04 / 1989 – Interview mit Dr. Rainer Tschechne und Eckart Drews

Teilnehmende

Dr. Rainer Tschechne

Eckart Drews

Nico Kutzner

Reinhard Schulz

Transkription

Kutzner: Guten Tag. Ich bin Nico Kutzner. Herzlich willkommen zu dieser Gesprächsrunde! Wenn Sie sich bitte vorstellen mögen.

Tschechne: Mein Name ist Dr. Rainer Tschechne. Ich bin Lehrer, Musikwissenschaftler und klinischer Psychologe und seit 1979 in der Stiftung Alsterdorf tätig.

Drews: Ich bin Eckart Drews, Pastor und Sozialpädagoge, und seit 1989 in der Stiftung.

Schulz: Ich bin Reinhard Schulz, organisiere das Projekt „Vierzig Jahre Eingliederungshilfe-Dokumentation in der Stiftung Alsterdorf“ und freue mich sehr, dass wir im Rahmen dieser Projektarbeit mit Ihnen beiden heute das Gespräch führen dürfen. Herzlich willkommen!

Kutzner: Wie war das damals in der Stiftung ab 1980?

Tschechne: Ich hatte einen sehr interessanten Einstieg in die Stiftung. Als ich von der Uni kam, war ich Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes, war also fĂĽr die Hochschullaufbahn vorbereitet. Durch Zufall lernte ich damals den Personalchef, Herrn Heine, kennen und der sagte mir: Kommen Sie zu uns! Ich gebe Ihnen alles, was Sie haben wollen. Ich sagte mir: Das probiere ich mal aus. Seitdem bin ich in der Stiftung Alsterdorf.

Kutzner: Wie war das bei Ihnen damals? [gemeint ist Herr Drews]

Drews: Seinerzeit hatte ich als Pastor drei Möglichkeiten nach dem Motto: Wo versteckt man Jemand so auffälligen wie den Drews? Ich hätte nach Tansania gehen können als Missionar. Ich hätte Pastor auf Helgoland oder in Alsterdorf werden können. In Alsterdorf gab es noch eine alte Krankenhaus-Seelsorgestelle im damaligen Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus. Weder die Landeskirche noch ich, wussten, dass es dabei um eine Stelle in der Psychiatrie ging. Man hielt es damals für ein ganz normales Krankenhaus für Menschen, die mit einer Behinderung lebten. So kam ich ohne jegliche Vorstellung nach Alsterdorf und landete in der Psychiatrie.

Kutzner: Wie waren die Zustände damals in der Stiftung?

Tschechne: Ich war zum ersten Mal in einer Psychiatrie. Zu meinem Dienstbeginn musste ich als Psychotherapeut einen weißen Kittel anziehen und wurde dann mit den Ärzten und anderen Psychologen auf der Station herumgeführt. Die Stationen bestanden aus Mehrbett-Zimmern mit in der Regel mindestens sechs Betten und aus Wachsälen, in denen teilweise 20 Menschen lagen, die man nicht alleine lassen wollte. Oberhalb des Wachsaales war ein Fenster, hinter dem jemand vom Personal saß, der das Ganze beaufsichtigte und im Blick hatte. Unter diesen Bedingungen haben die psychisch Kranken dort gelebt.

Kutzner: Wie haben Sie diese Situation damals empfunden? [zu Herrn Drews]

Drews: Ich kam 10 Jahre später. Da gab es noch Frauenbadetage und Männerbadetage, Schlafsäle gab es nicht mehr, aber Sechsbett-Zimmer waren regelhaft. Neben all dem, was aus heutiger Sicht zu kritisieren ist, war aber auch deutlich zu sehen, zumindest im Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus in Bargfeld-Stegen, dass die Menschen, die dort arbeiteten, versuchten, für die Patienten und Patientinnen das Beste zu tun. Im Nachhinein wissen wir nicht, ob das gelungen ist, denn die Strukturen waren so, dass eine individuelle Behandlung und Therapie kaum möglich und seinerzeit auch noch nicht „auf dem Schirm“ waren. Das waren Menschen, von denen man einfach dachte: Unterbringen! Dafür war die topographische Lage des Heinrich-Sengelmann-Krankenhauses gut geeignet. Die Erstbelegung – das wirst du [Herr Tschechne] viel besser wissen – war quasi für die austherapierten Patient*innen aus Ochsenzoll, wobei „austherapiert“ ein Wort ist, das man hoffentlich heute noch nicht mal mehr denken würde. Aber seinerzeit war das der State of the Art.

Schulz: Wieviel von den Alsterdorfer Anstalten war im HSK zu finden? Das HSK war räumlich woanders, ähnelte es dennoch den Anstalten oder war es möglicherweise genauso?

Tschechne: Ich muss dazu sagen, dass ich die Anstalten nicht kannte, als ich dort anfing. Es war zumindest eine von den Unterbringungen wie es sie wahrscheinlich innerhalb der Anstalten noch gab. Die Art des Umgangs mit den psychisch-Kranken war allerdings anders, weil sie in erster Linie von der Medikamenteneinnahme geprägt war. Das, was Du [Eckart Drews] gesagt hast, kann man noch ein bisschen differenzieren. Es war so, dass je weiter es mit der Qualifikation [der Mitarbeitenden] nach unten ging, desto bemühter, desto menschlicher waren die Mitarbeitenden. Je weiter es nach oben ging, desto mehr nahm das ab.

Es gab schon auch eine therapeutische Differenzierung. Als ich ungefähr ein halbes Jahr da war, wurden mir sämtliche Beschäftigungs-, Ergo- und sämtliche Arbeitstherapien übertragen; damals gab es das alles noch. Das heißt, es gab eine Reittherapie, eine Weberei, eine Gärtnerei, es gab die sogenannte Arbeitstherapie, die sich in nichts von der Arbeit in Gefängnissen unterschied. Es gab Bewegungstherapie und Physiotherapie. Und es wurde auf der rein medizinisch-organischen Ebene zusätzlich zur Medikamentengabe versucht, den Leuten zu helfen.

Kutzner: Wie kamen diese Therapieformen bei den Klienten an?

Tschechne: Die Therapien waren eine Selbstverständlichkeit im Klinikalltag. Jemand, der in das Krankenhaus kam und in der Lage war, aus dem Haus zu gehen, der wurde von den Ärzten in eine der Therapien eingeordnet. Das war auch so ein bisschen frauentypisch und männertypisch. In der Weberei z. B. waren nur Frauen, in der Töpferei war dann vielleicht einmal ein Mann dabei. Es wurde auch geguckt, welche Fähigkeiten ein Mensch hatte, so dass er darüber kleine Erfolgserlebnisse generieren konnte. Das war der Hintergrund. Man wollte, dass die Leute, die sich betätigten, auch das Gefühl hatten, dass sie etwas sinnvolles machten und in irgendeiner Weise einen Erfolg hatten, denn es waren häufig Menschen, die an verschiedenen Stellen im Leben mit ihrem Bemühen, etwas zu erreichen, gescheitert waren und die dann wieder etwas aufgebaut werden sollten.

Drews: Vielleicht noch einmal zur Frage: Wieviel Alsterdorf war im HSK? Relativ wenig. Denn es war wirklich ein Krankenhaus am Rande der Stadt, das sehr bemüht war, eine eigene Identität aufzubauen und das sich viele Jahre sehr deutlich um Abgrenzung von Alsterdorf bemüht hatte nach dem Motto Wir sind die Sengelmänner, da sind die Alsterdorfer! So gesehen war natürlich der funktionale Einfluss von Alsterdorf immer da, aber es gab durchaus viele Möglichkeiten, für dieses Gebilde Krankenhaus auch eigene Strukturen und eigene Inhalte zu schaffen.

Schulz: In den bundesdeutschen Themen der Eingliederungshilfe hatten wir in den 1980er- und 1990er-Jahren Überschriften wie Normalisierung, Integration oder Teilhabe. Nun geht es hier primär um das Thema Krankenhaus und letzten Endes auch um die Frage: Wie entwickelte sich das sozialpsychiatrische Angebot? Welche Rolle spielten diese Begriffe, die ich eben genannt habe, in den Kontexten, in denen Sie damals unterwegs waren?

Tschechne: Der Begriff Teilhabe spielte keine Rolle. Wir hatten den Begriff Antipsychiatrie und das Schlagwort Befreiung der Patienten aus den Krankenhäusern. Das Ganze war natürlich in Richtung Teilhabe gedacht, aber diese Begrifflichkeiten haben wir im sozialpsychiatrischen Kontext eigentlich nicht geführt.

Schulz: Worin bestanden die konzeptionellen Überlegungen, als Sie 1989 den Auftrag bekamen, ein betreutes Wohnen aufzubauen. – Gestern hatte ich Ihnen das Protokoll dazu geschickt.

Tschechne: Das war nicht so, dass ich den Auftrag bekam, sondern es war so, dass ich nach der Zeit im Krankenhaus mit einigen Kollegen auf den Stationen zuerst eine Psychotherapie-station aufbaute. Der Aufbau der Psychotherapiestation dauerte Jahre, denn es gab sehr viele Widerstände von Seiten der Ärzteschaft, die der Meinung war, dass die Medizin im Klinikkontext führend sein müsste und die Psychotherapeuten Aufträge ausführen, sich aber nicht selber mausig machen sollten.

Wir haben es dann geschafft, uns durchzusetzen. Interessanterweise war es bezüglich dieser Abgrenzung des Sengelmann-Krankenhauses gegenüber Alsterdorf so, dass alles das, was wir im Krankenhaus durchsetzen wollten, wir mit Hilfe des Alsterdorfer Vorstandes durchsetzten. Wir hatten das große Glück, dass der Alsterdorfer Vorstand nicht ärztlich besetzt war, dass er aber in das Sengelmann-Krankenhaus hineinregieren konnte. Mit seiner Hilfe bauten wir eine Psychotherapiestation auf, haben dann im Laufe der Zeit aber gemerkt, dass wir zwar ein bisschen verändern konnten – wir schafften zum Beispiel als erstes, die weißen Kittel ab –, aber die Struktur des Krankenhauses konnten wir natürlich nicht verändern.

Dann gingen wir sozusagen zum Angriff über und entwickelten Konzepte zur Frage, wie man die Menschen aus dem Krankenhaus nach Hamburg reintegrieren könnte. Hierzu habe ich Verbindung mit der Hamburger Behörde aufgenommen. Erst als ich wusste, dass das dort auf Resonanz traf, ging ich zum Alsterdorfer Vorstand und sagte: Wir wollen das und das und das! Der Alsterdorfer Vorstand, sprich Herr Mondry damals, hat mir dann geholfen, das umzusetzen und gegen den erbitterten Widerstand des Krankenhauses durchzusetzen.

Drews: Darf ich das fortsetzen?

Schulz: Gerne!

Drews: Ich kam genau dann, als Du gewechselt hast (mit Blick zu Dr. Tschechne). Das Thema Auszug von Patient*innen in den Sozialraum war mir im ersten Jahr im HSK nicht begegnet. Das wurde totgeschwiegen. Wenn hinterher darüber geredet wurde, merkte man eine tiefe narzistische Kränkung nach dem Motto Der hat uns die Patienten weggenommen!

Und um auf deine Frage zu antworten (mit Blick auf Reinhard Schulz), Fragen nach Inklusion, Sozialräumlichkeit, Teilhabe fanden in der Medizin nicht statt, denn nach der Denke dort waren dies alles letztlich Begriffe aus der Sozialpsychiatrie oder aus der Behindertenhilfe. All diese Menschen waren für die Mediziner im Krankenhaus genauso eine narzistische Kränkung. Der überwiegende Teil der seinerzeit Handelnden – überwiegend Ärzte – dachte: Unser Auftrag ist es, zu heilen. Wir [aus der Sozialpsychiatrie] haben diese Ärzte in dem Moment mit den Heilungsverlierern konfrontiert. All diese Begriffe, die Du [Reinhard Schulz] gerade ansprichst, beziehen sich auf Menschen, die gerade nicht geheilt werden konnten, sondern die chronifiziert als Heilungsverlierer in die Gesellschaft reintegriert bzw. inkludiert werden sollen, aber noch einmal: Normalisierung hieß für die Medizin „Heilung“ und wir waren diejenigen, die die Medizin in dem Moment immer wieder mit diesen lästigen Heilungsverlierern konfrontierten. Da war es häufig so, dass wir natürlich auch den anderen Patient*innen, für die noch Aussicht auf Heilung bestand, vor Augen hielten, was noch mit ihnen passieren könnte. So gesehen waren auch die nicht sonderlich beliebt in diesen klinischen Bezügen.

Schulz: Wie kam es dann zur Umsetzung dieses „Projektauftrages“, wenn man überhaupt von Auftrag sprechen kann?

Tschechne: Ich will das noch mal ergänzen. Damals, als ich den Auszug aus dem Krankenhaus vollzog, habe ich mehrere Krankenpfleger und Krankenschwestern mitgenommen, die vorher auf der Psychiatriestation gewesen waren und der gleichen Überzeugung waren wie ich. Wir alle hörten von der damaligen Krankenhausleitung: Kommt niemals auf die Idee, nach hierher wiederkommen zu wollen! Es war also klar, wenn das scheitern würde, hätten wir kein Land mehr dort gesehen und unser Job wäre weg gewesen. Das war die klare Aussage. Dahinter stand nicht nur böser Wille, sondern dahinter stand auch die langjährig eingeprägte Auffassung: Die armen Menschen, die psychisch Kranken müssen hier aufbewahrt, vor der Welt beschützt werden, und diese Revoluzzer nehmen sie jetzt und setzen sie den Gefährdungen der Welt aus und wissen überhaupt nicht, was sie tun. Es gab teilweise wirkliches Entsetzen. Das war aber ein bisschen gepaart mit dem, was in der Medizin und damals in der custodialen Psychiatrie immer dran war, nämlich ein von oberster Stelle ausgehend, eingefleischtes Profitstreben. Dieses Profitstreben war natürlich sehr leicht zu befriedigen mit Menschen, die auf Dauer in dem Krankenhaus waren, so dass von mehreren Seiten einerseits aus Überzeugung andererseits aus Verarmungsängsten heraus diese Idee bekämpft wurde.

Die Umsetzung kam dann so zustande, dass ich, nachdem ich grünes Licht vom Alsterdorfer Vorstand erhalten hatte, anfangen konnte, mit der Hamburger Sozialbehörde zu verhandeln. Die Verhandlung richtete sich danach, dass wir 21 Klient*innen aus dem Krankenhaus „befreien“ wollten und die Behörde für diese die ambulante Betreuung und auch die ganze Wohnsituation qua Sozialhilfe finanzieren sollte. Aber die Behörde wünschte natürlich, dass im Gegenzug auf der Seite des Krankenhauses die Betten tatsächlich abgebaut wurden.

Das war für das Krankenhaus ein sehr schwerer Brocken, den man schlucken musste. Den hatte ich aber auch mit dem Alsterdorfer Vorstand schon gesichert und das Krankenhaus kam dann auf die schlaue Idee, zu sagen: Wenn wir 21 Betten nach Hamburg verlieren, dann gucken wir jetzt im Kreis Stormarn und im Kreis Schleswig-Holstein, ob wir die von dort wieder herkriegen. Das ist ihnen perspektivisch gelungen und dadurch war es überhaupt nur möglich, eine Zustimmung für das ganze Projekt zu bekommen.

Schulz: Nachdem Sie [gemeint Rainer Tschechne] mit den damaligen Langzeitpatient*innen aus dem Krankenhaus weggegangen sind, kam Eckart Drews zum Zuge. Wie war die Weiterentwicklung Stormarner Feld, denn Sie [Rainer Tschechne] haben jetzt gerade beschrieben, dass es mit ehemaligen Hamburgern wieder zurĂĽck nach Hamburg ging, und zwar offensichtlich in ambulante Wohnformen, z.B. mit dem Betreuten Wohnen Winterhude. Das noch als Zusatz.

Tschechne: Wir hatten eine Zentrale, in der die Mitarbeiter *innen versammelt waren. Es gab eine Kommen- und Gehstruktur, d. h. es war einerseits möglich, die Klient*innen in ihrer eigenen Wohnung aufzusuchen, andererseits hatten wir einen Raum, in dem sie sich täglich versammeln konnten und auch sollten. Es war damals schon sehr schwierig, die Klient*innen mit Wohnungen zu versorgen. Eine mit uns befreundete Wohnungsbaugesellschaft, die Wichernbau-Gesellschaft, hat uns sehr geholfen und ermöglichte, dass wir wirklich jeden, den wir aus dem Sechsbett-Zimmer „befreit“ hatten, in seine eigene Wohnung bringen konnten. Das war der Hauptheilungsfaktor.

Schulz: Herr Drews wollte noch kurz auf meine Frage antworten. [zu Herrn Kutzner, der zur nächsten Frage ansetzt]

Drews: Wiederholen Sie die bitte noch einmal!

Schulz: Wie gings dann weiter, nachdem Herr Tschechne ausgezogen war?

Drews: Gar nicht!

Schulz: Was passierte dann im HSK?

Drews (überlegt länger): Restauration nach dem Motto Die Störenfriede sind weg! Wir sind sie los! Aufbau eines außerklinischen Netzwerkes? Auf keinen Fall! Dahinter steckte die Geschäftsidee: Wir sind das Krankenhaus, wir sind ein eigenes relativ geschlossenes System, die Leute kommen zu uns, machen bei uns mit, werden von uns versorgt und dann wird es ihnen schon irgendwann durch unsere Expertise besser gehen. Diese Geschäftsidee war nicht nur ungebrochen, sondern wurde noch verstärkt. Denn jeder dort erwartete, dass das Projekt schiefging. Ich erkannte irgendwann, dass Stormarn nahezu der einzige Kreis in Schleswig-Holstein ohne irgendwelchen sinnhaften außerklinisch-sozialpsychiatrischen Angebote war. Das heißt, wenn wir Jemanden weiterverweisen, weiterbetreuen mussten, eine Anbindung suchten, stand das Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus vor der Frage: Entweder in andere Kreise verlegen – damit waren wirtschaftlich gesehen die Patienten aufgrund der Regionalversorgung als Prinzip weg– oder man suchte für 20- oder 25-jährige Patient*innen Plätze in einem Pflegeheim. Das war seinerzeit der Stand der Dinge.

Ich wurde irgendwann – ich bin auch Sozialarbeiter – für den Krankenhaussozialdienst zuständig und merkte plötzlich, dass sich bei uns Klient*innen sammelten mit verschiedenen, aber oft auch gemeinsamen Diagnosen, für die wir im Kreise Stormarn keinerlei Angebote hatten. Es hieß also „Hausarzt“ oder „Pflegeheim“. Ich hatte jemanden für die Therapie, Bernhard Wede – das war dein Nachfolger [zu Rainer Tschechne] –, der diese Idee Hier muss doch etwas passieren! schon mal hatte. Der konnte sich damit aber nicht durchsetzen.

Die ersten Wohnangebote in Stormarn, ambulantes Wohnen oder stationäre Wohngemeinschaften, entstanden in den Jahren 1999, 2000 und 2001, d. h. 10 Jahre nachdem du [Rainer Tschechne] weg warst. 10 Jahre hat diese Kränkung Wir sind die Heiler und nicht die Dilettanten da draußen! angehalten. Ich musste einiges an Überzeugungsarbeit leisten, um deutlich zu machen: Wir haben hier eine Riesenversorgungslücke und, liebe Leute, ihr habt ein großes wirtschaftliches Problem! Denn alle Klienten, die wir fachgerecht an einem anderen Ort weiteranbinden, sind aus Stormarn weg!

Irgendwann hat dieses Argument gezogen. Ich habe dann gesagt: Ihr müsst mir nur die Möglichkeit geben, in Stormarn Häuser und Wohnungen anzumieten und Personal zu akquirieren. Ich sage euch die Verlegung zu! – Als Leiter des Sozialdienstes saß ich genau an dieser Schnittstelle für Verlegung. Ich konnte denen sagen: Soviel Suchtkranke, soviel Doppeldiagnosen, soviel chronische Psychosen haben wir, die wir weiterversorgen müssen, wenn wir sie, bitte in Stormarn, halten wollen! Und ich konnte sagen: Dies ist eine Investition, die risikolos ist, denn ich sichere euch an dieser Schaltstelle sofort eine Vollbelegung zu.

Dann hat man mich sogar – wie dich [Rainer Tschechne] auch, denn die wollten es nicht selber tun – in Verhandlungen mit den entsprechenden Behörden geschickt. Diese liefen sehr gut – SPD-Regierung mit Engholm seinerzeit in Schleswig-Holstein, die versuchte die Psychiatrie in Schleswig-Holstein voranzubringen. Schleswig-Holstein mit seiner Psychiatrie war ungefähr so rückständig wie Bayern. Von daher mieteten wir wirklich Häuser an oder kauften sie auch und bauten eine Versorgungsstruktur auf, hochgradig misstrauisch von der Klinik beäugt nach dem Motto Das könnt ihr doch nicht zulassen! Ihr müsst sie doch mehr schützen! Die Frage, welche Ressourcen Menschen haben, interessierte die Medizin nicht wirklich, sondern deren Frage war die nach den Defiziten, die sie bearbeiten mussten. Das war eine völlig andere Betrachtungsweise.

Aber sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Resonanz waren gut und so gesehen hat man mit zehnjähriger Verzögerung das gewagt, was man vorher mit Händen und Füßen abgelehnt hatte. Friktionsfrei war das nie, konnte es auch nicht sein. Es war ein „Alsterdorfer Krieg“ zwischen Pädagogen und Medizinern.

Schulz: Ein Krieg, der offensichtlich, was das HSK anging, zeitverzögert abgelaufen zu sein scheint. Was du schilderst, war möglicherweise in den klassischen Anstalten schon zu Zeiten, als Dr. Tschechne antrat, eine Kontroverse, die relativ früh auf eine Entscheidung für pädagogisches und nicht auf medizinisches Personal hinauslief.

Tschechne: Das war die Zeit, wo das Umdenken in ganz Europa anfing, in der Basaglia und ähnliche Namen schon Furore gemacht hatten, und in der dieses Denken auf Deutschland überschwappte. Man kann nicht sagen, dass das HSK besonders rückständig war. Das HSK hatte die Struktur, die die Psychiatrien damals alle hatten, wobei natürlich was deine Überlegung [ Eckart Drews] zu den Diagnosen angeht, zu denen du dann gesagt hast Die können doch alle raus, die müssen doch hier nicht bleiben! ist zu sagen, dass es mir 10 Jahre vorher schon so gegangen war. Denn in die Psychiatrie kamen z. B. solche Menschen, die ein einziges Mal einen Suizidversuch in einer Ehekrise gemacht hatte. Die blieben ihr Leben lang in der Psychiatrie. Es gab ähnliche Fälle, bei denen aus einem Ereignis, aus einem ersten traumatischen Ereignis, aus einem psychotischen Erlebnis heraus jemand in die Psychiatrie kam und sein Leben lang in der Psychiatrie blieb. Das war damals schon zu sehen, als ich mit den 21 Klienten ausgezogen bin. Deswegen war ich auch so sicher, dass das funktionieren konnte, wenn man sie ein bisschen psychotherapeutisch begleiteten würde.

Aber das war damals noch genauso. So war die Situation der Psychiatrie. Man muss sagen, inzwischen ist in der überwiegenden Zahl der Psychiatrien, die hier in Deutschland existieren, und auch bei der überwiegenden Zahl der Mediziner, die auf diesem Gebiet tätig sind, eine ganz andere Art von Denken eingezogen. Es gibt niemanden mehr, der die Notwendigkeit komplementärer Betreuung bestreiten würde, sondern im Gegenteil, sie [die Mediziner] suchen selber danach und betätigen sich darin.

Das war damals die Situation. Wenn man in die Psychiatrie kommt, dann Jemanden sieht, der z. B., nachdem sich seine Frau von ihm getrennt hat, einen Suizidversuch gemacht hat und mit dem niemand mehr darüber redet, bei dem niemand versucht, das Trauma aufzuarbeiten, sondern der dann mit Medikamenten versorgt wird und natürlich immer mutloser und immer schwächer wird, dann sagt man selbstverständlich: So kann das nicht gehen! Da muss war passieren!

Kutzner: Wie haben die Klient*innen bzw. Patient*innen den Auszug wahrgenommen?

Tschechne: Das war sehr erfreulich und sehr schön. Es war so, dass die Klienten nacheinander immer dann, wenn sie bereit waren, eine Wohnung angeboten bekamen. Sie konnten die Wohnung betrachten und konnten das erste Mal in ihrer gesamten Klinikkarriere während ihrer gesamten Krankheit die Tür hinter sich zumachen und selber bestimmen, wer mit ihnen zu tun haben sollte. Sie durften sich selbst die Einrichtung für die Wohnung aussuchen in dem Rahmen, in dem die Sozialhilfe das bezahlte – das war aber gar nicht so schlecht. Dadurch war es so, dass von denjenigen, die die Möglichkeit hatten, auszuziehen und in die eigene Wohnung zu kommen, 90 Prozent der Leute wirklich glücklich waren. Wir saßen in unserem „Stützpunkt“ und erlebten, dass sie morgens zu uns kamen und einer von ihnen sagte einmal: Ich bin jetzt eine halbe Stunde vor dem Fotogeschäft stehengeblieben und habe mir die Fotos angeguckt. So etwas konnte ich in den letzten 20 Jahren nicht mehr machen! Solche Dinge waren das. Wir konnten wirklich sehen, wie die Leute wiederauflebten, wie sie Kraft bekamen, wie sie Mut bekamen und von sich aus wieder losgingen.

Schulz: Das Ganze hat dann auch eine andere Refinanzierungslogik bekommen, davon haben Sie kurz gesprochen. Wie stark war das Konzeptionelle von dieser neuen Refinanzierungslogik geprägt, die keine Krankenhausrefinanzierung mehr vorsah.

Tschechne: Also die Refinanzierungsformen im außerklinischen Bereich haben im Laufe der Jahre stark gewechselt. Damals gab es eine sogenannte Zuwendungsfinanzierung. Das heißt, dass wir uns mit der Sozialbehörde zusammensetzten und sagten, was wir brauchten. Die Behörde war relativ offen dafür, weil sie wollten, dass die immer höheren Kosten im Krankenhaus dadurch abgebaut wurden. Wir sagten, was wir brauchten und die Behörde antwortete: Gut, wir rechnen das durch. Dann kriegt ihr ein Budget von soundso viel pro Jahr zur Verfügung gestellt. Damit sind wir sehr gut ausgekommen.

Erst als im Laufe der Zeit immer mehr von diesen Einrichtungen entstanden – inzwischen ist im Vergleich zu damals die Hamburger Psychiatrie auf die Hälfte zusammengeschmolzen, die Leute laufen in Freiheit herum –, erst dann fing die Sozialbehörde an, die Modelle zu verändern, um mehr Kontrolle über das zu haben, was da finanziert wird.

Aber wir konnten in den ersten fünf Jahren sagen, was wir brauchten – wir haben es natürlich nicht übertrieben – und das bekamen wir dann auch. Es wurde auch beobachtet, ob das, was wir da ausprobierten, funktionierte. Aber das hat funktioniert und insofern waren alle damit glücklich.

Schulz: Wie war das in Schleswig-Holstein, in Storman? Gab es da auch zunächst eine Übergangsfinanzierung?

Drews: Seinerzeit, also in den Jahren 1999 bis 2003 ungefähr, war die Zeit, wo wir das wirklich deutlich aufbauten. Das Sozialministerium war unser Gegenüber und die sahen auf die Landkarte von Schleswig-Holstein. Wenn sie Stormarn sahen, sahen sie nichts. Die damalige Regierung war damit angetreten, die Psychiatrie zu reformieren. Daher stellte man mir die deutliche Frage: Was brauchen Sie, welches Personal brauchen Sie? Überall in der normalen Eingliederungshilfe bestand seinerzeit die Hauptberufsgruppe entweder aus Erziehern, Heilerziehungspflegern oder aus Unausgebildeten. Daher sagte ich: Für dieses Klientel brauche ich selbstverständlich eine hundertprozentige Fachkraftquote, und zwar Sozialpädagogen, nicht Erzieher, nicht Ergotherapeuten, sondern Sozialpädagogen! Die haben wir auch gekriegt, denn seinerzeit war das politisch Interesse der andern Seite – heute der Gegenseite – so groß daran, dass überhaupt etwas auf die Beine gestellt wurde – es hatte sich in Stormarn bis dahin nichts gerührt – , dass wir so abschließen konnten. Dass wir wirklich gut arbeiten konnten und einen guten auskömmlichen Personal- und Investschlüssel hatten – noch einmal – lag daran, dass die andere Seite sagte: So kann es in der Psychiatrie nicht weitergehen! Hier hat Stormarn wie der Kreis Nordfriesland auch unter einer Sache gelitten, nämlich darunter, dass sie eine vermeintliche regionale Psychiatrieversorgung hatten, genauso wie Bad Segeberg auch – Breklum, Rickling und Stormarn waren die drei, die zusammengehörten. Man sagte, dass die über die drei Landeskrankenhäuser, Neustadt und Schleswig-Hesterberg und Heiligenhafen schon dezentral versorgt würden. Um diese Häuser herum hatte sich damals der Aufbruch gegen die etablierte custodiale Psychiatrie zentriert, aber niemand hatte diese drei Kreise im Auge gehabt, weil man der Meinung war, dass die schon dezentral kreismäßig versorgt wären. Keiner hat gemerkt, dass das Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus für Stormarn überhaupt keinen Auftrag hatte! So hatten wir auch die Brücken nicht, die überall in allen anderen Kreisen diesen psychiatrischen Aufbruch voranbrachten. Die gab es in Stormarn nicht, denn man dachte nicht, dass Stormarn ein Problemkreis wäre. Stormarn war ein weißer Fleck. Wenn jemand aber aus diesem weißen Fleck kam und sagte, dass er ihn quasi färben wollte, waren die Türen seinerzeit weit offen. So gesehen wurde diese Sache weder von Alsterdorf noch vom HSK gefördert, sondern von politischen Gestaltern, die sagten: Wir brauchen eine andere Versorgung!

Schulz: Wenn man die Weiterentwicklung dieser sozialpsychiatrischen Angebote mit der klassischen Behindertenhilfe vergleicht, gab es dort zunehmend auch Schnittstellen oder konzeptionelle Nähe zueinander oder waren das über die gesamte Zeit komplett verschiedene Entwicklungen, obwohl sie irgendwann möglicherweise ähnliche Refinanzierungswurzeln hatten?

Tschechne: Wir hatten immer eine andere Refinanzierung. Diese Art der Refinanzierung der Sozialpsychiatrie hat es bis vor fünf oder sechs Jahren auch in Alsterdorf nicht gegeben. Frau Schulz machte irgendwann einen eigenen sozialpsychiatrischen Bereich auf, nachdem sie sich ein bisschen bei uns informiert hatte, wie das bei uns lief und was man dazu brauchte, und das war dann die Gemeinsamkeit zwischen den beiden Blöcken in Alsterdorf in Bezug auf die Finanzierung. Ansonsten waren die Konzepte nicht so, dass sie sich gegenseitig befruchteten, sondern es war so, dass wir zwar auf gemeinsamen Veranstaltungen waren und einiges mitnahmen, aber im Konzeptionellen gab es eine Trennung.

Schulz: Welche Rolle spielen die neueren Paradigmen wie Inklusion und Sozialraum für die Angebotsstruktur in der Sozialpsychiatrie, die Sie auf den Weg gebracht und geprägt haben?

Drews: Diese sind grundlegend, denn auch die Psychiatrie ist keine Naturwissenschaft, sondern eine Sozialwissenschaft. Es ist heute unstrittig, dass die Sozialwissenschaft begreift, was nötig ist und was Menschenrechte, was Bürgerrechte, was Ressourcenorientierung, was Inklusion bedeuten. Es war schwierig, dieses Denken in medizinischen Bezügen einzubringen und umzusetzen. In dem Zusammenhang habe ich dasselbe wie du erlebt [gemeint Rainer Tschechne]. Die eigentliche inhaltliche Wachstums- und Fortschrittsphase war ab dem Jahr 2005, als der seinerzeitige Vorstand sagte: Wir müssen die Sozialpsychiatrie von der Normalpsychiatrie trennen – niemand hätte seinerzeit die völlig unsinnige Idee gehabt, tohus, damals die zweitkleinste gGmbH der Stiftung, als eine eigene Organisation aufzubauen! Vorstandsseitig hatte man angehört, was wir von der Sozialpsychiatrie zu sagen hatten, und daraufhin entschieden: Diesem Projekt in Stormarn geben wir eine Möglichkeit. Wir machen das Krankenhaus zu einer eigenen gemeinnützigen GmbH und wir machen den außerklinischen sozialpsychiatrischen Bereich genauso zu einer eigenständigen GmbH!

Das war endlich die Möglichkeit – du wirst es genauso erlebt haben – sich entwickeln zu können und nicht mehr irgendein Appendix der Medizin zu sein, sondern ein eigener, würdiger, hilfreicher, erlaubender gedeihlicher Bereich. Diese Trennung war das Beste, was beiden Seiten passieren konnte. Wir hatten mit denen nicht mehr viel zu tun und konnten uns unserem Wesen gemäß entwickeln.

Schulz: Wie war es bei Ihnen? [zu RainerTschechne]

Tschechne: Bei mir war es noch ein bisschen anders. Wir waren von vorneherein mit Hilfe des damaligen Vorstandes gegen den Willen der Krankenhausleitung ausgezogen, d. h. eine weitere Anbindung an das Krankenhaus hätte keinen Sinn gemacht. Das wäre nicht gegangen, d. h. wir waren die ganze Zeit seit dem Auszug ein Teil der Holding und hatten dadurch natürlich auch mehr Selbständigkeit. Ich hatte dadurch auch nicht die Notwendigkeit wie du [gemeint ist Eckart Drews], mich noch länger mit beharrender Medizin herumschlagen zu müssen, sondern konnte differenzierter auf die Medizin gucken. Ich holte z. B. einen der fortschrittlichen Psychiater aus dem Sengelmann-Krankenhaus regelmäßig zu uns zur Supervision in Bezug auf die Medikamente, der dann mit uns kooperierte und sympathisierte. Von daher löste sich das Ganze schon viel früher. Das ist das eine. Das war für uns natürlich sehr angenehm.

Das andere ist, dass der Beginn unserer Einrichtung der Sozialraum war. Wir hatten als Einrichtung niemals die Situation, dass wir Heime oder ähnliche Unterbringungen hatten, aus denen waren wir ja gerade entflohen, sondern hatten den Sozialraum als das Feld, in dem wir starteten und arbeiteten. Das war schon immer unsere Substanz und das Reservoir, aus dem wir geschöpft haben. Nach wie vor bin ich der Meinung, dass psychische oder psychiatrische Krankheiten in erster Linie durch soziale Einflüsse zustande kommen. Da ist natürlich der Sozialraum etwas sehr Entscheidendes, der zur Prävalenz solcher Krankheiten mehr oder weniger beiträgt. Jetzt hat sich auch in der Finanzierung unserer Aktivitäten im gesamten Hamburger außerklinischen Feld ein Stück mehr die Sozialräumlichkeit verortet und ist stärker festgeschrieben worden. Aber der Sozialraum war schon immer das Feld, in dem sich das Projekt bewähren musste.

Drews: Das war bei uns ein Stück weit anders. Eine Sache haben wir bisher noch nicht angesprochen, die auch in diesen Zeitraum von 1989 bis 1993 fällt, nämlich die Kündigung des Kostenteilungsabkommens seitens der Hamburger Behörde. Plötzlich war es nicht mehr möglich, lebenslänglich als Patientin oder Patient in der Psychiatrie zu bleiben – genau das war das Geschäftsmodell des Heinrich-Sengelmann-Krankenhauses. Plötzlich gingen dem Krankenhaus die Betten verloren, aber auch ein Großteil aller anderen Hamburger Betten, weil Hamburg sagte: Es ist keine Krankenhausaufgabe, die Leute lebenslänglich zu betreuen!

Wir standen im Gegensatz zu euch [gemeint ist Rainer Tschechne] vor der Frage: Was machen wir mit denen, die seit vielen Jahren hier sind und jetzt raus sollen? So gesehen hatten wir überhaupt keine andere Möglichkeit als für diejenigen, die nach dreißig oder vierzig Jahren auf geschlossenen Stationen wirklich nicht mehr zu verlegen waren, Möglichkeiten und Einrichtungen zu schaffen. Denn die waren auf dem Gelände beheimatet. Die waren nicht so fit, dass wir hätten sagen können: Die können diese vierzig Jahre überspringen und noch einmal neu anfangen. Bei 85 Prozent hat das funktioniert, ich rede von den anderen 15 Prozent, die nach zwei oder drei Verlegungsversuchen zurückkamen und von denen wir wussten, wenn wir das nochmal machen würden, bekämen wir eine Todesanzeige.

So gesehen gab es da einige wenige, angesichts derer wir sagen mussten: Wir müssen hier eine stationäre Einrichtung bauen oder wir müssen tagesstrukturierende Angebote machen, so dass wir in dem Moment über stationäre und teilstationäre Betreuung, über tagesstrukturierende Förder- und Arbeitsbetreuung quasi das ganze Feld von Sozialpsychiatrie in Stormarn aufmachen mussten. Heute sind wir nach wie vor der einzige umfänglich aufgestellte sozialpsychiatrische Anbieter in Stormarn. Fast alle anderen haben nur Segmente.

Schulz: Jetzt sind wir bei 2022 und wir schauen nun in die Zukunft, denn wir mĂĽssen gleich Schluss machen. Hier kommt die letzte Frage von meiner Seite an Sie beide. Wo steht dieses Angebot, diese Entwicklung in 20 Jahren?

Tschechne: Wenn man die Entwicklung so weiterverfolgt, wie sie jetzt in Gang gekommen ist, kann man zwei Punkte nennen. Ein wichtiger Punkt wird sein, dass natürlich die Digitalisierung fortschreitet, d. h. es wird sowohl therapeutische Ansätze aber auch sozialpsychiatrische Ansätze geben, auf die Jemand zugreifen kann, ohne eine Institution aufsuchen zu müssen. Es gibt jetzt schon im gesamten psychotherapeutischen Bereich Programme, mit denen Jemand selbstständig umgehen kann. Das wird natürlich noch weitere Bereiche der Lebensführung erfassen.

Das ist das eine und das andere ist, dass das, was an stationärer Psychiatrie noch besteht, sich umformen wird. Die stationäre Psychiatrie hat nach wie vor damit zu kämpfen, dass Psychiatrie keine exakte Wissenschaft ist, sondern dass die Medikamente, die eingesetzt werden, häufig nur aufgrund von Evidenz aber nicht aufgrund wissenschaftlicher Begründungsketten und Forschungsergebnissen eingesetzt werden können. Das heißt in dem Bereich wird sich mit Sicherheit noch mehr in Richtung Sozialpsychiatrie tun und mehr Erkenntnis darüber, was der Mensch braucht, um gesund zu sein, in der Gesellschaft verbreiten müssen. Ich rechne damit, dass es deutlich weniger Psychiatrie in 20 Jahren geben wird als es jetzt noch der Fall ist.

Drews: Ich widerspreche. Es wird deutlich weniger institutionalisierte, stationäre Psychiatrie geben als heute, aber der Bedarf nach psychiatrischer bzw. psychotherapeutischer und soziopsychiatrischer Betreuung wird so stark ansteigen wie in keinem anderen Diagnosefeld, ich denke z. B. an Burnout und Sucht. Wir müssen uns nur angucken, dass unter den 10 Krankheiten mit den längsten Lebenskrankheitstagen, also wie lange man mit dieser Krankheit in seinem Leben geschlagen ist, acht psychiatrische Diagnosen sind. Die beiden andern sind Diabetes und Rheuma. Man denkt es ist Krebs, aber nein. Die Suchterkrankung, die Depression, die Schizophrenie, der Burnout, was auch immer, diese Erkrankungen werden weiter zunehmen. Das sind die Krankheiten, mit denen Menschen lebenslang am häufigsten geschlagen sind. So gesehen wird dieser Bedarf weiter steigen. Die Aufgabe von sozialpsychiatrischer Versorgung ist nicht, die eigene Therapieform als Schutz vor der bösen Umwelt zu verstehen, sondern im Sozialraum, in der Umwelt, in der Gesellschaft Ankerpunkte zu finden, Begegnungsstäten, Kontaktstellen und Ehrenamtliche, damit Menschen in ihrem Sozialraum bleiben können, auch wenn sie psychisch eingeschränkt sind. Dann kann man wie in allem anderen auch, dort Unterstützungsmechanismen einziehen, wenn sie dableiben wollen. Jeder Mensch will als alter Mensch möglichst in der eignen Wohnung bleiben. Jeder psychisch bedürftige Mensch möchte solange wie möglich in den eigenen Bezügen bleiben. Das ist menschlich! Da hat die klassische Psychiatrie, da gebe ich dir völlig recht, noch sehr viel zu lernen.

Tschechne: Also Eckart, ich schätze dich deswegen, weil du den Widerspruch liebst. Leider muss ich das aber jetzt trotzdem auflösen. Das, was ich gemeint habe, ist natürlich die Psychiatrie als Institution. Ansonsten muss ich dir leider völlig Recht geben.

Schulz: Herr Kutzner, haben Sie noch eine Frage? Wir sind am Ende der Zeit.

Kutzner: Eine sehr nette Runde. Vielen Dank!

Schulz: Wir bedanken uns herzlich. Wir werden sehen, wie es in 20 Jahren wirklich aussieht. Herzlichen Dank fĂĽr Ihr Mitwirken in diesem Interview!

Kutzner: Vielen Dank!

Tschechne: Sehr gerne!

Drews: Es war nett mit euch!