon da, bevor es die Kategorisierung nach Metzler gab, hatten wir das schon ausprobiert.

Schulz: Stichwort Kategorisierung nach Metzler. Das ist eine Hilfebedarfsgruppenstruktur, die dann eingeführt wurde.

Kutzner: War das für die Bewohner auch eine Erleichterung?

Eggert: Es war eine bestimmte Klarheit, denn es gab immer eine Diskussion darum, dass es Menschen gab, die sehr präsent waren und sehr viel von den Mitarbeit*innen forderten, aber es gab auch viele Menschen, die sich eher zurücknahmen und bei denen man immer das Gefühl hatte, dass sie irgendwie zu kurz kamen. Und um denen deutlich zu machen: Ihr habe auch die Möglichkeit, Zeit zu haben. Und wir haben auch dieses sogenannte persönliche Bezugspersonensystem im Rahmen des Handbuches „Das Wohnhaus als Unternehmung“ eingeführt, dass jeder Bewohner eine/n Mitarbeiter *in oder einen Mitarbeiter hatte, die oder der für ihn zuständig war und der regelte praktisch alles, ob die Krankenbesuche, Kleiderkauf, Ausflüge, alles, was diesen Menschen betraf. Das machte er mit ihm zusammen. Das gab eine gewisse Klarheit und dazu gehörte natürlich auch, dass jeder Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter wusste, wieviele Stunden er für diesen Menschen individuell noch zu Verfügung hatte.

Schulz: Dann gab es die Organisationsveränderung zu den drei großen Bereichen HamburgStadt, AlsterDorf, also das Zentralgelände und HamburgUmLand. Du bist dann zu HamburgUmLand gewechselt.

Eggert: Richtig! Ich bin nach HamburgUmLand gegangen.

Schulz: Magst du darüber noch etwas erzählen? HamburgUmLand ist die Bereichsbezeichnung mit den Angeboten in Schleswig-Holstein und Niedersachsen

Eggert: Ja, genau. Hermannsburg in Schleswig-Holstein. Aber noch in Schleswig-Holstein in mehreren Kreisen, aber auch in Glückstadt die Blomsche Wildnis.

Kutzner: Wie war dort die Situation?

Eggert: Die war dann so, dass ich das Gefühl hatte, dass ich wieder in das Jahr 1981 zurückgesprungen war. Die Wohnsituation und die Lebensbedingungen dort waren irgendwie stehengeblieben. Es wurde dort ganz viel zentral organisiert und die Wohnverhältnisse waren katastrophal und da war wieder ein Anfang nötig, um dort etwas zu ändern. Eine Landwirtschaft gehörte auch noch zu diesem Bereich.

Kutzner: Wie wollte man die Situation dann anpassen?

Eggert: Da ging es natürlich in erster Linie darum, dass man sagte – also bevor ich anfange noch mal: inhaltlich wurde auch gearbeitet, aber es ging ja erst mal darum, dass die Menschen überhaupt einen Lebensraum hatten. Wenn ich nie ein eigenes Zimmer habe und nie darüber bestimmen kann, was ich essen möchte, das sind so Grundbedürfnisse, die befriedigt sein sollten und die Jemand auch selber wählen kann. Es kann ja nicht sein, dass man zum Abendbrot einfach Leberwurst auf dem Tisch stehen hat und sie wollen vielleicht Käse essen. Das heißt diese Entscheidungen, dieses Individuelle, das war das erste, was dort bearbeitet wurde. Das hieß aber auch, dass Mitarbeiterschulungen und -fortbildungen stattfinden mussten.

Schulz: Es gab dann ja noch einmal eine Veränderung der Struktur, aus den damaligen Wohnbereichen wurden dann 2005 Assistenzgesellschaften und eigene GmbHs gegründet. Dann gab es 2010 noch einmal eine Veränderung, so dass aus den vier Assistenzgesellschaften zwei wurden. Wie hat sich das auf die Themen Selbstbestimmung Inklusion und Sozialraum ausgewirkt? Gab es eine konzeptionell-fachliche Verbindung?

Eggert: Die gab es vorher auch schon. Der Austausch war in den Assistenzgesellschaften vorhanden. Es wurden Sachen ausgetauscht. Der Bereich HamburgUmLand hatte die Hilfeplanung von HamburgStadt mitübernommen und die wiederum hatten Teile aus „Das Wohnhaus als Unternehmung“ übernommen. Das war schon so, dass man sich austauschte. Es hieß zwar immer, dass jeder sein eigenes System entwickeln sollte und man schauen sollte, wer das Beste hatte und das sollte übernommen werden, aber im Grunde genommen gab es diesen Austausch schon. Eine Sache, die es einfacher machte, war, dass die Bereiche kleiner waren. Der Bereich HamburgStadt wurde ja dann irgendwann noch einmal unterteilt in -west und -ost, weil das auch zu groß wurde. Und im Jahr 2010 ist es dann wieder sehr groß geworden. Und damit sich auch Entscheidungswege sehr viel länger und es wurde wieder viel mehr vereinheitlicht. Also das, was ich vorhin erzählt habe, dass die Menschen wie im Krankenhaus lebten und das nicht in Ordnung war. Dann gab es die Phase, in der es hieß: jeder muss seine eigene Wohnung haben, was eigentlich auch wieder eine Form von Bevormundung ist, denn ich muss frei wählen können: Will ich mit anderen Menschen zusammenleben, will ich einer Partnerschaft leben, will ich in der Stadt oder auf dem Lande leben, also das ist, glaube ich, noch mal eine Herausforderung, die auch jetzt für uns Mitarbeiter*innen und Akteure ein ganz wichtiger Punkt ist.

Schulz: Wenn du das auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten solltest, wieviel Inklusion und Sozialraumorientierung wird jetzt in den Assistenzgesellschaften realisiert?

Eggert: Fünf.

Schulz: Magst du das begründen?

Eggert: Die Vorstellung ist natürlich, dass alle Menschen, die in der Stadt leben, wissen, wie sie mit Menschen mit Behinderung umgehen sollen. Das ist noch lange nicht der Fall! Absolut nicht! Ich glaube, dass das eine der größten Hürden in dem ganzen Bereich ist. Nach wie vor suchen sich Menschen mit Behinderung auch ihren eigenen Kreis. Sie wollen mit Menschen zu tun haben, die die gleichen Interessen haben und die vielleicht auch auf dem gleichen Level sind. Insofern betrifft Inklusion nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern alle anderen Bevölkerungsgruppen. Auch mit denen haben wir viel zu tun. Wir haben ein neues Projekt in der Bovestraße, wo auch viele ausländische Mitbürger*innen sind und alle, die einen Wohnberechtigungsschein haben. Diese Mischung ist noch mal eine völlig andere Herausforderung.

Kutzner: Wie stehen Sie mittlerweile zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf?

Eggert: Ich halte die Stiftung für eine ganz wichtige Institution, weil die Menschen, die dort leben, die also einen Vertrag mit Alsterdorf haben, eine gewisse Sicherheit in Bezug darauf haben, wie sie leben wollen und wo sie leben wollen. Die Bandbreite ist also sehr groß. Das können viele andere Einrichtungen so nicht bieten. Ich finde, diese Sicherheit ist ein ganz wichtiger Aspekt, weil keiner weiß, wie sich diese Gesellschaft entwickeln und was vielleicht in fünf oder zehn Jahren passieren wird.

Schulz: Wenn du nach jetzt vierzig Jahren zurückschaust und noch einmal die Entscheidung darüber treffen müsstest, ob du in die Stiftung Alsterdorf gehst, würdest du es wieder machen?

Eggert: Ob ich das heute noch einmal machen würde?

Schulz: Ja.

Eggert: Nein, ich glaube nicht, weil schon so viel geregelt ist und damals gab es unglaublich viel zu tun. Wir konnten sehr viel ausprobieren und das hat auch Spaß gemacht.

Heute finde ich, muss auf anderen Ebenen gearbeitet werden. Die rechtliche Situation für Menschen mit Behinderung, das Betreuungsgesetz, hat sich wesentlich verändert. Früher gab es Vormünder. Die Grundlagen sind jetzt da, heute haben wir eher andere Dinge zu tun, z.B. zu gucken, wie Inklusion tatsächlich umgesetzt werden kann.

Schulz: Okay. Vielen Dank!

Kutzner: Vielen Dank!

Eggert: Gerne geschehen!