05 / 1997 – Interview mit Margarethe Reimers

Teilnehmende

Margarete Reimers

Reinhard Schulz

Monika Bödewadt

Transkription

Bödewadt: Ich begrüße Sie zu unserem Interview. Wenn Sie sich bitte einmal vorstellen mögen.

Reimers: Mein Name ist Margarete Reimers. Ich arbeite in der alsterdorfer assistenz ost und bin zuständig für das Projekt „Einführung von unterstützter Kommunikation in der alsterdorfer assistenz ost“.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich betreue und organisiere das Projekt „Vierzig Jahre Eingliederungshilfe-Entwicklung in der Stiftung“ und die Dokumentation dazu und freue mich über das Interview mit Margarete Reimers. Herzlich willkommen in unserer Runde!

Reimers: Danke.

Schulz: Wir schauen uns insgesamt 40 Jahre Eingliederungshilfe an. Diese 40 Jahre hast du in der Stiftung erlebt. Magst du erzählen, wann und in welchem Jahr du in der Stiftung begonnen hast, und was deine ersten Eindrücke und Aufgaben in der Stiftung waren?

Reimers: Ich habe am 1.August 1975 in der Stiftung mit der Ausbildung zur Kinderpflegerin begonnen. Damals gehörte es noch dazu, dass die Kinderpflegerinnen vormittags Schule hatten und am Nachmittag im Krankenhaus auf verschiedenen Stationen arbeiteten. Die Schule ging drei Jahre und enthielt natürlich auch Praktika in Kindergärten. Ich bin zum Beispiel auf dem Gelände des Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus in Stegen im Betriebskindergarten gewesen. Mein Praktikum habe ich im Behindertenbereich gemacht, im Haus Bethlehem, dem damaligen sogenannten Kinderbereich, wo ganz kleine Kinder waren.

Schulz: Ende der 1970er Jahre war deine Ausbildung beendet. Wo in der Stiftung hast du dann deine berufliche Arbeit begonnen? Im Kinder- und Jugendbereich, im Haus Bethlehem?

Reimers: Ich habe im Michelfelder Kinderheim begonnen. Erst habe ich weiter im Haus Bethlehem gearbeitet. Das war mein Anerkennungsjahr, das damals ein Jahr dauerte. Dann bin ich in das Michelfelder Kinderheim gewechselt und habe dort 1980 und 1981 als erstes Highlight den Wechsel der Klient*innen vom Michelfelder Kinderheim in das Wilfried-BorckHaus miterlebt – hautnah!

Schulz: Den großen Umzug damals –

Reimers: Ja, den großen Umzug. –

Schulz: in das neugebaute Wilfried-Borck-Haus. Gibt es bei dir noch aus deiner ersten Zeit Eindrücke zum Jahreswechsel 1979/1980, als in der Öffentlichkeit im Zeit-Magazin über die Stiftung – damals noch Alsterdorfer Anstalten –mit relativ erschreckenden Bildern berichtet wurde? Welche Bilder aus deiner Anfangszeit haben sich bei dir eingebrannt? Waren die ähnlich schwierig oder waren das auch schöne Bilder?

Reimers: In Bezug auf Haus Bethlehem waren es schöne Bilder, weil dort Kinder waren. Es waren schöne helle Räumlichkeiten, es gab einen schönen Garten, es war ebenerdig, es hat Spaß gemacht, es waren kleine Gruppen. Wir haben uns mit den Kindern beschäftigt und sie in ihrer Entwicklung unterstützt.

Dieser Artikel 1979 hat mich und meine Kolleg*innen in unserer Ansicht über die Arbeit in Alsterdorf sehr bestätigt, denn wir sahen schon, dass es eine ganz starke Trennung zwischen Frauen und Männern gab, dass die Zeit so war, dass Männer und Frauen nicht oder nur wenig zusammen sein, sondern auch nicht miteinander Freundschaften und Beziehungen eingehen sollten. Das war alles so jenseits der Normalität, dass wir darüber ziemlich erschrocken waren.

Mein erster Arbeitstag im Michelfelder Kinderheim hat mich sehr beeindruckt.Ich kam aus hellen, freundlichen räumlichen Gegebenheiten [im Haus Bethlehem]in einen dunklen Raum auf dem ersten Stock, wo eine Frau in ihrem Metallgitterbett saß und jaktierte. Ich wollte ihr helfen, aufzustehen, und sie zum Bad begleiten, aber sie war mit einem dicken, so breiten [zeigt mit Zeigefinger und Daumen eine Breite von ca. 6/7 cm] Gurt festgebunden und ich besaß keinen Steckschlüssel, um sie loszumachen.

Die Räumlichkeiten im Michelfelder erschreckten mich sehr! Es waren kleine Räume, in denen 12 Betten standen. Es gab keine persönliche Habe der Menschen. Alles, was sie besaßen, hatten sie unter ihrem Kopfkissen. Im Raum musste man schräg gehen, um sich zu den einzelnen Betten durchzuarbeiten. Wir hatten immer furchtbare Angst. Wenn es Feuer gegeben hätte, was hätten wir tun sollen, wie hätten wir die Menschen so schnell aus dem Haus bekommen? Es gab im Raum nur eine Badewanne und ein einziges Waschbecken. Die Küche war klein. Das war auch sehr erschreckend. Wir waren froh, dass das dann sichtbar gemacht und die Öffentlichkeit darauf hingewiesen wurde, und dann das Wilfried-Borck-Haus gebaut wurde!

Bödewadt: Woran denken Sie gerne zurück?

Reimers: Ich denke gerne an die Aufbruchstimmung beim Umzug in das Wilfried-Borck-Haus zurück. Wir hatten eine echte Aufbruchstimmung! Wir haben uns gefreut, jetzt andere Wohnverhältnisse vorzufinden, Einzel- und Doppelzimmer, große Küche, wo wir die Menschen, die wir betreuten, auch mit hineinnehmen und sie beim Essemachen begleiten konnten. Wir freuten uns, dass das pädagogische Personal mehr wurde. Es waren mehr Kolleg*innen da, die andere, pädagogische Inhalte mitbrachten. Es ging um Normalisierung und Unterstützung und nicht mehr so sehr um Fürsorge. Wir waren personell so gut ausgestattet, dass wir viel unternehmen konnten, wie z.B. in kleinen Gruppen Freizeiten in Dänemark machen usw.

Schulz: Da scheint der Lebensalltag im Kinder- und Jugendbereich deutlich anders gewesen zu sein als im Erwachsenenbereich, im männlichen und weiblichen Bereich. Hast du in deiner Anfangszeit auch Eindrücke aus den Bereichen sammeln können? Gibt es da Erfahrungen?

Reimers: Es gibt nur Erfahrungen aus den Erzählungen der sogenannten Hilfsmädchen. Das war auch so ein Thema. In den Wohngruppen arbeiteten Männer und Frauen [mit Behinderung]. Bei uns arbeitete eine Frau, die Hilfsmädchen war, und für sie war das, glaube ich, ganz schlimm, dass wir als Pädagog*innen dorthin kamen und ihr die Arbeit abnahmen, sie also auch den Verlust ihrer Betreuungsaufgabe ertragen musste. Wir haben immer versucht, sie mit einzubeziehen, aber die Pädagog*innen haben dann doch eindeutig das Heft in die Hand genommen und die sogenannten Hilfsmädchen wurden reduziert auf hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Das war ganz schwer für sie.

Schulz: Diese Menschen, diese Hilfsmädchen und Hilfsjungen, haben die über ihre Lebenssituation berichtet? Habt ihr davon etwas mitgekriegt? Das war ja alles auf dem großen Anstaltsgelände.

Reimers: Ja, auch wir bewegten uns auf dem Anstaltsgelände. Wir hatten immer noch in den Köpfen: Da vorne ist ein Tor. Da vorne sitzt der Torwächter. Da gehen wir nur als geschlossene Gruppe raus und nicht: Jeder einzelne geht, wohin er will. Darüber hinaus lag die Anstalt in der City Nord, es gab also keine Einkaufsmöglichkeiten um das Geländer herum bzw. immer weite Wege. Wir hätten viele Menschen gar nicht einkaufen schicken können. Außerdem war die Stiftung so konzipiert, dass man auf dem Gelände alles bekam und eigentlich keinen Grund hatte, rauszugehen. Das hat sich erst im Laufe der Jahre aufgelöst.

Von der Situation dieser Hilfsmädchen und Hilfsjungen haben wir ansatzweise etwas mitbekommen, wenn sie sich über die Erzieher beschwerten oder sagten: Das gefällt mir so nicht! Da haben wir zum Teil schon interveniert und Kontakt und Gespräche aufgenommen.

Schulz: Gab es damals im Kinder- und Jungendbereich schon Ansätze von pädagogischen Konzepten bzw. Konzepte, mit denen ihr auch wirklich gearbeitet habt?

Reimers: Ja, wir probierten verschiedene Konzepte aus. Bei herausforderndem Verhalten probierten wir zum Teil verhaltenstherapeutische Ansätze. Wir hatten Unterstützung von Psycholog*innen, die uns dabei halfen, etwas zu finden, den Einzelnen in der Verbesserung seiner Lebensqualität zu unterstützen, denn man muss bedenken, dass wir erstmalig die Situation hatten, dass Menschen vom Umzug vom Michelfelder Heim in das Wilfried-Borck-Haus in ein eigenes Zimmer oder ein Doppelzimmer kamen! Es gab einen eigenen Schrank, es gab eigene Kleidung, die nicht, so wie früher, mit einer Nummer benannt war, sondern mit Namen. Es gab eigene Habe, einen eigenen Nachtschrank, wo man etwas unterbringen konnte. Das erforderte natürlich ein anderes Lernen für die Menschen, die bis dahin damit gar nicht konfrontiert waren. Wir hatten daher pädagogisch die Aufgabe, eine Entwicklung zur Selbständigkeit zu unterstützen. Das hat uns viel Freude gemacht, denn unser Ziel war wirklich: Raus aus der Anstalt! Zäune einreißen! Es war, wie ich sagte, eine Aufbruchstimmung: Zäune einreißen, Mauern einreißen! Wir waren fest davon überzeugt, dass jeder Mensch sich weiterentwickeln konnte und das war unser Grundkonzept: Die Entwicklungsförderung!

Schulz: Zäune einreißen – Stichwort Regionalisierung. Es gab in den 1980er-Jahren noch die Heimbereiche. Das Kinder- und Jugendgebiet war auch ein Heimbereich, wenn ich das richtig erinnere. Wie hast du diesen Wechsel zur Regionalisierung erlebt, wo es darum ging, dass Wohnbereiche geschaffen wurden, in denen Öffnung und Auszug vom Zentralgelände Themen waren.

Reimers: Das habe ich nicht erlebt, denn 1981 bin ich in die Bugenhagenschule gewechselt. Das war auch wieder eine total spannende Aufgabe! Bis dahin galten Menschen mit Behinderung als nicht bildungsfähig. Und jetzt wurde in der Stiftung umgesetzt, dass auch Menschen, die bisher keinen Schulbesuch machen konnten, weil sie immer wieder seitens der Behörden von der Schulpflicht zurückgestellt worden waren, beschult wurden. Daher hatten wir in der Bugenhagenschule – damals noch Sonderschule – den Auftrag, für Menschen mit hohem Assistenzbedarf, eine Schule zu konzipieren und Inhalte festzulegen: Was musste gelernt werden, was musste gekonnt werden? Die normalen Inhalte in einer Schule wie Rechnen und Schreibenlernen gingen bei unserer Klientel nicht. Also gaben wir viel Unterstützung in der individuellen Entwicklung, in der Persönlichkeitsentwicklung, in den sozialen Kompetenzen. Das habe ich dann bis 1991gemacht.

Schulz: Wie kam es dazu, dass aus dem Kinder- und Jugendbereich Mitarbeitende in den Schulbereich ĂĽbernommen wurden? Gab es eine konkrete Anwerbung oder hast du dich aktiv selber beworben?

Reimers: Es gab eine Anwerbung dahingehend, dass die Lehrer*innen in der Bugenhagenschule mit den Klassen, die jetzt kamen, bei Menschen, mit denen sie keine Erfahrung hatten, pädagogische Unterrichthilfe benötigten. Eine Kollegin machte mich darauf aufmerksam. Ich habe mir sofort bei Herrn Hahn, dem damaligen Schuleiter, einen Termin geben lassen und gesagt: Das möchte ich machen! Und dann bin ich auch genommen worden.

Schulz: Du bist also selbst initiativ geworden und hast dir vorstellen können, dass das ein gute Aufgabe ist. Wie hat sich das dann über diese 10 Jahre realisiert? Hat sich erfüllt, was du dir gewünscht hast im Schulbereich?

Reimers: Ja. Das war eine richtig tolle Zeit! Wir haben in diesem Kollegium 12 Klassen geschaffen, Menschen beschult und ihre Schulpflicht erfüllen lassen, denen ein Stück Normalisierung gegeben, die bisher eben diese Möglichkeit nicht hatten. Wir haben für sie also schon das sogenannte zweite Milieu eingeleitet – jenseits der Beschäftigungstherapie, die es schon gab, die aber für jeden Einzelnen viel weniger Stunden umfasste. Der Schulbesuch war wirklich ein klassisches zweites Milieu, wo der Mensch mit Behinderung wirklich etwas lernen konnte. 12 Klassen haben wir zusammen im Kollegium aufgebaut! Darüber hinaus haben wir uns selber sehr viel weitergebildet. Ich habe während der Zeit berufsbegleitend meine Heilerzieherausbildung gemacht. Das war eine ganz tolle Zeit, die wir dort hatten, bis das Ende der Schulpflicht der meisten Bewohner*innen mit 29 Jahren erreicht war!

Dann ging es darum, wie es mit diesen Menschen weitergehen sollte. Wo sollte es hingehen? Und da hatten wir eine ganze Gruppe von Klienten, die schon in Wohldorf wohnten, und meine Kollegin und ich wurden von der Hausleitung gefragt, ob wir dort nicht eine Tagesförderung aufbauen wollten. Das haben wir dann gemacht.

Schulz: In welchem Jahr war das?

Reimers: 1991. Das war richtig spannend. Mit meiner Kollegin bin ich zu Frau Leuthäuser gegangen, und wir legten ihr ein Konzept darüber vor, wie wir uns den Aufbau einer dezentralen Tagesförderung in der Region dachten. Das haben wir dann umgesetzt, und zwar in einer alten, kleinen Gymnastikhalle auf dem Gelände in Wohldorf.

Schulz: In Wohldorf gab es ja dieses Gelände mit einem Wohnhaus. Wieviel Menschen lebten dort zu der Zeit?

Reimers: Ich meine es waren 22. Wir hatten acht Klient*innen, die wir förderten. Für diese machten wir ganz spezielle Förderangebote, wo es um das Lebenspraktische ging, z.B. darum, sich im Umfeld von Duvenstedt zurechtzufinden, also sich örtlich zu orientieren, an der Gesellschaft teilzunehmen, z.B. zum Wochenmarkt nach Volksdorf zu gehen und dann dort einzukaufen.

Schulz: Damit wart ihr, du mit deiner Kollegin, ab 1991 Mitarbeiterinnen im Förderbereich.

Reimers: Ja, genau.

Schulz: Wie hast du die Phase der Sanierungssituation der Stiftung erlebt? Warst du räumlich überwiegend in Wohldorf, also nicht auf dem Anstaltsgelände? Wie war dann die Sanierungssituation der Stiftung aus der Ferne zu betrachtet, denn die Stiftung konnte wirtschaftlich nicht weiterexistieren? Man fragte sich, wie es mit den Strukturveränderungen weitergehen würde. Was davon hast du wie erlebt?

Reimers: Es war schon so, dass mein Herz sehr an Alsterdorf hing, dass ich also bereitwillig auch mein Gehalt mit da hineingeben habe. Mir war es wichtig, dass diese neuen Ansätze weitergeführt würden. Ich glaube, dass es eine hohe Identifikation zwischen Mitarbeiter*innen der Stiftung Alsterdorf und der Stiftung gab. Das stellte ich immer wieder in Gesprächen fest. Das führte dazu, sich dafür [für die Sanierung] einzusetzen, und die Arbeit, die man machte, für so wichtig zu erachten, dass man diese jetzt nicht aufgeben durfte.

Schulz: Du sprachst von dem Bündnis für Investition und Beschäftigung, Gehaltsverzicht, Verzicht auf die Tarifsteigerungen die ganzen Jahre. Wenn du jetzt auf die Stiftung schaust, wurde das Geld gut investiert, was dort von den Mitarbeitenden eingesammelt wurde?

Reimers: Wenn es um die Menschen geht, ja. Also aus meiner jetzigen, aus meiner emotionalen Sicht heraus würde ich sagen: Das ist gut investiert worden! Es gibt viele Dinge, die sich verändert haben, vor allen Dingen die Haltung und der Blick auf unsere Klientel und auf die Unterstützung. Den Fürsorgegedanken gibt es nicht mehr. Wenn ich bedenke, dass es früher auf dem Gut Stegen dieses Kamingitter gab mit so einem geschmiedeten Logo: Da war eine Person, die hatte einen Stift in der Hand und eine andere Person hielt ihre Hand fürsorgend darüber. Das ist dann verschwunden! Wir unterstützen jetzt die Menschen, wir lassen sie ihren Weg alleine machen, aber wir begleiten sie. Es würde heute ein ganz anderes Logo sein.

Schulz: Es hat sich Mitte der 1990er Jahre konzeptionell ganz viel verändert, unter anderem ist der eigenständige Wohnbereich HamburgUmLand entstanden. Magst du ein bisschen erzählen, wie das ablief und was sich aus deiner Perspektive dort entwickelte?

Reimers: Ich habe 1996 in Hannover – dort bin ich immer wöchentlich hingefahren – berufsbegleitend meine Heilpädagogen-Ausbildung mit dem Schwerpunkt Motopädie gemacht und hatte dann wirklich den Wunsch, noch mal etwas anderes zu machen und nicht nur in der Tagesförderung zu arbeiten. In HamburgUmLand wurde der Aufbau einer Tagesförderung beschlossen, und Heinz Stümpel-Oswald– er war dafür verantwortlich – hatte mich gebeten, zu ihm zu kommen.

Schulz: Das war der damalige zuständige Leiter.

Reimers: Genau. Er war damals unter Herrn Jakob federführend dafür zuständig, die Tagesförderung aufzubauen, und er brauchte Hilfe in pädagogischer Form. Als ich 1998 fertig war, habe ich den Aufbau mit betrieben, habe die Kolleg*innen, die in der Tagesförderung in Hermannsburg, in Neuendeich, auf Gut Stegen, in Volksdorf und in Wohldorf arbeiteten, vor Ort beraten. 2000 bin ich von Herrn Jakob gefragt worden, ob ich in den Fachdienst seines Gesamtbereiches wechseln möchte. Das habe ich mit viel Freude gemacht und –

Schulz: Was hieĂź damals Fachdienst in HamburgUmLand? Was fĂĽr ein Fachdienst war das?

Reimers: Der Fachdienst hatte die Aufgabe, pädagogisch beratend tätig zu sein und einzelne Aufgaben mit zu übernehmen. Das war damals wieder eine Aufbruchstimmung, die wir als alsterdorf assistenz umland hatten. Wir machten eigentlich alles! Ein Interview über den Moorhof habe ich genauso gegengelesen wie ich das Kunden­management vertreten habe. Also da waren viele, viele Aufgaben, die ich mitgemacht habe.

Schulz: Was gehörte damals zu HamburgUmLand? Du hast angedeutet, Niedersachen, Hermannsburg, Moorhof. Was kam noch dazu? Gut Stegen natürlich.

Reimers: Das Gut Stegen natürlich schwerpunkmäßig. Es kamen noch die Walddörfer, also die Wohnhäuser Volksdorf und Wohldorf dazu.

Schulz: Wenn du zurückblickst, welche Highlights in der Entwicklung sind dir noch präsent? Was waren wichtige Entwicklungsschritte in der damaligen Situation des Bereiches?

Reimers: Erst mal der Aufbau der Tagesförderung, der Aufbau des Wohnbereiches überhaupt, insgesamt größer zu werden, mehr Menschen Möglichkeiten zu geben –

Schulz: „größer werden“ hieß größere Häuser bauen? –

Reimers: mehr und mehr Standorte aufzumachen und auch zu bauen, in Hensted-Ulzburg z. B. ein neues Wohnhaus zu beziehen, Bargteheide als Wohnangebot neu aufzumachen. Es ist mir in Erinnerung geblieben, dass wir Vereinbarungen mit den Leistungsträgern vor Ort trafen, um uns auch dort als Einrichtung einen Namen zu machen. Wir haben z.B. viel mit dem Kreis Stormarn und dem Kreis Segeberg z.B. zusammengearbeitet.

Zu der Zeit hatte ich neben der Beratung der Kolleg*innen und Beschäftigten in der Tagesförderung als zweite Aufgabe, im Rahmen der Kundenbetreuung Hilfebedarfserhebungen zu machen. 2000 ging es los, dass in der gesamten Stiftung die Metzlerbefragung gemacht wurde, die von Herrn Ollech und Frau Eggert organisiert wurde, beide auch Mitarbeiter*innen der alsterdorf assistenz umland. Diese Befragung habe ich aktiv mitgemacht und später bei Neukunden fortgeführt, indem ich sie nach ihren Assistenzbedarfen gefragt und auch mit Ihnen erste Ziele vereinbart habe über das, was sie bei uns lernen wollten und wo soll es hingehen sollte.

Schulz: Kannst du da noch etwas zum Metzlerverfahren sagen? Das ist, glaube ich, dem Zuhörer erst mal nicht so vertraut.

Reimers: Das Metzlerverfahren hatte, glaube ich, 29 Items, über die ermittelt wurde, wie hoch der Hilfebedarf des Einzelnen war, dann wurde er einer der Hilfebedarfsgruppen zugeordnet, Hilfebedarfsgruppe 1 bedeutete kaum Hilfebedarf bis zur Hilfebedarfsgruppe 5 als fortlaufender Hilfebedarf. [Schwerpunktmäßig ging es darum, den aktuellen Unterstützungsbedarf des Einzelnen zu erfassen und erste Ziele für seine weitere Verselbständigung mit ihm zu ermitteln und festzuschreiben.]

Schulz: Das war die Zeit in HamburgUmLand. Es gab dann die Weiterentwicklung, dass es Gesellschaften, also rechtlich selbständige GmbHs gab. Du hast gerade angedeutet, die assistenz umland wurde auch eine eigene gGmbH. Das endete dann 2010. Magst du über diese Phase noch ein bisschen berichten? Wie hast du das und dann die Weiterentwicklung in der großen Gesellschaft assistenz ost erlebt?

Reimers: Das war wirklich eine schwierige Zeit für mich ganz persönlich, denn ich hatte meine festen Aufgaben und hatte mich ganz klar in Schleswig-Holstein verortet. Meine Kollegin und ich waren auf Veranstaltungen in ganz Schleswig-Holstein. Unser Fokus war auf Schleswig-Holstein ausgerichtet. Es sollte dort eben auch weitergehen, denn zentral konnte man das nicht führen, man musste es dezentral machen. Wir hatten damals fast 300 Bewohner, um die wir uns kümmerten, in Niedersachen, Schleswig und im Norden von Hamburg.

Dann sind wir von der Geschichte überrollt worden. Das muss man einfach so sagen. Für mich war das eine harte Zeit, dehnt ich ahnte es schon, als Professor Haas vorbeikam vorbei und Fragen stellte wie: Muss man denn zwei Kundenmanagements haben, muss man das alles doppelt vorhalten? Ich ahnte, da ich schon sehr lange in der Stiftung war, dass es wieder zum Zentralen hinging, denn das habe ich immer wieder erlebt: Dezentralisierung streitet sich mit Zentralisierung. Damals ahnte ich schon etwas, aber als wir dann eingeschmolzen wurden in die assistenz ost, war das erst mal ein Schock. Ich bin dann aktiv geworden und habe alles, was ich an Zahlen und an Arbeiten, aktuellen Themen hatte, zusammengefasst und meiner neuen Vorgesetzten – Frau Stefani Burmeister war das übrigens – zur Verfügung gestellt. Für mich in meiner Arbeit hieß das: Ich muss mich wieder neu etablieren und muss mir in der Firma wieder einen Namen machen. Man kannte mich ja vorher gar nicht und wusste nicht: Wie arbeitet die Frau und was macht die denn so und wie verlässlich ist sie?

Was ich seit 2002 gemacht habe war, die Kooperation mit der alsterarbeit zu betreuen. Wir haben auf den Gütern und in Hermannsburg auch Arbeitsplätze und die habe ich seitens der Werkstatt betreut. Das habe ich dann in der assistenz ost auch so weitergemacht. Es ist mir immer wichtig gewesen, genau diese Arbeit zu machen, also die Beschäftigten zu beraten, zu unterstützen und zu begleiten, weil, für mich ist es unendlich wichtig, den Kontakt zu den Menschen zu haben. Also für Führung wäre ich wäre nicht geeignet. Ich brauche den Kontakt zu Menschen. Das ist mir aber gut gelungen, so dass ich auch heute wieder ein neues Projekt habe, das ich umsetzen kann, nämlich die Unterstützte Kommunikation in der assistenz ost.

Schulz: Nochmal rückblickend, Stichwort Kooperation u.a. mit alsterarbeit: Es gab ja auch eine Kooperation mit den Vorwerker Diakonien bzw. mit dem Werkstätten-Bereich dort. Magst du dazu noch etwas erzählen? Wie kam es dazu?

Reimers: Es kam dazu dadurch, dass wir von den Leistungsträgern, mit denen wir in Schleswig-Holstein Kontakt hatten, aufgefordert wurden und uns gesagt wurde: Die Hamburger Kostensätze wollen wir nicht übernehmen, suchen Sie sich einen anderen Kooperationspartner! Und da unser damaliger Vorstandsvorsitzende den Vorstandvorsitzenden der Vorwerker Werkstätten kannte, haben die beiden uns sozusagen zusammengebracht und gesagt: Redet doch mal, ob man zusammenarbeiten kann. Seit 2007 besteht diese Kooperation mit den Vorwerker Werkstätten in Schleswig- Holstein.

Schulz: Und die läuft immer noch.

Reimers: Die läuft immer noch!

Schulz: Sehr schön!

Reimers: Die läuft gut!

Schulz: Wenn man sich jetzt die Gesellschaft assistenz ost anschaut und auch die ESA anschaut unter dem Stichwort Dezentralisierung – Zentralisierung, was ist anders, was ist besser bzw. schlechter im Vergleich zu dem, was vorher da war? Kannst du dazu was beschreiben? Fällt dir dazu was ein?

Reimers: Ja, da wir in der assistenz ost alle Felder bespielen, ist das eine Herausforderung für alle Beteiligten, denke ich, weil, man muss sowohl in der Gesetzgebung der schleswig-holsteinischen, der niedersächsischen und auch der hamburgischen Leistungsträger firm sein. Aber da wir uns mittlerweile da auch auskennen, kann ich gar nicht sagen, ob da etwas besser oder schlechter geworden ist. Nein, es ist einfach eine andere Arbeit, es ist ein anderes Denken, man muss sich drauf einstellen!

Und zu meiner Arbeit kann ich nur sagen: Ich habe weiter Kontakt zu den Werkstatt-Beschäftigten sowohl der Vorwerker als auch der alsterarbeit. Ja, Corona hat uns ein bisschen eingeschränkt, aber sonst macht die Arbeit weiterhin viel, viel Freude.

Schulz: Du warst viele Jahre gar nicht auf dem sogenannten Zentralgelände. Wenn du da noch mal hinschaust, wie hat sich aus deiner Perspektive dieses Zentralgelände verändert, wie war dieser Konversionsprozess auf dem Zentralgelände? Hast du da einen Eindruck und magst du da etwas zu erzählen?

Reimers: Da fällt mir nur der Begriff Normalität ein, Normalität, endlich Normalität! Es gibt keine Pforte mehr, es gibt keine Schranke mehr, es gibt keine eigene Alsterdorfer kleine Welt mehr! Ich merke, Alsterdorf ist integriert in den Stadtteil. Früher war es so: Man sah nur Menschen aus Alsterdorf, man kannte sie alle, das hatte familiären Charakter, aber das war eine Familie, die dich auch nicht so leicht losließ, mit der du auch mitgehangen und mitgefangen warst – und heute ist das ganz anders!

Bödewadt: Ich habe noch eine Frage. Und zwar diese Erneuerungswelle, von der Sie erzählt haben, die Idee, dass dieses Alte mit der Mauer, mit dem Pförtner wegkommt, diese Erneuerungswelle, wo kam die her? Wo denken Sie, wo kommt es her, dass die neuen Angestellten das ändern wollten? Woher haben die das, aus der Schule?

Reimers: Ja, zum einen kamen 1975 die ersten Heilerzieher aus der Schule für soziale Arbeit – früher hieß sie Heilerzieherschule – in die Wohngruppen und brachten neuen Input mit. Vorher waren da viele Pflegekräfte, der Schwerpunkt lag eher auf Pflege, da hat man den Menschen mit hohem Assistenzbedarf nicht so viel zugetraut, sondern hat einfach mehr Fürsorge betrieben, sie oft an die Hand genommen und sie wenig alleine laufen lassen. Die Kollegen kamen jetzt mit neuen Konzepten, neuen Ideen und neuem Wissen und haben viel mehr ausprobiert, waren viel mutiger. Ich glaube aber, dass, wenn der Artikel [im Zeit-Magazin] nicht gewesen wäre, wäre Alsterdorf noch lange im Dornröschenschlaf versunken, weil, das Murren der Mitarbeitenden war schon da, aber das Gehört-Werden ist eine andere Sache.

Und dann die Gelder zu haben, darauf zu reagieren, ist noch mal wieder eine andere Sache. Mauern einreißen kostet Geld, genauso wie Mauern in den Köpfen einreißen, nämlich mit mehr Mitarbeiter*innen, die mehr Wissen und Fachwissen haben und auch mit neuen Ideen kommen. Da schätze ich so Menschen wie Raimund Jakob sehr, die ganz innovativ waren. Der kam als Zivildienstleistender zu uns.

Schulz: Magst du noch mal sagen, wer das war?

Reimers: Raimund Jakob ist der Geschäftsführer der alsterdorf assistenz umland gewesen und hat 1982/1983, glaube ich, im Michelfelder Kinderheim als Zivildienstleistender begonnen. So habe ich ihn kennengelernt; wir haben beide zusammengearbeitet. Was ich an den Zivildienstleistenden damals so schätzte, war, dass sie nichts hingenommen haben von dem, was wir erzählten. Sie haben immer gesagt: Muss das sein? Ist das so richtig? Muss ich demjenigen wirklich die Jacke anziehen? Kann er das nicht eventuell selber? Und das hat uns zum Umdenken gebracht. Wir wussten das theoretisch alle, aber den Mut zu haben und zu sagen: Okay, ich gehe neue Wege, ich lass den Menschen mal, ich warte mal ab, ob der wirklich über die Straße läuft, und ihn nicht schon vorher an die Hand zu nehmen, weil, er könnte ja auf die Straße laufen. Also, das haben die Kolleg*innen so mitgebracht. Das waren, glaube ich, Gründe dafür.

Schulz: Stichwort Inklusion und Sozialraum, wenn du auf die aktuelle Situation in der Stiftung in der Eingliederungshilfe schaust, wie weit sind wir damit auf einer Skala von 1 bis 10?

Reimers: Das ist schwierig, zu beantworten für mich. Wir sind auf der Skala von 1 bis 10 so ungefähr bei 8, glaube ich. Die Gesamt-Gesellschaft ist aber noch bei 4.

Schulz: Magst du das erklären?

Reimers: Ich denke, wir würden uns gerne viel, viel mehr engagieren, aber wir müssen, bei den Menschen, bei der Gesellschaft, bei jedem einzelnen Bürger, Vorbehalte einreißen, Vorurteile im Kopf einreißen, nämlich: Ein Mensch mit Assistenzbedarf ist ein armer Mensch dem man helfen muss, der alleine nicht zurechtkommt und für den es doch gut ist, dass er jemanden bei sich hat, der für ihn handelt. Genau das muss in den Köpfen eingerissen werden!

Ich habe viel, viel, viel, wenn wir mit unseren Beschäftigten in der Tagesförderung in Wohldorf im Alstereinkaufszentrum waren, mit den Bürger*innen geredet und immer wieder darauf hingewiesen: Die sind nicht arm dran! Nein, auch, wenn jemand sein Bein nachzieht, ist er nicht arm dran, nicht ärmer als jeder andere Bürger, jede andere Bürgerin auch, der oder dieein Bein nachzieht! Er hat es nicht schlechter. Er ist nicht bedauernswert. Ich glaube, das gibt sich immer mehr, weil auch viel dafür im Sozialraum getan wird. Wenn ich an unsere Projekte im Sozialraum denke, sind wir schon auf einem guten Weg.

Schulz: Wie sieht 2031 fĂĽr dich aus, wenn du mal 10 Jahre in die Zukunft schaust?

Reimers: Das ist eine schwierige Frage. Ich wünsche mir, dass wir dann keine Sonderwelten mehr brauchen. Die Angst, die ich dabei habe ist, dass unter mangelnder Finanzierung wieder Rückschritte gemacht werden, dass es doch einfacher ist, pauschal wieder Gelder her zu geben und zu sagen: Es ist gut, wenn die Menschen in Einrichtungen sind, wo ein schöner Zaum drum rum ist, und wo es ihnen gut geht, und wir als Gesellschaft wissen, dass es ihnen gutgeht.

Aber wir als Gesellschaft sind genauso gefordert, ich als Bürgerin bin genauso gefordert, auf Menschen in meinem Quartier, die ein Handikap haben, aktiv zuzugehen, weil sie es vielleicht nicht können. Das braucht viel Beratung durch unsere Fachleute.

Schulz: Du bist jetzt im 46sten oder 47sten Berufsjahr in der Stiftung Alsterdorf. Wenn du mit der Erfahrung, die du jetzt hast, zurückschaust und du wieder vor der Frage stehen würdest: Fange ich in der Stiftung Alsterdorf – damals noch Alsterdorfer Anstalten – als Kinderpflegeschülerin an, wie würdest du heute entscheiden?

Reimers: Ganz schwere Frage! Ich glaube, ich wĂĽrde dann lieber 1984 anfangen und nicht 1975.

Schulz: Was war da anders?

Reimers: Es war einfach 1975 noch sehr beklemmend. Es war ein Zaun drum rum, es war einfach so, dass das eine Sonder-Sonder-Sonderwelt war in einer Örtlichkeit, die geprägt war von: Rundum waren riesige Hochhäuser und es war kein Stadtteil. Wir fühlen uns auch von dem Stadtteil Alsterdorf sehr abgeschnitten. Und dann rechts Ohlsdorf! Mein erster Eindruck war, als ich aus der S-Bahn ausstieg, war: Wir laufen nur an Grabsteinen vorbei! Das war bedrückend! Also ich würde lieber von der Zeit her, von der Aufbruchstimmung her, 1984 angefangen!

Schulz: Wieviel berufliche Jahre hast du noch vor dir in der Stiftung Alsterdorf?

Reimers: Ich würde gerne bis Ende 2024 arbeiten, bis Ende 2025 müsste ich eigentlich noch, werde aber ein bisschen eher aufhören, wenn es möglich ist, denke ich. Auf jeden Fall oder wahrscheinlich, wenn man mir die Chance gibt, werde ich auf 450,-Euro-Basis weitermachen.

Schulz: Du möchtest also die 50 Jahre vollmachen?

Reimers: Nicht ganz. Die wären zum 1. August 2025 voll. Ich werde 2024 aufhören, 49 Jahre reichen dann auch.

Schulz: Frau Bödewaldt, haben Sie noch eine Frage?

Bödewadt: Was würden Sie der Nachwelt mit auf den Weg geben aus ihrem Beruf?

Reimers: FĂĽr die Mitarbeitenden?

Bödewadt: Nein, allen Menschen.

Reimers: Was würde ich allen Menschen mitgeben? – Schließt niemanden aus! Nehmt ihn immer mit und nehmt ihn wahr! Ich erlebe immer wieder, auch jetzt in den Schulungen bei Mitarbeiter*innen, – ich gebe im Moment viele Schulungen zur Unterstützten Kommunikation– dass ich sagen muss: Dieses Verhalten oder diese Reaktion gibt es nicht nur bei unserer Klientel sondern auch bei euch! Deswegen würde ich allen Kolleg*innen immer wieder mitgeben – und ich denke, das tue ich schon jetzt: Nehmt die Menschen ernst, nehmt sie wahr und achtet auf sie! Wartet, bis sie sich mitteilen können und überfordert sie nicht, indem ihr immer zuerst handelt!

Schulz Ein schönes Schlusswort!

Bödewadt: Herzlichen Dank!

Reimers: Gern. Hat SpaĂź gemacht!

Schulz: Danke fĂĽr das Interview. Alles Gute!