03 / 2003 – Interview mit Andreas GrĂĽtzner

Teilnehmende

Andreas GrĂĽtzner

Reinhard Schulz

Monika Bödewadt

Transkription

Bödewadt: Ich begrüße dich heute zum Interview. Mein Name ist Monika Bödewadt. Wenn du dich bitte einmal vorstellen möchtest.

Grützner: Vielen Dank für die Einladung. Mein Name ist Andreas Grützner. Ich bin mit kleinen Unterbrechungen seit 1979 Mitarbeiter der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und leite das Kurzfilmfestival „KLAPPE AUF!“

Schulz: Mein Name ist Reinhard Schulz. Ich koordiniere das Projekt „Dokumentation – Vierzig Jahre Eingliederungshilfe in der Stiftung Alsterdorf“ und freue mich, dass Andreas Grützner zum Interview hier bei uns ist. Herzlich willkommen!

GrĂĽtzner: Vielen Dank.

Schulz: Sie haben gerade gesagt, dass Sie 1979 in die Stiftung eingetreten sind. Das war ja ein besonderes Jahr, Stichwort Zeit-Magazin und der Artikel „Schlangengruben in der Gesellschaft“. Mögen Sie kurz erzählen, wie es dazu kam, dass Sie gerade in diesem Jahr in die Stiftung eingetreten sind und wo genau Sie da angefangen haben?

Grützner: Damals war ich 17 Jahre alt, bin aus einem kleinen Dorf im Wendland in die große Stadt Hamburg gekommen und wusste nicht so genau, was ich machen sollte. Meine Schwester hatte zwei Jahre vorher schon mal in den damaligen Alsterdorfer Anstalten gearbeitet und meinte: Ruf da mal an! Die können immer Leute gebrauchen. Das habe ich dann gemacht und bei einem Herrn Schulz angerufen, der damals in der Schreibstube im Bereich Männlich 1 arbeitete – das war ja alles noch getrennt [männlicher und weiblicher Bereich] –, und der sagte, ich sollte vorbeikommen. Das habe ich gemacht – ich glaube das war zwei Tage später – und dann saß ich da und er hat mir ein paar Fragen gestellt. Eigentlich war das nicht erlaubt, dass man mit unter 18 Jahren schon in Alsterdorf arbeitete, aber irgendwie ging das dann doch. Man hat mich bei diesem Vorstellungsgespräch durch die Abteilungen 41/43 geführt. Das war unten im Haus Heinrichshöh, aber das Gebäude gibt es nicht mehr. Das waren geschlossene Abteilungen und draußen war ein Zaun um das Gelände. Die Situation auf diesen Abteilungen war wirklich furchtbar erschreckend, gekachelte Räume, ein übler und ein beißender Geruch, der mir da entgegenkam. Irgendwo in der Ecke saß ein Mitarbeiter an einem Schreibtisch und um ihn herum waren laute Schreie zu hören. Ich bekam gleich von hinten einen Schlag auf den Rücken. Also, da hat man mich durchgeführt, vermutlich, um mich ein bisschen zu testen nach dem Motto: Kann er die Situation ertragen oder was macht das mit ihm?

Danach hatte ich wieder ein Gespräch mit Herrn Schulz, der fragte, ob ich mir vorstellen könnte, in Alsterdorf zu arbeiten, und ich meinte nur: Hmmh. Na ja, ich habe dann irgendwie nicht mehr so viel nachgedacht in dem Sinne: Na, das wird, glaube ich, nichts! Kann ich das überhaupt? Dann bekam ich einen Anruf: Wir würden uns freuen, wenn Sie anfangen könnten. Das war im August 1979. Herr Schulz meinte: Sie fangen im Haus Heinrichshöh an und ich dachte: Okay, ich versuch es mal! An meinem ersten Arbeitstag kam ich ins Haus Heinrichshöh, aber nicht nach unten, sondern nach oben. Dort war eine Fünf-Zimmer Wohnung, in der wohnten 13 Männer den Juni und Juli über komplett alleine ohne eine Art von Begleitung, Betreuung oder Assistenz. Es wurde ein Team von fünf Personen zusammengestellt, zu dem ich und Leute gehörten, die keine Ausbildung hatten, und welche, die eine Erzieherausbildung hatten. Ich war der Jüngste. Die älteste Person war 20 Jahre alt. Wir waren ein Team von jungen Leuten, die dann angefangen haben, irgendwie miteinander zu arbeiten.

Das war mein Einstieg und in dem Moment merkte ich erst, wo ich gelandet war. Es gab Situationen, die ich in meinem Leben noch nie gesehen hatte – gut, ich bin auch jung gewesen. Es gab vorne eine Pforte, es gab eingezäuntes Gelände, es gab praktisch die Trennung, nicht mehr die Mauer, aber schon noch die räumliche Trennung zwischen Männern und Frauen durch diese Baracken. Das ganze Gelände war voller Menschen, die in unterschiedlichster Form dort etwas zu tun hatten.

Ich habe mich relativ schnell orientiert. Diese Arbeit im Team hat wirklich auch Spaß gemacht, weil wir alles neue Kollegen waren. Wir experimentierten und versuchten, unser persönliches Menschenbild zu transportieren, weil, diese Ideologie, die darüberstand, konnten wir überhaupt nicht fassen. Das waren auf der einen Seite natürlich diese ganz stark christlich geprägten Werte, die dort vermittelt wurden im Sinne Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde usw., was auch überall geschrieben stand. Im Kontrast dazu wurde auf der anderen Seite ganz schnell deutlich – da brauchte man auch nicht großartig irgendwie Fachmann, Fachfrau sein: Der Umgang mit den Menschen damals war furchtbar! Das war ganz klar und deutlich. Und – im Nachhinein besehen – hatte ich Glück, genau in die Phase reinzukommen, die im Grunde genommen schon ein relativ dunkles Kapitel für die damaligen Alsterdorfer Anstalten war, aber wo dann auch dieser Zeit-Artikel entstand – In der Schlangengrube der Gesellschaft, glaube ich, hieß der.

In dieser Zeit gab es morgens um sechs Uhr Flugblattaktionen vor der Anstalt. Die waren verboten. Es gab da den Kollegenkreis, der sehr aktiv war. Wir haben z.B. eine Aktion gemacht: Wir bekamen immer Essen von der Großküche. Die Kübel wurden dann – das waren richtige Metallkübel – morgens um neun Uhr vor die Tür gestellt. Das Essen war natürlich um zwölf Uhr kalt und ganz oft haben sich Leute den Magen verdorben. Da haben wir eine Aktion gemacht, um dagegen zu protestieren. Ich weiß, da war ganz viel los, da war ganz viel Bewegung drin. Ernst Klee, glaube ich, verlieh den Alsterdorfer Anstalten die Goldene Krücke für die behindertenfeindlichste Einrichtung Deutschlands. Da war ganz viel in Bewegung! Das war mein Einstieg in die Stiftung. Ich habe zunächst bis Mai 1980 gearbeitet, habe dann aufgehört, meine Erzieherausbildung gemacht und habe danach wieder angefangen.

Schulz: Der Wiedereinstieg, wo, in welcher Abteilung ist der dann passiert?

Grützner: Haus Heinrichshöh

Schulz: Sie haben also im Grunde wieder angeknüpft an Ihre alte Wirkungsstätte, aber jetzt qualifiziert.

Grützner: Ich habe 1980 in Alsterdorf aufgehört und gesagt: Ich will was anderes machen! Das hatte mir als Eindruck gereicht! Das war schon auch auf eine gewisse Art und Weise sehr belastend, wenn auch spannend. Ich habe dann die Erzieherausbildung gemacht, danach den Zivildienst angefangen und wurde dort ausgemustert, weil ich als Kind einen Hüftschaden hatte. Man sagte mir: Eigentlich sind Sie gar nicht tauglich! Nachdem ich nur zwei Monate Zivildienst gemacht hatte, hat man mich entlassen und ich dachte: Wieder die gleiche Situation! Was mache ich jetzt? Ich ruf in Alsterdorf an, klar! Seitdem bin ich hier.

Schulz: Da sind Sie dann wieder angefangen als Erzieher.

Grützner: Genau. Als Erzieher habe ich zufälligerweise auch wieder in Heinrichshöhe angefangen. Diese Wohngruppe war aber mehr oder weniger aufgelöst; noch drei Männer wohnten dort. Ich war für eine Abteilung zuständig, die im Haus Hohenzollern war, oben über dem Wachsaal. Da wohnten auch wieder Männer in einer sehr lockeren Betreuungsform. Wir waren einfach nur Ansprechpartner; die haben eigentlich alles mehr oder weniger alleine gemanagt. Das war ganz schönes Arbeiten!

Schulz: Wo konnten Sie, als Sie dann wiederkamen, Ansätze von Normalisierung und Integration wahrnehmen? Wo ging es um diese Themenstellungen, die in den 1980er Jahren fachlich, konzeptionell die Eingliederungshilfe prägen sollten? Wieviel war damals in Alsterdorf schon wahrnehmbar oder noch nicht wahrnehmbar?

Grützner: Dieses Normalisierungsprinzip, soviel ich weiß, kam aus Dänemark und wurde schon in den 1960ern durch den Dänen Bank-Mikkelsen entwickelt. Alsterdorf hat es in den 1980er Jahren auch für sich entdeckt. Im Jahr 1984 habe ich bei dem Erstbezug des Carl-Koops-Hauses mitgemacht – ich hatte mich dafür beworben; wir hatten eine neue Wohngruppe gegründet, auch wieder ein junges Team. Mit dem Erstbezug begann die Normalisierung. Das Innovative war, Menschen so normal wie möglich zu behandeln. Im Carl-Koops-Haus war das an vielen Stellen auch gelungen. Ich habe einfach gemerkt: Da sind viele Leute, die denken weiter, die wollen was verändern, die haben Ideen im Kopf! Keiner wusste aber so genau, wie das gehen sollte. Es viel positive Anarchie in dem Haus, viele junge Teams, junge Leitungen, die da angefangen und die später Karriere in der Stiftung gemacht haben. Da ist viel passiert! Da war Bewegung! Da wurde viel ausprobiert, unterschiedliche Konzepte von unterschiedlichen Wohngruppen! Es gab eine Abteilung oder Gruppe, die hatte einen anthroposophischen Ansatz, eine nächste probierte wieder andere Dinge und ich merkte: Okay, da passiert was! Man konnte Sachen ausprobieren, ob das nun in langen Diskussionen um Fragen ging wie Darf man Kühlschränke abschließen oder nicht? oder Wie ist das mit der Zentralversorgung, können wir alleine kochen, dürfen wir das? oder Wie kann man sich lösen von der Großküche oder von zentralen Versorgungstrukturen? Das waren alles Sachen, die ausprobiert wurden, aber worin letzten Endes die damalige Leitung oft auch eine Bremse war, weil, die Zentralstrukturen waren eigentlich so in der Stiftung verankert, dass es mit viel Geld zusammenhing, wenn man sich davon lösen wollte – diesen Eindruck hatte ich jedenfalls. Es gab Großküchen-Großlieferanten, es gab das Lager, diesen zentralen Einkauf usw. Dann gab es sicherlich auch hier und da Vetternwirtschaft. Der eine kannte den, der andere den und dann wurden auf einmal für sehr viel Geld Brötchen aus Bad Segeberg geliefert, obwohl man die hätte auch beim einem Hamburger Bäcker kaufen können. Sehr undurchsichtige Geschichten! Das war so der Anfang von Wie können wir das anders machen? Da war Normalisierung zum Teil als Konzept verankert.

Schulz: Normalisierung war ja auch etwas, was im breiteren Stil unter dem Stichwort Regionalisierung versucht wurde, also Veränderung von Strukturen, Zuordnen von Wohnsituationen, die Öffnung in Richtung ausgelagerter Wohngruppen in Hamburg. Wie haben Sie die Phase, diese Umgestaltung, auch Konversion genannt, von der Anstalt zur Stiftung erlebt? Diese ging ja stark mit wirtschaftlichen Problemstellungen einher, Stichwort Sanierung der Stiftung.

Grützner: Es wurde irgendwann der Bereich Hamburg-Stadt gegründet, zu dem gehörte ich dann nicht. Und es gab dann eine Spaltung in der Stiftung: Zum einen der Bereich Hamburg-Stadt, der innovativer vorging, dann aber auch die Situation von den Leuten, die nicht zu Hamburg-Stadt gehörten, wie z.B. unsere Wohngruppe. Wir wollten auch solche Sachen machen wie die Leute, die raus in den Stadtteil gegangen sind. Die Strukturen, die auf dem Stiftungsgelände waren, haben es nicht zugelassen, so dass wir gesagt haben: Wir wollen auch eine Außenwohngruppe gründen oder wir wollen andere Strukturen! Da sind wir echt gegen Mauern gelaufen! Wir waren auch teilweise ein bisschen neidisch auf Hamburg-Stadt, weil wir gemerkt haben: Oh, da geht so viel, die wagen was! Da fängt man an, ambulante Wohnformen zu entwickeln! Das war ganz spannend! Auf der anderen Seite gab es natürlich die Situation, dass die Stiftung mehr oder weniger kurz vor der Pleite stand und dann auch den Mitarbeitern ziemlich viel abverlangt wurde, z.B. Verzicht auf Gehalt usw. Das kam jetzt noch dazu. Es wurde natürlich auch viel ausprobiert, was für viele KollegInnen nicht immer so nachvollziehbar war. Das Stichwort war Regionalisierung: Jetzt wird’s wieder so gemacht, dann wird’s wieder anders gemacht, was hat das für einen Sinn? Ich merkte, man brauchte als MitarbeiterIn da viel Geduld.

Schulz: Geduld mit der Institution?

Grützner: Mit der Institution und auch mit den Dingen, die so passierten. Das war aber ein spannender Prozess. Es ging so Mitte der 1980er Jahre los. Und es ist, wie so oft, einigen mutigen Kollegen zu verdanken, dass solche Prozesse weitergingen. Das kam zunächst nicht von oben, irgendwann schon, das hat sich dann ein bisschen verändert. Die Zeit Ende 1980 und Anfang 1990 ist ein sehr großer Verdienst von Kollegen, die den Mut hatten, die Dinge anders zu machen und auch das Risiko eingingen, vielleicht den Job zu verlieren.

Schulz: Gab es bei Ihnen im Zuge dieser Veränderungen auch eine Entwicklung hin zu dem Thema Film und Bewegte Bilder, weil, das ist ja etwas, was jetzt im Mittelpunkt oder stärker bei Ihnen beruflich im Fokus steht?

Grützner: Eigentlich war das der Auslöser. Ich machte damals ganz viel Musik, war Mitgründer von Station17, spielte privat in vielen Bands und dann hatte ich auch noch im Rahmen meines Studiums als Sozialpädagoge eine Diplomarbeit zu schreiben. Parallel dazu fing ich aus Interesse an, mit einem Klienten seine Lebensgeschichte, die er mir erzählte, aufzuschreiben. Ich fuhr mit ihm durch Deutschland, um zu gucken, wie er gelebt hatte. Und daraus machte ich eine sehr umfangreiche Diplomarbeit, die seine Lebensgeschichte dokumentiert.

Danach habe ich mit meiner damaligen Leitung geredet und meinte: Eigentlich müsste man das verfilmen, das ist ein total spannender Stoff! Gleichzeitig dachte ich: Film wie geht denn das? Irgendwie müsste das doch gehen! Also beschäftigte ich mich mit dem Thema Film machte Praktika beim Fernsehen, bei Hamburg 1 und in Kiel bei Produktionsfirmen und schaffte mir nach und nach das Handwerkszeug an. Zum Glück fing die Digitalisierung an und Filmen wurden auch für Leute zugänglicher, die nicht viel Geld hatten. Früher war Filmen damit behaftet, dass man teure Sachen brauchte – eine Filmrolle war teuer, Entwicklung war teuer. Die Anfänge der Digitalisierung haben es möglich gemacht und ich merkte: Okay, ich bin jetzt so weit, dass ich das Knowhow habe. Ich brauche Geld! Und dann versuchte ich, Geld zusammenzubekommen, schrieb Firmen an und kratzte circa 5000 Euro zusammen, darüber hinaus viel an Material. Einer hat mir eine Kamera gegeben, die Lufthansa hat mir einen Flug geschenkt, weil, wir wollten nach Österreich fliegen, Hotels haben uns Zimmer gegeben. usw.

Das war mein Einstieg und daraus ist der Dokumentarfilm „Hier spricht Walter geworden“. Dann ging das so weiter. Ich war von dem Medium angefixt und entwickelte mich weiter. Das, was ich so in Alsterdorf erlebt hatte, beleuchtete ich auf filmische Weise, z. B. Themen wie Was passiert mit Menschen? oder Wie wird mit Menschen umgegangen? Auch die Erlebniswelt von Menschen, die eine gewisse Sozialisierung hinter sich hatten, habe ich dokumentiert. Das hat sich entwickelt.

Schulz: Welche Rolle spielten Film- und Bilderdokumentation ĂĽberhaupt fĂĽr so einen Konversionsprozess, also fĂĽr den Weg von der Anstalt hin zu einer modernen Form von Eingliederungshilfe und Leistungserbringung, Stichwort Zeit-Magazin und auch die Bilder, die dort zu sehen waren, Menschen in Zwangsjacken.

GrĂĽtzner: Ich glaube, dass das einfach ganz wichtig war. Es ist aber in der Zeit ganz wenig gemacht worden. Es gibt nicht viel angesichts der Tatsache, dass das so ein entscheidender geschichtlicher Prozess war. Das ist ein bisschen schade! Es gab mal ein paar Fernsehteams, die in die Stiftung gekommen sind und Reportagen gemacht haben. Leider gibt es nicht so viel! Ich habe dann mit Herrn Uehr angefangen, der hatte sich auch eine Kamera gekauft und selber dokumentiert. Einen Teil davon, viele VHS-Kassetten, hat er mir quasi vererbt. Herr hat Uehr sehr viel selber dokumentiert, z.B. als der Wachsaal abgerissen wurde, ein Symbol einer Art und Weise von Umgang mit Menschen mit Behinderung, der grausam war. Solche Sachen hat er selber dokumentiert. Es gab da eigentlich wenig.

Bilder haben immer eine starke Ausdruckskraft. Dieses Foto auf der Titelseite des Zeit-Magazins ist natĂĽrlich stark. Das hatte natĂĽrlich eine Wirkung und auch dazu beigetragen, dass das Thema Aufmerksamkeit bekommen hat. Aber es war auch eine Zeit, in der einfach nicht viel fotografiert wurde, weil es schwierig war. Heute, in Handyzeiten, gibt es viel zu viel. Das ist ein ganz anderes Problem. Aber damals gabs viel weniger.

Schulz: Okay.

Bödewadt: Die Darstellungen im öffentlichen Fernsehen von psychisch Kranken sind manchmal sehr negativ, damit meine ich, dass im Fernsehfilm psychisch Kranke oft als Kriminelle oder Mörder dargestellt werden. Konntest du in deiner Zeit mit deinem Filmen über die Alsterdorfer Anstalten ein bisschen für den Wandel tun, dass es nicht mehr so rüber kommt im Fernsehen?

Grützner: Das ist natürlich ein Ansatz, den ich beim Filmen habe. Wenn man jetzt mal den Begriff Inklusion oder Diversität nimmt, ist es die Art und Weise, wie man mit unterschiedlichen Menschen gemeinsam an einen Film herangeht. Da kann man nur ein kleines Rädchen sein. Aber letzten Endes gibt es immer ein paar Eckpunkte. Was ich zum Beispiel persönlich nie gemacht habe ist, dass ich einen OFF-Kommentar verwendet habe: Ich lasse keinen Sprecher über Leute sprechen, sondern, wenn, sollen diese selber sprechen. Das ist für mich als Filmemacher wichtig, wenn ich mit Personen dokumentarisch arbeite. Die erzählen – nicht ich! Ich gebe ihnen dabei die Unterstützung des Mediums. Im Moment bewegt sich da etwas, finde ich, auch in den Fernsehfilmen. In der Regel werden psychisch kranke Menschen mit Behinderungen ganz oft nicht von Menschen mit Behinderungen und nicht von psychisch Kranken gespielt, sondern immer von Schauspielern. Es gibt aber jetzt mit Rollenfang – das kennst du sicherlich auch – eine Schauspielagentur für Menschen mit Behinderung, die genau das auch als Mission haben, dass die Rollen bitte von ihnen als Personen besetzt werden. Es gibt genügend gute Schauspieler, die eine Behinderung haben, die das auch machen können! Aber, wie du schon sagst, psychisch Kranke werden oft als Bösewichte, als irgendwie schräge Freaks oder sonst was dargestellt. Das ist ein Problem! Es gibt immer gute Kinofilme, aber im Grunde hapert es in den eher seichteren Fernsehfilmen am Vorabend, wo noch viele Klischees vorhanden sind. Im Kinobereich – das ist noch mal ein anderes Medium – gibt es viele gute Sachen, wie z.B. der Film Systemsprenger, wo man einfach merkt, da wird noch mal ganz anders hingeguckt.

Schulz: Irgendwann gab es die Idee, das Kurzfilm-Festival„KLAPPE AUF!“ zu gründen. Mögen Sie kurz die Entstehungsgeschichte skizzieren und wie es dazu kam, dass Sie dann Leiter dieses Festivals wurden?

Grützner: Das war 2011. Ich hatte diese Idee schon länger und dachte: Ich will das Thema Film und meine Arbeit in Alsterdorf verbinden. Da ich sehr Kurzfilm-affin bin lag das auf der Hand. Das lag irgendwann auf der Hand und ich überlegte, wie man das machen könnte und bin dann mit einem Konzept im Kopf zu Birgit Schulz gegangen, die damals Vorständin war, und habe mit ihr geredet. Sie war sehr interessiert. Ich hatte mehrere Treffen mit ihr, vervollständigte das Konzept weiter, redete mit unterschiedlichen Leuten, stellte ein Team zusammen und formulierte schließlich einen Antrag an die Aktion-Mensch. Es war überhaupt nicht klar, ob das funktionierte, ob die sagen würden Das ist totaler Quatsch! oder Mach mal!

Das hat dann geklappt. Der Gedanke von „KLAPPE AUF!“ hat drei Säulen: Einmal, dass wir ganz flache Hierarchien wollen, dann dass wir eine inklusive Beteiligungsstruktur haben wollen und dass wir wollen, dass die Filme auf jeden Fall so barrierefrei wie möglich sind. Und – auch ganz wichtig, das Thema Augenhöhe und Inklusives Arbeiten – wir wollen eine gleiche Bezahlung für alle. Es war für uns wichtig, zu sagen: Wir wollen auch im finanziellen Bereich keine Abstufung zwischen Jemandem wie mir, der das Festival leitet, und den Leuten, die die Filme sichten. Wir haben drei unterschiedliche Bereiche und jeder, der in diesen unterschiedlichen Bereichen arbeitet, bekommt das gleiche Geld. Das war für uns ein wichtiger Punkt. Dann haben wir losgelegt und 2013 das erste Festival veranstaltet.

Schulz: Dann hat sich das Ganze in der Landschaft der Kurzfilmfestivals weiterentwickelt. Wo steht dieses Festival in dieser Landschaft? Ist das noch was Besonderes oder etwas Spezifisches?

Grützner: Wir hatten ursprünglich die Illusion, 2013 anzufangen und uns dann vielleicht in drei oder vier Jahren selbst überflüssig zu machen. Das war die Idee. Wir sagten uns: Wir wollen uns nicht als Selbstzweck erhalten, sondern wir wollen, dass barrierefreies Kino, Barrierefreiheit, Inklusion und Kultur sich verselbständigen, so dass die anderen Festivals das übernehmen, dann werden einfach alle Filme mit Audiodeskription und Untertiteln für Gehörlose gemacht, dann muss es uns ja nicht mehr geben! Das war ein Trugschluss! Wir merkten, dass es sehr langsam ging, so dass es uns, glaube ich, noch ein bisschen braucht.

Im Moment ist es so, dass wir gut vernetzt sind. Wir sind international, national gut aufgestellt. Wir haben als Kern das Festival, das wir nach wie vor alle zwei Jahre machen, dann haben wir einen kleinen Verleih von barrierefreien Kurzfilmen unter dem Label „Butterfahrt“ aufgesetzt und dann haben wir noch ein internationales Netzwerk gegründet, das heißt „BE-IN“, das mit internationalen Festivals, die auch barrierefreie Filme zeigen, und mit dem Goetheinstitut zusammenarbeitet. Wir werden viel als beratende Personen von Institutionen angefordert, von Leuten, die einfach wissen wollen, wie barrierefreies Kino, wie Inklusion geht, oder die verunsichert sind und fragen: Was sagt man jetzt? Darf man Behinderte sagen? Wie schreibe ich das jetzt? Heißt das jetzt Diversität oder Neuro-Diversität?Es gibt viel Verunsicherung, so dass die Leute sagen: Wir wollen euer Butterfahrt-Programm machen! Das kriegen die Leute dann umsonst, müssen es dann aber barrierefrei vorführen. Sie fragen uns auch: Ja, was darf ich denn jetzt schreiben, damit es BC-korrekt im Text ist? Wir sind mittlerweile mit vielen Ebenen vernetzt und arbeiten auch mit Barner ganz viel zusammen. Das ist immer toll und macht Spaß!

Schulz: Haben Sie noch eine Frage?

Bödewadt: Was für einen Wandel wünschst du dir noch von der Gesellschaft in Bezug auf das Festival? Was können andere Menschen noch dafür tun?

Grützner: Was uns manchmal ein bisschen stört ist, dass man ganz schnell in eine Schublade gesteckt wird. Wir hießen früher „Inklusives Kurzfilmfestival Klappe auf“ und merkten dann: Sobald das Wort Inklusion dabei ist, wird man von anderen Festivals in eine Ecke gestellt im Sinne von Ja, die machen dann Inklusion, dann müssen wir das ja nicht mehr tun! oder Und wenn wir dann mal das Thema Behinderung bei uns im Festival haben und unsere Leute wollen was wissen, dann schicken wir die dahin! Man wird ganz schnell in eine Schublade gesteckt! Dann sind die anderen zufrieden nach dem Motto Die machen das ja, dann müssen wir das nicht tun! Als wir das Wort Inklusion aus unserem Namen genommen haben, merkten wir auf einmal: Es wird breiter. Man wird nicht mehr unbedingt in eine Schublade eingeordnet. Wir arbeiten viel mit dem Hamburger Kurzfilmfestival zusammen – da sind wir sehr vernetzt und das ist mittlerweile eins der größten in Europa – auch bei denen merkte man, dass unsere Idee nicht wirklich ankommt Ach, ihr zeigt die Filme über Behinderte? – Nein, machen wir nicht. Wir zeigen Filme, die uns gefallen, die für uns eine Relevanz haben, für uns wichtig sind, und natürlich auch Filme, die im inklusiven Setting stattfinden. Aber das ist nicht das Label, was wir haben. Das wird immer ganz schnell vermischt. Das finden wir manchmal schade. Es ist aber auch verständlich, weil unser Gedanke noch nicht so angekommen ist. Gerade Festivals tun sich total schwer, ihre Filme barrierefrei herzustellen mit dem Argument: Ja, so viele kommen dann ja nicht und das ist ja auch so teuer! Das stimmt natürlich. Aber, das nützt ja nichts! Man muss erst mal das Angebot kennenlernen. Das ist ein Prozess, den wir dauernd auch mit Festivals führen. Von daher haben wir gesagt: Wir stellen denen umsonst eine Auswahl von Filmen zur Verfügung. Diese müssen sie aber barrierefrei zeigen, sonst kriegen sie die nicht. Wir kommen vor Ort und machen noch ein bisschen Beratung in solchen Sachen. Aber das ist echt ein langer Weg! Es gibt ein paar Festivals, die das jetzt auch machen. In Dresden z.B. ist das Kurzfilm-Festival relativ weit, oder auch das Dog-Film Festival Leipzig, das wir teilweise beraten haben. Da bewegt sich etwas, aber für viele ist es, wie man so schön sagt, nicht sexy genug, barrierefreie Sachen zu zeigen.

Bödewadt: Würdest du dir eventuell für das Festival KLAPPE AUF! einen anderen Standort wünschen als Hamburg oder ist das ideal hier?

Grützner: Ich finde das ideal hier, weil wir mit der Kurzfilmagentur Hamburg und dem Kurzfilmfestival Hamburg gut vernetzt sind. Es gibt eine sehr gute Filmszene in Hamburg, wo wir total etabliert sind. Uns kennt jeder. Wir haben Kontakte zu ganz vielen Leuten. Das ist anders als in Berlin, das viel zu groß ist und wo es viele einzelne, kleinere Bereich gibt. Wir sind wirklich in Hamburg super vernetzt! Auch deutschlandweit haben wir ganz viele Kontakte zu anderen Festivals. Von daher ist Hamburg eigentlich ideal; von Hamburg aus kann man viel steuern und machen. Und ihr Barner16 seid hier, das ist auch toll! Das ist wirklich einzigartig, was ihr hier an Arbeit macht! Und die Vernetzung geht mittlerweile quasi auch auf Zuruf super und macht diesen Standort für uns total gut. Wir sind natürlich hier etabliert und haben ein sehr stabiles Team. Wir sind jetzt ungefähr seit 2013 zusammen. Bis auf die Leute, die beruflich wegmüssen, sind wir immer noch das gleiche Team – hier und da kommen neue dazu – und miteinander verwachsen. Die Idee, woanders hinzugehen, würde bei uns im Moment gar nicht aufkommen.

Schulz: Wie wird das Festival 2031 aussehen – Sie sagten vorhin: Möglicherweise sind wir überflüssig? Was denken Sie?

Grützner: Wir sind am Überlegen. Bei jedem Festival fragen wir uns: Machen wir so weiter? Wie verändern wir uns? Macht es noch Sinn so? Wie ist so die Entwicklung? Und bis jetzt ist es noch so, dass wir auf dem Weg sind, glaube ich, uns noch mehr auch in andere Felder mit einzumischen und, was Kunst und Kultur angeht, uns noch ein bisschen mehr zu vernetzen. Die Frage ist, ob es irgendwann diese Form des Festivals noch braucht, oder ob wir sagen, um unsere Strahlkraft ein bisschen zu vergrößern: Macht es Sinn, entweder zusätzlich zu dem Festival oder vielleicht gerade das ein bisschen zu verändern, also, dass wir uns – das ist vielleicht deine Frage gewesen – ein bisschen mehr verteilen in Deutschland mit dem Ziel: Wir mischen uns mehr ein. Das geschieht bereits über den Ansatz mit dem Verleihprogramm. Wenn die Leute nicht zu uns kommen, dann gehen wir zu ihnen! Das könnte man, glaube ich, noch aktiver gestalten. Das machen wir jetzt mit dem Goethe-Institut Marseille. Wir kooperieren auch dort mit einem Festival. Der Ansatz, dass wir uns einfach mehr einmischen in andere Festivals, könnte als Schwerpunkt größer werden und dadurch unser Festival ein bisschen kleiner. Das kann sein, das muss man sehen.

Bödewadt: Was denkst du: Was werden die Leute zehn oder zwanzig Jahre später sagen zu unserem KLAPPE-AUF! – Festival? Sagen sie: Guck mal es war damals so und heute ist es ganz anders! Oder sagen sie: Das war doch toll, was da lief, und das haben wir heute nicht mehr!

Grützner: Interessant! Grundsätzlich wäre es schön, überhaupt im Bewusstsein der Nachwelt zu sein! Das weiß man nicht. Aber, ich glaube, dass wir mit die ersten waren, die in Deutschland so eine Art und Weise von Filmfestival aufgezogen haben. Es gibt auch in Deutschland noch keine Nachahmer! Und dadurch, dass wir mittlerweile mit Polen, Belgien, Türkei, England und Spanien ein internationales Netzwerk haben, merken wir im Moment, wie dort die Landschaft ist. Da tut sich nicht so viel. Es gibt ein paar Player, die in jedem Land sind und die das auch machen, aber die sind überschaubar. Da ist noch Luft nach oben. Ich glaube, letzten Endes ist immer das Ziel – also unser Ziel auf jeden Fall –, dass sich diese Barrierefreiheit und inklusive oder diverse Strukturen auch in der Organisation verselbständigen, dass die sich einfach in der Gesellschaft breit machen und in unserem Fall dann in Festivalstrukturen.

Schulz: Jetzt ist die Zeit leider rum. Ich muss ein bisschen auf die Zeit achten. Ein sehr spannendes Thema! Eine letzte Frage von meiner Seite in Richtung Konversionsprozess in der Stiftung: Wenn man sich einen Film aus Ihrem Archivbestand zu diesem Themenfeld anschauen möchte, welchen Film sollte man sich da anschauen? Gibt es da einen Film, der den Prozess symbolisiert und transparent macht?

Grützner: Es gibt leider nicht so viel. Ich habe jetzt einen Film gesehen von Bertram Rothemund – den Titel habe ich vergessen –, diesen Interviewfilm, in dem Interviews mit Menschen gezeigt werden, die in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren teilweise hier gelebt haben. Ich selber habe mal einen Film gemacht über das Carl-Koops-Haus. Das passt vielleicht in die Zeit. Der beschreibt den Kollegenkreis damals und die Entwicklung des Carl-Koops-Hauses, das Anfang der 1980er Jahre gebaut wurde und das es jetzt nicht mehr gibt, also ein Film, der diese Zeit ein bisschen beleuchtet. Dann gibt es noch ein paar Reportagen, aber leider nicht so viel an Filmen. Das ist ein bisschen schade. Ich persönlich mag auch Filme, die mit der Zeit zu tun haben, z.B. einen Stummfilm aus den 20er Jahren, den ich sehr spannend finde. Aber wenn man sich geschichtlich mit der Stiftung beschäftigt und nach Bildern gerade aus dieser Zeit, 1980er, 1990er Jahre, guckt, da ist visuell nicht so viel passiert. Leider nicht! Ich würde gerne auch selber mehr an Material haben.

Schulz: Aber den Carl-Koops-Haus-Film kann man sich doch anschauen?

GrĂĽtzner: Genau, der ist da.

Schulz: Da geht’s, glaube ich, um den Auszug aus dem Carl-Koops-Haus. Richtig?

Grützner: Genau, wie gesagt, ich habe ja diesen Film „Hier spricht Walter“ gemacht. Das ist vielleicht auch noch mal interessant, weil der eine Lebensgeschichte aus der Perspektive eines Menschen mit Behinderung beschreibt, ab den1930er Jahren bis 2000 ungefähr. Und ich finde, dass ihr [gemeint ist Barner16] filmisch auch viele Sachen macht, die auch noch mal zeigen Wie wird mit Kunst und Kultur umgegangen? Wie arbeitet man inklusiv? und Themen aufgreift. Das wäre natürlich toll, solche Sachen einmal in einem Projekt zu bündeln und dann zu sagen: Es gibt jetzt mehrere Filme und da kann ich als Nutzer reinklicken. Das wäre super!

Bödewadt: Ich danke Dir, dass du dabei warst!

GrĂĽtzner: Ich danke auch. Es hat total SpaĂź gemacht!

Schulz: Von meiner Seite gleichfalls herzlichen Dank, dass Sie fĂĽr dieses Thema zur VerfĂĽgung standen. Alles Gute!

GrĂĽtzner: Gleichfalls!