04 / 1989 – Interview mit Theodorus Maas

Teilnehmende

Theodorus Maas

Nico Kutzner

Hans-Walter Schmuhl

Reinhard Schulz

Transkription

Kutzner: Guten Tag. Mein Name ist Nico Kutzner von 17motion. Wenn Sie sich doch bitte vorstellen könnten.

Maas: Das mache ich gerne, Herr Kutzner. Mein Name ist Theodorus Maas und ich bin am 9. Oktober 1944 in Ubbergen in den Niederlanden geboren und bin nach wie vor Niederländer.

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich betreue das Dokumentationsprojekt „Entwicklung der Eingliederungshilfe in den letzten 40 Jahren in der Stiftung Alsterdorf“.

Schmuhl: Mein Name ist Hans-Walter Schmuhl. Ich bin Historiker und arbeite zusammen mit der Kollegin Ulrike Winkler an einer Geschichte der Alsterdorfer Anstalten von den Anfängen bis zur unmittelbaren Gegenwart.

Kutzner: Wie haben Sie den Umbruch erlebt?

Maas: Ich nehme an, Sie meinen den Umbruch von der Anstalt zu einer modernen Dienstleistungsorganisation für Menschen mit Beeinträchtigung.

Kutzner: Ganz genau!

Maas: Danke. Den Umbruch habe ich sehr positiv erlebt. Ich war mittendrin, habe ihn an der ein oder anderen Stelle auch selbst mitgestalten dürfen und können. In der Rückschau nach doch etlichen Jahren kann ich sagen, dass dies für die Evangelische Stiftung Alsterdorf in Gänze ein gewaltiger Sprung war, der sie nach vorne gebracht hat und aus der etwas „schmuddeligen“ Ecke, in der sie lange Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung war, weggebracht hat. Und sie ist wieder zu einer anerkannten, großen Einrichtung geworden, die sich für Menschen mit Beeinträchtigungen interessiert und sich um sie kümmert.

Schulz: Du kamst als pädagogischer Regionalleiter in die Stiftung. Das war deine Funktion. Was hat sich in der ersten Phase an Bildern oder Eindrücken aus der damaligen Zeit bei dir eingebrannt, so dass du sie noch abrufen kannst?

Maas: Vielen Dank für die Frage. Die hat mich noch heute Morgen beim Aufwachen beschäftigt. Das ist – sehr spannend – die Beschäftigung mit der Zeit und das Hier-und-Da-Nachlesen, was Bilder in der Erinnerung löst und hervorruft.

Ich fange mal ganz weit hinten an. Ende des Jahres 1988 wurde ich von einem Personalbüro im Auftrage der Stiftung darauf angesprochen, ob ich mir vorstellen könnte, mich für eine große Sozialdienstleistungsorganisation in Hamburg zu engagieren. In der damaligen Zeit war ich in meiner Arbeit als Heimleiter nicht mehr ganz so glücklich und war über ein solches Angebot froh. Ich habe es angenommen. Wir haben ausführlich gesprochen und ich wurde mit einem neuen Konzept, das Regionalisierung hieß, konfrontiert. Aus den vielen Vorstellungs- und auch Einführungsgesprächen – das ist betrüblich, was ich jetzt sage – ist mir nicht klar in Erinnerung geblieben, was eigentlich damit gemeint war. Das war ein diffuses Geschehen und auch in den drei Gesprächen mit dem Vorstand, die als Vorstellungsgespräche stattfanden, ist es mir nicht wirklich klar geworden. Es wurde über viele Dinge gesprochen, aber darüber wenig. Es wurde z. B. über meine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche geredet, die nicht dokumentiert war, weil Niederländer das so nicht brauchen. Ich habe mich natürlich sofort als Katholik geoutet und damit war das Thema auch durch. Aber das war ein wichtiges Thema, in meiner Erinnerung wichtiger als die Regionalisierung.

Wir waren ein paar wenige, neue Regionalleiter und genauso viele „alte Hasen“ aus Alsterdorf, die dieses Geschäft der Regionalisierung übernahmen. Ich erinnere ein mühsames Ringen um Realität, um Realisierung dieser schwierigen Vorstellung, was genau das sein sollte. Es war jedenfalls eine Aufteilung der Behindertenhilfe in die vier Regionen Nord, Ost, West und Schleswig-Holstein, und es war der Versuch, die Angebote an Dienstleistungen, die noch auf dem Zentralgelände von Alsterdorf waren, mit denen, die schon draußen in der Stadt waren, in sogenannten Wohnstätten zu verknüpfen.

Dieses Geschäft haben wir angefangen und betrieben und versuchten, es auszubauen, es zu konkretisieren, es fühlbar zu machen. Sinn und Zweck kann im Nachhinein nur gewesen sein, dass diejenigen, die noch auf dem Zentralgelände – so hieß das damals – lebten und die Mitarbeiter*innen dort durch die Kenntnisnahme anderer Möglichkeiten in der Stadt Zutrauen gewinnen würden. Ob nun das Ziel dahinterstand – wie es dann später auch geschehen ist –, die Stiftung in Gänze aufzulösen, davon habe ich nicht gehört.

In den Gesprächen der Regionalleitungen mit dem Vorstand, Rudi Mondry, der dieses Regionalisierungskonzept vertrat, erinnere ich eine Sequenz, wo mein Kollege Schmidt und ich ankündigten, dass wir nunmehr das Karl-Witte-Haus beenden, d. h. es leerwohnen wollten. Die Reaktion vom Vorstandsvorsitzenden war: Um Gottes Willen, nicht in meiner Zeit! Daran sieht man, wie unklar und wie wenig definiert das Konzept Regionalisierung war. Es kam auch nicht zum Vollzug, das muss man schon sagen. Denn 1992 geriet nicht das Konzept aber der Vorstandsvorsitzende arg in Bedrängnis und aus verschiedenen Querelen, die da liefen insbesondere zwischen Mitarbeiterschaft bzw. Mitarbeitervertretung und dem Vorstand, insbesondere Rudi Mondry, entstanden unschöne Dinge. Diese führten dazu, dass er gehen musste.

Danach setzte eine Phase an, die ich mal überschreibe, wie man die ganze letzte Phase auch überschreiben kann, mit Irrungen und Wirrungen, wie es Theodor Fontane schon mal gemacht hat. Auch jetzt ist mir kein anderes Bild möglich. Es war eine schöne Zeit und am Anfang eine Zeit des Aufbruchs.

Aber als dann Rudi Mondry weg war, der ein halbwegs fester Ankerpunkt war, geriet das Ganze doch arg in ’s Rutschen. Es kam ein neuer Vorstand, der aus der Industrie kam und von ihm noch eingestellt worden war, Wolfgang Kraft, aber der hatte – unter uns gesagt und geschwiegen –, noch nicht so sehr viel Ahnung von Behindertenhilfe. Auch der relativ neue, aber schon vorhandene Vorstand, Peter Buschmann, hatte davon nicht viel Ahnung. Daher war auf der oberen Ebene niemand mehr da, der Gesprächspartner sein konnte.

Kutzner: Hat sich die Situation durch den Wechsel vom Vorstand verbessert?

Maas: Gute Frage! Vielen Dank! Nach meiner Wahrnehmung und Erinnerung war das keine Verbesserung. Wir erlebten eine Sturzflut von Reorganisationen. Es wurde ständig – in einem Jahr sogar dreifach – eine Reorganisation der Behindertenhilfe angeboten, aber das hatte einen Hintergrund. Es ging um handfeste wirtschaftliche und finanzielle Probleme, die gelöst werden mussten. Das zumindest ist unserem Vorstand, Wolfgang Kraft und danach auch dem neuen Vorsitzenden des Vorstands, Rolf Baumbach, gelungen. Es ist neidlos festzustellen, dass die wirtschaftliche Sanierung der Stiftung auf solide Füße gestellt wurde. Damit ging aber nicht einher – und das ist die zweite Antwort, die ich gebe –, dass man inhaltlich irgendeine Ahnung hatte, wohin es mit der Behindertenhilfe gehen sollte.

Mitte der 1990er-Jahre, als ich für das Kerngelände zuständig war, ging vom Vorstand noch die Losung aus: Sorgt dafür, dass im Zentralgelände eine Lebenswelt für Menschen mit Behinderung realisiert wird, die ihresgleichen sucht! Das war noch Mitte der 1990er-Jahre die Devise. Und als 1996 und 1998 die Sanierung gelang, war für mich, der damals schon als Regionalleiter abgelöst worden war, immer noch die Frage: Wohin gehen Stiftung und Behindertenhilfe? Mir war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Es war ein Zufall und ein großes Glück, dass wir und auch der Vorstand durch Impulse aus dem Ausland handfeste Beispiele angereicht bekamen, wie man Behindertenhilfe aus einer Anstalt heraus auch anderes organisieren konnte.

Schmuhl: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den ich unbedingt ansprechen wollte in dem Interview. Vorher gehe ich aber noch einmal einen Schritt zurück. War diese sehr angespannte Situation in den 1990er-Jahren ein Hemmnis für die konzeptionelle Weiterentwicklung oder lag darin vielleicht auch umgekehrt Chance? Denn man dachte darüber nach, wie man die kostspieligen Anstaltsstrukturen schlanker machen könnte.

Maas: In der Befassung mit dem Thema, auch bei den Umstrukturierungen – 1994 war das, glaube ich – hat sicher schon die Frage eine Rolle gespielt: Wie könnten wir uns neu aufstellen, neu positionieren, um Strukturen zu entwickeln, die weniger kostspielig sind? Die Anstalt war aber gleichwohl immer noch mitten im Geschäft. Es war noch nicht in den Köpfen drin, zumindest nicht auf den oberen Ebenen dass es das ist, was zur Disposition stand.

Schmuhl: Da kommen wir auf das wichtige Stichwort Impulse aus dem Ausland zurĂĽck. Das ist etwas, das mich brennend interessiert, denn ich glaube, dass diese transnationalen Wechselwirkungen also dass man neue Ideen mitbekam, etwas Entscheidendes in vielen Einrichtungen war. Was hat auf Alsterdorf eingewirkt?

Maas: Es war die Befassung mit einem Europaprojekt, das auf Alsterdorf eingewirkt hat und das mit einem schwierigen niederländischen Titel versehen war, übersetzt „Bürgersein ohne Grenzen und ohne Einschränkungen“. Damit war gemeint, dass Menschen mit Beeinträchtigungen, die in Alsterdorf oder auch in niederländischen oder belgischen Partnerorganisationen leben, nicht nur den Status, den sie bereits rechtlich haben, zugesprochen bekommen, sondern in der Wahrnehmung insbesondere der Gesellschaft und auch der Dienstleister das vollwertige Bürger-Sein mit allen Rechten und Pflichten ohne Einschränkung und nicht mit Einschränkungen nach dem Motto Ja, die müssen aber betreut werden! Nein, alles in vollem Umfang! Das war die Maxime und daran haben wir mit den Vorständen gearbeitet – und ich darf sagen, ich fühlte mich da als Niederländer gut aufgehoben und habe das genossen und betrieben. Wir waren mitten im Prozess und haben das Projekt im Jahr 1999 delektiert und durchbuchstabiert, was es in Bezug auf Reisen nach Holland, nach Belgien und vor allem nach Amerika bedeutete. Wir waren in den Staaten Neuenglands und haben gesehen, wie die das organisierten. Dazu die Worte von Wolfgang Kraft bei der Evaluation in New Hampshire am Ende der Reise: „Jetzt kann keiner mehr erzählen, dass Behindertenhilfe nicht auch anders geht!“ Das war das erste Mal, dass ich von Wolfgang Kraft so etwas hörte. Das war im März 1999 – eine Offenbarung!

Das hieß nicht, dass nach der Rückkehr alles über den Haufen geworfen wurde. Wir legten noch eine Schleife ein und organisierten im Oktober 2000 den Kongress “Community Care“, der nicht nur in der Stiftung für sehr viel Aufruhr sorgte mit Angriffen und Opposition nicht nur durch die Mitarbeitervertretung, sondern auch bei den anderen Anbietern. Ich erinnere mich noch an unschöne Szenen, die sich diesbezüglich abspielten. Aus einer davon will ich zitieren. Es waren Vertreter aus der Diakonie Stetten bei uns und der damalige Leiter sagte mir: „Das ist ja alles wunderbar, was Sie da in Hamburg vorhaben und machen wollen, aber das geht bei uns nicht. Wir haben unser Geld in Mauern investiert und die kann man jetzt nicht abreißen!“ Das war ein sehr bezeichnendes Wort, das deutlich machte, was da auf uns zukommen würde. Danach ging es in Alsterdorf richtig in einer Stromschnelle mit den Veränderungen vorwärts.

Schmuhl: Kurze Nachfrage. Wenn Sie sagen „von Seite der Mitarbeiterschaft gab es auch negative Reaktionen auf dieses Konzept Community Care“, dann war das die Angst um Arbeitsplätze, oder?

Maas: Angst um Arbeitsplätze und um den traditionellen Ablauf. An beides hatte man sich gewöhnt nach dem Motto Das andere kann doch nicht gutgehen! Das war ein Hintergrund und ein anderer immer noch eine gehörige Portion Misstrauen gegenüber all dem, was neu und nicht bekannt war. Ich habe den Kongress damals mit anderen moderiert, geleitet und vorher organisiert. In einer Sitzung war ich mit der Mitarbeitervertretung konfrontiert, die ganz hinten im Saal stand und unbedingt das Wort haben wollte. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, aber ich habe das Wort nicht erteilt. Es war keine Glanznummer meinerseits als Moderator. Michael Wunder saß neben mir und wir haben es nicht zugelassen. Als die Mitarbeitervertretung mich hinterher darauf angesprochen hat und sagte, dass sie das unmöglich fand, habe ich erklärt, warum das in diesem Moment nicht dran war. Die haben es nicht akzeptiert, aber es ist so geschehen. Das war nicht offener, aber fast offener Widerstand.

Kutzner: Wie hat sich die Situation dann verbessert?

Maas: Sie hat sich so verbessert, dass mit dieser Positionierung, dass man Menschen mit Behinderung – ich sag das jetzt mal so in Ihre Richtung – nicht unbedingt immer nur in einer Sammelunterkunft einer Anstalt zusammenbringen muss, wo sie dann wohnen, zu Arbeit gehen, zur Schule gehen, zur Kirche gehen, essen, trinken und ihre Freizeit genießen usw., sondern dass sie wie jeder andere Bürger irgendwo wohnen, wo sie es möchten, in der Stadt, auf dem Land, und ihre Freizeit auch so verbringen können, wie es andere gerne machen möchten und am liebsten auf dem Ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Das gelingt leider nicht immer total aber doch in der Form, dass sie dort angedockt sind. Das hat sich wesentlich verbessert. Davon ist vieles realisiert worden, das kann man sagen.

Ich denke, wenn man in Ihre Richtung auf die Arbeitsangebote von alsterarbeit schaut, wohin die gehen und wonach die sich richten, dann sieht man die Veränderung sehr deutlich. Das ist eine Verbesserung.

Wir haben die Veränderung weiter mit Kongressen belegt. Mein Impetus war, zu sagen: Sorgt dafür, dass nicht hinterher gesagt wird Wo hast du das alles her? Das ist ja alles Quatsch! Wir haben sehr schön dafür gesorgt, dass alles, was wir tun, national und international betrachtet und anerkannt wird und dass gesagt wird: Das ist der neue Weg, den wir gehen können! Und den sind wir gegangen.

Schulz: Kannst du beschreiben, an welcher Stelle der Hebel umgelegt wurde von rückständiger Anstalt zu modernem Dienstleistungsunternehmen in der Behindertenhilfe – so hast du das vorhin formuliert? Gab es einen Zeitpunkt, wo das aus deiner Perspektive feststellbar ist?

Maas: Ich meine – und da bin ich nicht bescheiden, das gebe ich zu –, dass die Konfrontation, denn das war es mitunter, auf jeden Fall die ausführlichen Gespräche, das Ansehen der Beispiele mit vor allen Dingen auch den niederländischen Kollegen, die eine sehr angenehme, freundliche und überzeugende Art und Weise hatten, ihr neues Konzept von Community Care darzustellen und zur Sprache zu bringen mit unseren beiden Vorständen, Rolf Baumbach und Wolfgang Kraft, flankiert von den belgischen Kollegen, dass das bei den beiden Alsterdorfern den Hebel umgelegt hat oder zumindest, wenn er vorher so stand [hier zeigt Herr Maas seine senkrecht aufgestellt Hand] dann jedenfalls so weit, wie es jetzt bei den Meinungsumfragen ist [die Hand geht neigt sich weit zur Seite]. Da war klar, dass wir das auch anders machen konnten. Rolf Baumbach, als heimlicher Architekt, war sowieso schon auf dem Weg, das Ganze neu zu gestalten. Aber die Inhalte fehlten immer noch! Und jetzt waren sie da. Und damit war die Sache durch!

Schulz: Was hatte das für einen Einfluss auf die Vision vom Alsterdorfer Markt und auf die Entscheidungsträger? Hatte das einen Einfluss?

Maas: Das würde ich nicht so sagen. Ich würde vorsichtig formulieren – übrigens eine gute Frage, Reinhard, danke! –, dass das ein Alsterdorfer Eigengewächs ist, fairerweise gesagt mit Hilfe des Bezirksamtes Nord und mit der Architektenschule in Nord. Da saßen diejenigen, die eine Fantasie entwickeln konnten von dem, was mal in Alsterdorf werden könnte. Das war ganz bestimmt nicht aus dem Ausland importiert! Wolfgang Kraft hat immer dafür gesorgt, dass von einer „reziproken Integration“ gesprochen wird – ein schwieriger Begriff, was meinte nicht nur wegziehen, sondern die anderen auch heranziehen!

Schmuhl: Ich hatte schon vor ein paar Jahren das Glück, von Ihnen einen Vortrag zu hören, bei dem es um den Alsterdorfer Markt ging. Den habe ich mir zur Vorbereitung des Gespräches noch einmal herangezogen. Darin erwähnen Sie auch, dass die Pläne von der Leitungsebene Alsterdorfs in Verbindung mit der Stadtentwicklungsbehörde ausgingen. Sie sagen darin, dass die Wünsche der Bewohner und Bewohnerinnen nicht so impulsgebend waren, sondern dass das ein Konzept eher von oben herab wäre, und dass auch die Mitarbeitenden erst einmal nicht gefragt worden seien. Wie erklären Sie sich, dass das top-down gelaufen ist?

Maas: Einerseits ist das richtig, so war es meiner Wahrnehmung nach damals wie heute. Das ist nicht eine Entscheidung, die durch Füße-Trampeln und Protest von der Basis, gerade auch nicht von der Mitarbeitervertretung gekommen ist. Auf der anderen Seite lag auch da, sag ich mal, schon der Knüppel beim Hund, denn es war uns klar, dass diese Angebote, die wir z. B. mit dem Carl-Koops-Haus vorhielten, relativ neu waren, aber die Angebote am Markt nicht mehr nachgefragt wurden. Die waren nicht mehr gewünscht. Die jungen Eltern mit Kindern mit Beeinträchtigung, fragten solche Angebote nicht mehr ab. Die wollten etwas anderes. Das begriff Alsterdorf mit der Zeit. Dann blieb natürlich die ungelöste Frage: Was passiert um Himmels Willen mit dem Alsterdorfer Gelände? Das wurde dann überplant und neu bestimmt. Ich bleibe dabei, dass das ein Konzept ist, das top-down gemacht wurde.

Schmuhl: Dann ist dieser Apartment-Komplex Alstergärten gebaut worden.

Maas: Später.

Schmuhl: Später. War das ein Bruch mit diesem Konzept oder war das eine sinnvolle Ergänzung?

Maas: Vielen Dank für die Frage. Das sind Vorlagen wie man sie gerne hat. Vor einigen Jahren, weil ich Zeit hatte, – das ist jetzt schwierig, was ich sage, das muss aber auch in das Archiv – bin ich eine halbe Stunde lang über das Gelände gegangen und habe mir angeguckt, was da neu entstanden ist, unter anderem auch die Wohnungen und noch andere Dinge. Es ist mir aufgefallen: Wir waren einmal eine konzentrierte Anstalt für Menschen mit Behinderungen und ihren Bedürfnissen, haben das aufgelöst und beendet und etwas anderes gemacht. Dann dachte ich: Siehe da, es geschehen doch viele Dinge, die in neuer Form aus dieser früheren Zeit zurückkommen, aber doch wieder erkennbar als Hier ist etwas anders, Hier sind Menschen mit besonderen Fragen und Anforderungen zu Hause. Das gilt für die Sporthalle genauso wie für diesen Wohnkomplex. Es war schon früher so, dass ich bei den vier Wohnblocks, die in 2002 gebaut wurden, innerlich und auch in meinen Äußerungen rebellierte, aber da war nichts zu machen. Also es ist, meiner Meinung nach, überhaupt kein ideologisch reiner Weg gegangen worden. Das geht auch nicht, nicht mitten in Alsterdorf!

Kutzner: Wie sehr hat die Entstehung des Alsterdorfer Marktes den Menschen [mit Behinderung] die Freiheit gebracht?

Maas (überlegt länger): Danke. Jedenfalls die Freiheit, dass sie – in meiner Wahrnehmung das erste Mal in Alsterdorf – sich mit einer Frage befassen konnten, durften und sollten, nämlich mit der Frage: Wie willst du dein Leben in Zukunft gestalten? Und es gab mehrere Möglichkeiten, die Stadt Hamburg mit den Stadtteilen, mit anderen zusammen oder alleine, oder in Alsterdorf auf dem Gelände selbst. Insofern kann man sagen, dass das schon ein gutes Stück Freiheit war. Die Sorgen, die einige Mitarbeitenden in Bezug auf den Prozess hatten, dass die schon 60-, 70-, 80-Jährigen – eine Person war sogar 90 Jahre alt – das gar nicht können würden, wurden schnell zerstreut. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Dame, die 70 Jahre in Alsterdorf gelebt hatte und dann nach Harburg zog und dabei ein gewisses Unwohlsein hatte. Als sie mal wieder in Alsterdorf war, sprach ich sie an, wie es denn ginge, und sie antwortete: „Ich bin hier nur zu Besuch!“ Mit anderen Worten: Behaltet mich bitte nicht hier! Ich bin froh, dass ich jetzt in Harburg wohne! Das war ein Stück Freiheit!

Das ist durchaus objektiv so. Auch wenn die Situation in den Stadtteilen bestimmt nicht nur rosig ist, ist das ein StĂĽck wiedergewonnene Freiheit eines mĂĽndigen BĂĽrgers.

Schulz: Drei Jahrzehnte Alsterdorf. Wenn du jetzt zurückschaust und noch mal von dem damaligen Personalberater die Frage käme Herr Theodorus Maas, wollen Sie in der Stiftung anheuern und dort tätig werden? wie würdest du mit deiner Kenntnis von heute darauf antworten?

Maas: Ich würde sofort Ja sagen mit der Erkenntnis von heute aus mehreren Gründen. Ich war vom ersten Tag an, meinem Naturell entsprechend, in Alsterdorf immer daran interessiert, Kontakt nach draußen zu haben. Und das war in Alsterdorf ohne jede Einschränkung möglich. Der VEMB hatte Arbeitsgruppen, hatte Reisemöglichkeiten, hatte Kontaktmöglichkeiten zu anderen Einrichtungen und das habe ich weidlich ausgenutzt. Das war für mich ein reiner Gewinn! Der zweite Gewinn war der so intensive Umgang mit Menschen mit Behinderung, den ich vorher im Heim und auch im Blindenjungendheim durchaus auch hatte, aber nicht in diesem Umfang, in dieser Intensität in dieser Varietät, begleitet von den vielen Kollegen und Kolleginnen, die das gemacht haben. Der dritte Gewinn war, dass Alsterdorf ein Fundus ist an Wissen, an Können und ein Schatz, der bis dahin nicht gehoben worden war, aber allmählich zum Vorschein kam und dann auch exportiert wurde. Und das ist gut! Das sind drei schnelle Antworten.

Für mich als Theologe und Kollege von Hans-Adolph Giese, auch ein Theologe, war es so, dass ich miterleben durfte, dass ich die Philosophie und Theologie, die ich 16 Semester in Nijmegen „inhaliert“ hatte, in Alsterdorf auch noch einmal nachgefragt wurde, und zwar durch Rolf Baumbach und auch durch Rudi Mondry, aber bei ihm weniger. Rolf Baumbach hatte immer Spaß an einem knackigen, aber doch sinnvollen Austausch über katholische Theologie.

Schulz: Wie diakonisch kann eine moderne Form von Eingliederungshilfe eigentlich sein? Gibt es in der Modernität einen Raum für Diakonie?

Maas: Das zu definieren ist eine Aufgabe von Diakonie und Theologie. Das ist etwas, mit dem ich mich jetzt auch philosophisch befasse. Aber darauf habe ich keine schnelle Antwort.

Wenn man an Sokrates denkt und liest, was man von einem guten Bürger, der sich in ’s Gemeinwesen einbringen will, erwarten kann, nämlich dass der weise, mutig, besonnen und gerecht ist, dann sind damit vier Kategorien aufgezählt, die nicht unbedingt nur die diakonischen sind, das kann man nicht sagen, aber sie enthallten Räume, in denen die Diakonie sich betätigen kann und muss, wenn sie sich gedanklich und inhaltlich dieser Frage stellt.

Dafür gibt es keine Antwort, die mal eben so gegeben wird. Ich habe bei der Frage der Entwicklung von Leitbildern immer gesagt: „Leute, das Leitbild ist nicht etwas, das wir zu zehnt produzieren und dann liegt es in der Schublade. Es ist etwas, das du ständig bearbeiten musst, das ständig behandelt werden muss. Und genauso ist diese Frage zu beantworten. Die Diakonie ist kein irgendwie gearteter Zustand. Sie ist ein Tun! Das würde ich als Antwort geben. Die Frage ist nicht abschließend zu beantworten, aber ich sehe sehr wohl viele Möglichkeiten dafür.

Kutzner: Ich hätte noch eine Frage, und zwar: Wie stehen Sie jetzt zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf?

Maas: Sie lassen auch kein Näpfchen aus! Ich habe ganz eindeutig Abstand gewonnen und das liegt nicht nur an der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, denn die haben mich ordentlich behandelt, das kann man so sagen. Ich habe nicht gelitten – natürlich habe ich auch irgendwie gelitten, damit wir uns nicht falsch verstehen –, nein, in toto bin ich sehr glücklich mit ihr gewesen. Das ist das eine.

Das andere ist, dass ich ein Großvater von vier Enkeln bin und ein großes Haus mit Garten habe. Sie glauben gar nicht, wie schön es ist, wenn man sich auch damit befasst! Es muss nicht Alsterdorf sein!