02 / 2012 – Interview mit Karen Haubenreisser, Armin Oertel, Prof. Dr. Wolfgang Hinte und Hanne Stiefvater

Teilnehmende

Karen Haubenreisser

Armin Oertel

Prof. Dr. Wolfgang Hinte

Hanne Stiefvater

Transkription

Stiefvater: Heute ist hier eine illustre Runde beisammen, bestehend aus Karen Haubenreisser, Professor Hinte und Armin Oertel. Mit ihnen werden wir vor allen Dingen die letzten zehn Jahre in der Entwicklung der Stiftung, in der Eingliederungshilfe und das Konzept der Sozialraumorientierung und seiner Umsetzung betrachten. Zu meiner Rechten sitzt Wolfgang Hinte, der sich bitte noch mal selber vorstellt und beginnt.

Hinte: Hallo, ich bin Wolfgang Hinte. Ich habe viele Jahre an der Uni in Duisburg/Essen gearbeitet. Seit Ende 2001 habe ich mit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf [ESA] zu tun, weil das Konzept Sozialraumorientierung, mit dem ich aufgewachsen und groß geworden bin, bei der damaligen Stiftung Alsterdorf Interesse fand. Darüber haben wir zueinandergefunden, anfangs in kleineren Kontexten und später im Rahmen einer längerfristigen Begleitung. Aber dazu vielleicht gleich mehr.

Haubenreisser: Ich bin Karen Haubenreisser und von Haus aus Diplom-Psychologin. Seit elf Jahren arbeite ich in der Stiftung Alsterdorf und leite zusammen mit meinem Kollegen Armin Oertel den Fachbereich Q8Sozialraumorientierung.

Oertel: Ich bin Armin Oertel. Ich arbeite seit ziemlich genau zehn Jahren bei der ESA und leite seither das Projekt Q8 und zusammen mit Karen Haubenreisser den Fachbereich Q8Sozialraumorientierung. Von Haus aus bin ich – ich sag jetzt immer – Sozialwissenschaftler. Eigentlich bin ich Politologe, aber ich finde, dass das, was wir hier machen, also Sozialraumorientierung, auch viel mit Politik zu tun hat. Aber dazu kommen wir vielleicht später noch.

Stiefvater: Mein Name ist Hanne Stiefvater. Ich bin seit 20 Jahren in der Stiftung Alsterdorf und in verschiedenen Führungsfunktionen tätig, war unter anderem mitverantwortlich für die Auflösung der Alsterdorfer Anstalten, die sich auf dem Stiftungsgelände befanden, bin jetzt seit knapp siebeneinhalb Jahren im Vorstand und dort ebenfalls zuständig für das Thema Sozialraumorientierung.

Im Jahr 2000 habe ich in Alsterdorf angefangen, aber schon in meiner vorherigen Stelle im Rauhen Haus und auch im Rahmen meines Studiums der Pädagogik hatte ich von dem Konzept [Sozialraumorientierung] gehört und hatte es, damals vor 20 Jahren, stärker in der Kinder- und Jugendhilfe verortet. War das richtig?

Hinte: Dass Sie es so verortet haben, ist nicht ganz richtig.

Stiefvater: Vielleicht können Sie noch mal sagen, aus welchem Zweig der Pädagogik sich das Konzept entwickelt hat?

Hinte: Das Konzept ist im Rahmen dessen entstanden, was damals und noch heute Gemeinwesenarbeit genannt wird. Gemeinwesenarbeit war in den 1970er- und 1980er-Jahren ein Konzept, auf dessen Grundlage man hoffte, die Wohnbevölkerung in Stadtteilen, meistens in benachteiligten Stadtteilen, so zu organisieren, dass die Menschen ihre Interessen laut, deutlich und nachhaltig sowohl an öffentliche Träger als auch an Wohnungsbaugesellschaften, also ganz andere Instanzen, richteten, immer mit Blick darauf, dass man davon ausging: Organisationen öffentlicher wie auch freier Art wollen im Grunde nicht wirklich Gutes für die Leute, sondern sie wollen den Leuten eher sagen, wie sie leben sollen. Gemeinwesenarbeit hat damals die Leute ermutigt: Sagt laut und deutlich, wie ihr leben wollt, und dann setzt euch dafür ein, dass die Bedingungen dafür geschaffen werden! Mit diesem Impetus sind wir damals in Wohnviertel gegangen und haben versucht, dort Bürger zu organisieren, die genau das taten.

Diese Form der Organisation war nicht wahnsinnig beliebt bei den Institutionen, gerade bei den Jugendämtern nicht, aber auch nicht bei den freien Trägern. Die freien Träger, die damals schon ziemlich frei, aber auch träge waren, hatten eher so etwas wie ein Schlafwagentempo in ihrer Organisation, mit dem sie sich nicht an die brüchige, chaotische, sich ständig verändernde Lebenswelt der Leute anschmiegen konnten. Und wir haben versucht, genau diese beiden Elemente zusammenzuführen.

Das haben wir zunächst im Rahmen von Stadtentwicklung und Stadtteilentwicklung gemacht. Das wurde dann zunächst von den Leuten aufgegriffen, die sich stadtplanerisch mit solchen Fragen beschäftigten, und später dann – und da haben Sie recht, Frau Stiefvater – kam die Kinder- und Jugendhilfe um die Ecke, die merkte: Wenn sie Leistungen für Kinder und Jugendliche anbieten und kreieren wollte, musste sie diese an die Lebenswelt der Leute andocken, man konnte sich diese nicht in den Büros ausdenken. Von daher war die Kinder- und Jugendhilfe im Grunde der Bereich, der das Konzept sehr breit aufgenommen und weiterentwickelt hat. Danach hatten wir vermehrt Anfragen aus der Eingliederungshilfe. In dem Kontext habe ich auch Sie [gemeint ist Frau Stiefvater] kennengelernt. Und heute ist das Konzept eines, das in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Eingliederungshilfe, in der Arbeit mit Migranten und Migrantinnen, in der Pflege, in der Arbeitsförderung, eigentlich in allen Bereichen, die irgendwie das Soziale betreffen, realisiert wird.

Stiefvater: Genau, die Realisierung in der Kinder- und Jugendhilfe kam mir vielleicht auch deshalb zuerst in den Sinn, weil sie die Auflösung der Heimstrukturen vor der Behindertenhilfe in Gang gebracht hat, zumindest hier in Hamburg war das so.

Sie hat auch die Großheime aufgelöst und ambulante Strukturen in den Quartieren entwickelt. Das war zumindest hier in Hamburg im Jahr 2000 noch nicht so. Wir hatten zu dem Zeitpunkt noch immer 80 Prozent stationär und nur 20 Prozent der Menschen mit Behinderung ambulant untergebracht. Ganz viele lebten noch in den großen Häusern wie dem Carl-Koops-Haus, dem Karl-Witte-Haus oder dem Wilfried-Borck-Haus. Und die Fragen waren: Wie leben eigentlich Menschen nachher in den Quartieren, wie funktioniert das eigentlich, wie macht man überhaupt Inklusion und Teilhabe? Da waren für die Kollegen wirklich wichtige Überlegungen zu der Frage: Wie kriegen wir das eigentlich praktisch hin?

Ich erinnere mich, ich hatte Sie [gemeint ist Prof. Hinte] 2001 zu einer Mitarbeiterversammlung eingeladen, wo 100 Mitarbeiter der Eingliederungshilfe, damals noch Behindertenhilfe, waren. Die klebten Ihnen an den Lippen und hörten ganz aufmerksam zu, was Sie für Ideen entwickelt hatten. Die Mitarbeiter waren wahnsinnig inspiriert, aber als Sie weg waren, sagten sie: Das war ja interessant, was Herr Hinte da erzählt hat, aber das geht ja nur in der Kinder- und Jugendhilfe und nicht in der Behindertenhilfe. Das funktioniert hier nicht! Können Sie sich das erklären?

Hinte: Das war die alte Nummer. Das war bei der Kinder- und Jugendhilfe früher genauso. Als die Kinder- und Jugendhilfe das Pferd sah, das durchs Dorf rannte, sagte sie: Da springen wir nicht auf! Das ist ja nur etwas für die Stadtentwicklung! Der gleiche Effekt trat bei der Behindertenhilfe ein. Die sagten: Ganz interessant! Munter und bunt, das wäre was! Aber nicht für uns! Bei uns geht das nicht, das geht nur in der Kinder- und Jugendhilfe!

Das sind fast immer Mechanismen von Systemen; wenn diese mit etwas Neuem konfrontiert sind, finden sie Gründe, sich davon fernzuhalten, es gleichsam aus der Ferne bewundernd zu beklatschen, damit man bloß nicht die Last der jeweiligen Veränderung tragen muss. Das sind ganz normale Reflexe und die waren, das muss ich auch sagen, in der Behindertenhilfe sogar geringer als vorher in der Kinder- und Jugendhilfe. Die Behindertenhilfe hat nach einigen Anläufen – und da muss man durchaus in Zehn- beziehungsweise Zwanzigjahres-Zeiträumen denken – einiges davon in einer solchen Geschwindigkeit aufgegriffen, wie es der Kinder- und Jugendhilfe anfangs überhaupt nicht gelungen ist.

Stiefvater: Wir stellen uns ja immer die Frage: Wie finanziert man eigentlich die sogenannte fallunabhängige Arbeit? Das ist für alle Träger von Dienstleistungen ein Thema und wir haben im Rahmen der Auflösung der Anstalten und der Ambulantisierung mit der Hamburger Sozialbehörde einen Sozialraumzuschlag auf die Fachleistungsstunden verhandelt. Das war die Geburtsstunde der Idee der damaligen Bereichsleitung beziehungsweise des damaligen Vorstands, Q8 auf den Weg zu bringen. Vorher gab es schon die sogenannten Treffpunkte in den Stadtteilen. Aber dann kam die Geburtsstunde von Q8 und mit ihr kamen die beiden Personen hier neben mir auf den Plan [gemeint sind Karen Haubenreisser und Armin Oertel] – nebenbei bemerkt, wir duzen uns. Ihr wurdet damals direkt für Q8 in Altona eingestellt, Herr Oertel ein bisschen später als du [zu Karen Haubenreisser]. Kannst du noch mal etwas dazu sagen, denn du kanntest den Ansatz vorher eigentlich noch nicht, oder?

Haubenreisser: Ja, das ist richtig; ich bin übrigens damals für Q7 angefragt worden. Es begann alles im Sommer 2010 mit der Frage: Was machen Sie gerade und wollen Sie bei uns bei Q7 mitmachen? Wir haben jetzt diese verschiedenen acht Entwicklungsfelder, das heißt Wohnen, Arbeit, Service, Gesundheit et cetera. Ein Feld war damals nicht dabei, das war die lokale Ökonomie, die ist noch dazugekommen. Das war spannend, weil es sich als besonders schwierig erwies, diese vor Ort in den Entwicklungsprozessen mit ins Boot zu holen. Ich weiß noch, wie wir gesagt haben: Oh Gott, es darf nicht mehr Q7 heißen! Geht denn Q8? Wie klingt denn das? Damals war Q7 noch so selbstverständlich.

Ich bin nicht eingestellt worden mit dem Ziel Wir setzen sozialraumorientierte Konzepte um in folgender Weise â€¦, sondern mit der Fragestellung, die immer noch die ist, die uns leitet: Wie kann man Quartiere so weiterentwickeln, dass Menschen dort – und zwar alle Menschen – gut nach ihren Vorstellungen leben können und UnterstĂĽtzung finden, sodass sie das realisieren können? Das war die Frage und wir hatten wirklich allesamt auf die genau richtige Frage nicht so eine richtige Antwort, wie es gehen könnte. Wir haben dann im Prozess miteinander das Format des Intermediärs beziehungsweise der Intermediärin entwickelt.

Ganz zu Anfang hatten wir – nach dem Motto, wir versuchen das mal – Aspekte dabei, die dem eigentlich widersprachen. Ich hatte zum Beispiel als Allererstes eine Visitenkarte der alsterdorf assistenz west, weil wir dachten: Das ist gut! Die aawest ist in Altona schon unterwegs – das war mein Quartier damals –, da ist der Träger bekannt und wohlgeschätzt, dann kann so eine Person ja auch gut kommen und in Prozesse hineingehen! Dann merkten wir: Das genau geht nicht, dass man als Träger mit Interessen vor Ort kommt und sagt: Ich stelle mich zur Verfügung als Mittler zwischen den Welten der Lokalökonomie, der Verwaltung, der Politik und der Zivilgesellschaft! Wir merkten zugleich, dass genau so ein Träger wie die alsterdorf assistenz west im Spiel bleiben und ihre Interessen formulieren sollte, im Dialog mit weiteren Trägern und eben im Zusammenwirken mit einer unabhängig verorteten Intermediärin beziehungsweise einem Intermediär.

Also, wir haben ganz anders, wirklich ganz anders angefangen, als wir heute unterwegs sind! Wir hatten acht Quartiere. Jedes Quartier sollte eines dieser Entwicklungsfelder thematisch beinhalten. Heute würden wir niemals mehr so denken! Natürlich spielen alle Entwicklungsfelder ineinander und genau das ist die Kunst, diese in ihrem Wechselprozess und auch die Ressourcen all dieser Entwicklungsfelder im Wechselspiel zu betrachten und nicht zu sagen: Ich bin für Wohnen eingestellt worden! – Was mich angeht, ich bin tatsächlich für Altona und Wohnen eingestellt worden. Wir haben das im Gehen entwickelt! Ich weiß noch, es gab so eine Einladung verschiedener Träger, auch von Q8, und auf der waren die ganzen Logos oben dargestellt. Wir haben uns das angeguckt und dann gesagt: Das geht irgendwie nicht! Das geht nicht, dass wir da alle zusammen mit allen Logos stehen und Q8 ist eines von mehreren Logos! Zugespitzt gesagt: Eigentlich ist ein Träger mehr oder weniger im Quartier doch egal! [Anmerkung der Zeitzeugin: Es ging stattdessen darum, dem Miteinander vor Ort eine neue Funktion zur Verfügung zu stellen, die Prozesse, Dialoge und Zusammenwirken vor Ort ermöglicht.] Man kann sagen: Das, was vor Ort stattfindet, wird durch das Intermediär-Format Q8 unterstützt! So haben wir die Funktion über die Jahre im Gehen entwickelt bis zu dem Punkt, an dem wir heute sind.

Stiefvater: Du sprichst schon von den Entwicklungsschritten und den Learnings. Für uns gab es keine richtige Blaupause – wobei, es gab wohl eine Blaupause irgendwo im Ruhrgebiet mit Q4, also Quartier4. Kannst du etwas dazu sagen [zu Armin Oertel] oder du [zu Karen Haubenreisser]?

Und dann noch mal einen Schritt zurück: Was hat dich [Karen Haubenreisser] so infiziert oder begeistert, bei der Stiftung genau das machen zu wollen? Du warst ja vorher Geschäftsführerin bei FLAKS. Was hat dich dazu gebracht, zu sagen: Oh, das Projekt ist neu, das gibt es woanders nicht, das würde ich gerne machen? Da würde ich dich noch mal um eine Antwort bitten.

Haubenreisser: Ja, das ist insofern sehr spannend, als ich 15 Jahre Geschäftsführerin in einem Mehrgenerationenhaus in einem Stadtteilzentrum war, das auch sehr wertgeschätzt wurde: Größte Kooperationsanzahl, Frau von der Leyen kam damals, als sie noch Familienministerin war, und hat das Mehrgenerationenhaus eröffnet – tolle Sache! Gleichzeitig stieß man an allen Ecken und Enden an Grenzen, um miteinander zu kooperieren. Und auch ich, die ich als Geschäftsführerin kooperieren wollte, habe das getan aus meiner jeweiligen Sicht, aus dem heraus, was ich an Notwendigkeiten oder auch an Nöten hatte aus Sicht des Unternehmens, je nachdem, wie das Unternehmen zum Beispiel finanziell aufgestellt war.

Ich konnte mich sowohl beim Wollen, ich will mehr, ich will fürs Allgemeine denken, als auch beim Mich-Zurückhalten selber beobachten, weil ich meine eigene Einrichtung möglichst gut dargestellt haben wollte und auch haben musste. Das sind keine persönlichen Eigenschaften, sondern das macht strukturell so Sinn. Ich erinnere mich an Beispiele, wo ich etwas entschieden habe, was nicht im Sinne des Ganzen und im Sinne einer Innovation oder eines Besseren war, sondern im Sinne der eigenen Institution.

Als ich dann gehört habe, dass die Stiftung Alsterdorf ein Format entwickelte, in dem sie auf die Stadtteile guckt mit der Frage, wie man ermöglichen könnte – das war ja eigentlich ein Ermöglichungsformat –, dass die Akteure dort Strukturen weiterentwickelten, sodass neue Ideen entstehen könnten und auch Ressourcen besser genutzt würden, habe ich gedacht: Da möchte ich gerne dabei sein! Die Fragestellung hat mir gefallen, ohne dass ich genau wusste, wie das eigentlich gehen könnte. Den Unterschied [zwischen den beiden Funktionen] habe ich deutlich gemerkt – ich war ja die gleiche Person im gleichen Raum. Ich habe gemerkt, was auf einmal ging, weil ich anders verortet, weil ich unabhängig war, nicht einem Träger oder Trägerinteressen verpflichtet und eher zum Dialog einladen konnte, Gespräche führen und Erkenntnisse rückmelden. Auf dieser Basis konnten dann die Menschen, die Akteurinnen und Akteure und die Institutionen sich überlegen, was sie mit den Informationen machen wollten. Ein und dieselbe Person, aber eine andere Funktion und Aufhängung und enorm viel mehr Wirksamkeit! Das war natürlich sehr freudvoll!

Stiefvater: Armin, jetzt der Ăśbergang zu dir. Dein Anfang war ja alles andere als einfach, weil immer die Frage im Raum war: Wie verortet sich der ganze Finanzierungsdruck auch im Zusammenhang mit der NORDMETALL-Stiftung? Mit welchen Schwierigkeiten war das gerade am Anfang fĂĽr dich verbunden?

Oertel: Meine Erinnerung ist die: Der Anfang war echt schön, das waren Flitterwochen, denn ich wusste nicht, was das Projekt soll, und die meisten Leute drum herum auch nicht. Frau Schulz, die das damals mit viel Verve aufs Gleis gebracht hatte, hatte eine ziemlich genaue Vision, aber wie man das umsetzt, wusste sie auch nicht. Insofern war der Anfang ganz schön.

Aber das, was du ansprichst, was sich tatsächlich durch das ganze Projekt durchgezogen hat, obwohl wir jetzt seit über zehn Jahren damit unterwegs sind, ist, dass am Anfang – im Prinzip ein Jahr, nachdem ich da war, als ich gekommen bin, waren noch zwei Jahre Laufzeit – die Kolleginnen und Kollegen, die da gearbeitet haben, schon anfingen zu sagen: Wie geht’s denn weiter? und Wir müssen uns was anderes suchen! Und das zieht sich bis heute durch das ganze Projekt durch. Aber es wurde immer besser! Man muss sagen, es war von Anfang an astronomisch gut ausgestattet, denn die Ansprüche und die Idee dahinter waren astronomisch groß. Gleichzeitig muss man auch sagen – das ist das Dritte: Es gab eine extreme Unschärfe darüber, was diese Menschen, die da jeden Morgen aufstanden und ins Quartier gingen, machen sollten. Erst viele Jahre später habe ich, glaube ich, verstanden, aus was für einer Geschichte heraus die Idee von Q8 entstanden ist.

Eigentlich kann man das relativ einfach sagen: Die Ambulantisierung, die Dezentralisierung, die Auflösung des Stiftungsgeländes, der Prozess, dass die Menschen dahin gebracht wurden, in die Stadt, wo sie vorher nicht waren, dieser ganze Prozess wurde von Alsterdorf aus von Anfang an aktiv begleitet. Man hat die ganzen Jahre danach gesucht, wie man die Leute dabei unterstützen könnte, dass sie dort gut leben können. Es war ja kein Geheimnis: Die Menschen sind in die Stadtteile gekommen und sind da gelandet wie Ufos; dann waren sie zwar nicht mehr in der Zentraleinheit in Alsterdorf, aber sie waren in einzelnen Wohnhäusern und doch mehr oder weniger isoliert. Eigentlich war es der große Wunsch, Brücken zu bauen und das Quartier so stark zu machen, dass sie da nicht so isoliert wohnen blieben. So war die Ausgangslage. Also viel Unschärfe, viel Unklarheit, auch viele Schwierigkeiten mit dem Was macht man da eigentlich so genau bei gleichzeitiger großer Freiheit und guter Ausstattung.

Stiefvater: Herr Hinte, wie haben Sie die Idee beziehungsweise die Entwicklung von Q8 erlebt, …

Oertel: Da bin ich mal gespannt!

Haubenreisser: Sagen Sie jetzt nichts Falsches!

Stiefvater: … von der Grundidee an bis zum Auf-die-Straße-Bringen sozusagen?

Hinte: Ich grüble gerade, wann mich die Q8-Idee zum ersten Mal erwischt hat. Das war bei einem Vortrag, den ich irgendwann in den 2000er-Jahren gehalten habe – und das war nicht der, von dem Sie gesprochen haben, Frau Stiefvater, sondern danach war noch mal irgendwo einer – und da bin ich Frau Schulz begegnet, damals Vorständin bei Alsterdorf. Sie sprach mich in der Pause des Vortrags an: Hätten Sie nicht eine Idee, wie man diese Gedanken, die Sie da vorgetragen haben, außerhalb der klassischen, von Alsterdorf als Kerngeschäft betrachteten Einzelhilfe realisieren könnte? Da habe ich unbefangen gesagt, ich würde mal darüber nachdenken, ob man ein wie auch immer geartetes Sozialraum-Organisationsprojekt dazu auflegen könnte. Und dann sagte sie: Wenn ich dazu eine Idee habe, darf ich bei Ihnen anrufen?

Ich glaube, ein Jahr später hat sie angerufen und mir von ihrer Idee Q7 erzählt. Diese Idee war brillant, visionär und gleichzeitig völlig unausgegoren, also im Grunde so, wie Sie es gesagt haben, Herr Oertel. Und rückblickend gesehen, finde ich, war das auch die Stärke von Frau Schulz, die mit hoher Visionskraft und einer unglaublichen Energie ins System der klassischen, noch nicht überholten, aber zumindest traditionellen Einzelhilfe reinging und versucht hat, es so aufzumischen, dass man sich stärker am Raum ausrichtete. Das war ihre Idee Q7, später Q8.

Und die Idee war damals folgende: Wenn wir tatsächlich bei der Unterstützung einzelner Menschen nicht dabei stehen bleiben wollen, denen den Rollstuhl zu schieben, sie zu pflegen oder ihnen welche Unterstützung auch immer zu geben, dann müssen wir es schaffen, in den jeweiligen Quartieren viele, viele andere Ressourcen zu identifizieren, die uns dabei zur Seite stehen, die wir in unsere bisherige professionelle Tätigkeit einbinden können und von denen wir uns dann auch konstruktiv irritieren lassen. Dazu brauchen wir aber Sozialraumkenntnisse und vor allen Dingen soziale Räume, die in ganz vielen Bereichen konstruktive Kräfte entwickeln. Und dazu, so war ihre Idee, braucht man Menschen wie dann Frau Haubenreisser, die in die sozialen Räume reingehen, die Sozialräume entwickeln und dort Ressourcen finden. Und diese Ressourcen sind dann wesentlich nutzbar auch für die Einzelhilfe. Das war die abstrakte Idee, die im Kern großartig ist, aber sie war nicht so geerdet, dass die Details klar waren. Das heißt, die ersten Leute, die in die Jobs reinkamen – und ich glaube, Sie waren eine der Ersten, wenn nicht die Erste, Frau Haubenreisser –, tappten im Dunkeln. Sie tappten wirklich im Dunkeln! Es gab keine Fixsterne, keine Scheinwerfer! Diese Leute mussten im Dunkeln umherirren und mühsam auf der Grundlage der Vision selbst die kleinen Schritte erdenken, die man tun müsste, um der Vision näherzukommen. Das war, fand ich, eine sehr schwierige Zeit mit unglaublich viel Lernerfahrungen. Ich glaube – Herr Oertel, Sie haben vorhin gesagt, für Sie war der Anfang wie Flitterwochen –, für diejenigen, die damals als Projektleitungen reinkamen, war der Anfang nicht flitterwochenhaft, der war eher chaotisch und von Tasten geprägt, wo man hingehen musste, um irgendwelche Leute zu erreichen.

Ja, und da war es dann immer so, dass Frau Schulz als die Chefin des Ganzen jeden Tag mit neuen Ideen um die Ecke kam, die alle gut waren, aber die man, wenn man einen langfristigen Projektplan gehabt hätte, Schritt für Schritt hätte realisieren müssen. Aber Frau Schulz war, getrieben von ihrer durchaus richtigen konzeptionellen Energie, immer wieder eine, die sagte: Das müssen wir morgen schon machen, das müssen wir übermorgen schon machen! Das muss nächste Woche schon fertig sein! Und das hat den Menschen in ihren Funktionen viel Druck gemacht, was unter anderem auch dazu geführt hat, das darf man auch nicht verschweigen, dass Herr Oertel, der heute hier fröhlich sitzt und die Flitterwochen hinter sich hat, die dritte oder vierte Projektleitung war. Das heißt, die haben in dem Projekt drei oder vier Projektleitungen verschlissen, weil die alle hart auf dem Boden gelandet sind und nachher nicht mehr wussten, was sie da eigentlich sollten. Sie haben lange durchgehalten, Herr Oertel! Bis heute. Toi, toi, toi! Mal gucken, ob Sie beim nächsten Gespräch in zwanzig Jahren immer noch dabei sind. Okay, wenn Sie nicht dabei sind, hat’s auch damit zu tun, dass Sie dann ein fortgeschrittenes Alter erreicht haben.

Oertel: Da könnte ich schon in Rente sein.

Hinte: Ja, genau. Aber eben das war ein Kennzeichen dafĂĽr, dass die Projektidee noch nicht genug geerdet war.

Stiefvater: Der personelle Wechsel bezog sich nicht nur auf die Projektleitungen des gesamten Projektes, sondern auch bei den Koordinatoren in den Quartieren selber war die Schwierigkeit, für dieses neue Tätigkeitsfeld, das wir hier im Norden nicht kannten, auch geeignete Mitarbeitende zu finden.

Was ist im Nachhinein das, bei dem ihr sagt: Das haben wir jetzt gelernt und wissen jetzt genauer, worauf wir bei der Einstellung fĂĽr diesen neuen Job, der letztlich in den Quartieren geschaffen wurde, achten mĂĽssen? Also der Mediator im Quartier, was muss diese Person mitbringen?

Haubenreisser: Spinnen wir mal die Fäden. Ich glaube, dass es tatsächlich auch unterschiedlich war, wie die Personen den Anfang empfunden haben. Was mich angeht, fand ich es außerordentlich lustvoll, so ein Projekt im Gehen zu entwickeln.

Diese Personen brauchen einerseits eine Offenheit, denn ein Ziel ist nur als orientierende Perspektive oder Vision da, es gibt nicht so etwas wie In vier Jahren soll das und das stehen. Man muss also einerseits eine ganz große Offenheit besitzen und agile Prozesse befördern können und andererseits durchsetzungsstark sein oder linear gucken, wie einzelne Schritte gegangen werden können. Das ist jetzt ein Beispiel für ein Spannungsfeld. Ich glaube, dass wir mit der Zeit immer mehr dabei gelernt haben, wer Personen sein können, die wir als Intermediäre einstellen. Wir fragen zum Beispiel: Sind es Menschen, die sich in Spannungsfeldern gut bewegen können beziehungsweise die sogar Freude daran haben? Wir hatten auch viele Gespräche, in denen Mitarbeitende sagten: Aber du hast doch eben gesagt, ich soll es so machen, und jetzt sagst du, ich soll es so machen? Da gilt es zu wissen: Genau das sind die zwei Pole, die gerade benannt wurden, und es gilt, dazwischen ganz kreativ und frei einen jeweiligen, möglichst wirkungsvollen Weg zu finden und das so ermutigend zu tun, dass man nicht selbst handelt, sondern dass die anderen in ihren Tätigkeiten ermutigt werden und auch sich selbst nicht wichtig nehmen. Daher ist es für uns immer entscheidend gewesen: Wenn etwas gelingt und nachher auf die Beine gestellt wird, steht nicht Q8 drauf, sondern dann steht drauf: Das haben diese und diese Institutionen oder Menschen miteinander gemacht. Es braucht also sowohl in den Personen, die das durchführen, als auch in der Institution eine Bescheidenheit. Diesbezüglich haben wir auch als ESA sehr gerungen: Wollen wir als ESA, dass wir sichtbar sind? Wir müssen doch auch der Behörde zeigen, dass wir gute Prozesse machen! Und es heißt, auch wirklich in diese Bescheidenheit zu gehen, die so aussieht: Wir befördern diese Prozesse mit dieser großen Vision und sind gleichzeitig, wenn es am allerbesten gelaufen ist, nicht mehr sichtbar. Das muss man schon aushalten!

Stiefvater: Ja, und ich glaube, Armin hat diesen Druck sehr gespĂĽrt, auch wirklich Ergebnisse zu produzieren, oder?

Oertel: Na ja, wenn man das jetzt mal weiterspinnt mit dem Thema, welche Leute arbeiten da, war das so: Wenn man so ein Projekt mit so hohen Ansprüchen aufgleist, dann braucht man Leute, die vom ersten Tag an wissen, was sie tun, und auch die Kompetenzen dafür haben. Aber wir wussten gar nicht so richtig, was die tun sollten und welche Kompetenzen gefragt waren. Und um das aufzunehmen, was Karen gerade gesagt hat – ich würde das anders formulieren, aber wir meinen dasselbe –, ich glaube, die Leute mussten auch extrem unbescheiden sein, bescheiden im Sinne von Karen, also nicht immer denken, sie müssten vorne stehen, aber sehr unbescheiden, wenn es darum ging, Ergebnisse zu erzielen, dranzubleiben, hartnäckig zu sein. Und ich würde heute rückblickend sagen: Wir haben sehr viele Kolleginnen und Kollegen gehabt, die nicht gut klargekommen sind mit dem Job. Das war tatsächlich von Anfang an das Problem, dass die Erwartung da war, dass man etwas auf die Straße bringt, wie du immer sagst [gemeint ist Frau Stiefvater], und gleichzeitig gar nicht wusste, was man auf die Straße bringen sollte, und die Leute – und die waren alle engagiert – wussten es auch nicht.

Wenn ich jetzt zurückblicke, dann würde ich sagen, war ein Teil meiner Arbeit am Anfang, das Projekt erst mal ein bisschen abzupuffern, auch gegenüber Frau Schulz, weil sie – unabhängig davon und das weiß sie auch, wie genial ich finde, was sie sich ausgedacht hat und mit welcher Verve sie es vorangetrieben hat – die Leute permanent extrem irritiert hat, die sowieso schon irritiert waren. Das war keine einfache Aufgabe für mich, denn die Projektleitungen wollten Klarheit und die haben sie oft zuerst bei Frau Schulz gesucht. Dann haben sie sie bei mir gesucht. Dieses Hin und Her mussten wir erst mal eindämmen und gleichzeitig mussten wir weiter konzeptionell darüber nachdenken, was wir eigentlich machten. Karen hat es vorhin schon angesprochen, wir hatten am Anfang gar keine so richtige Idee und sind dann immer mehr auf das Thema Intermediär gegangen, haben auch ein bisschen geguckt, was die Kolleginnen und Kollegen von Herrn Hinte in Essen machen, also die Stadtteilmoderatorinnen und -moderatoren, so heißen die dort, glaube ich, um so aus der Gemeinwesenarbeit heraus sich eine Funktion zu erdenken, die auf eine Art tatsächlich von den Interessen der Menschen dort in den Quartieren ausgeht und sie unterstützt, dass sie laut, dass sie stark sind, und die [Intermediärinnen und Intermediäre] gleichzeitig für sich auch die Aufgabe hat, hin zu den Trägern, hin zu der Verwaltung, hin zu anderen Akteuren, die entscheiden, Brücken zu bauen.

Stiefvater: Wie ist es denn gelungen – vielleicht können wir noch mal in einer anderen Perspektive auf Q8 schauen, denn es gab ja eine Weiterentwicklung –, auf den Einzelnen zu gucken?

Das Modell Q8 blickt auf die Strukturen der Quartiere, um sie inklusionsfähig zu machen und daran zu arbeiten. Und immer ist es das eine Thema, nämlich, dass es einerseits die Unabhängigkeit gibt – Q8 als Logo dort, wo gar nicht Alsterdorf draufsteht –, aber andererseits Q8 natürlich auch sichtbar aus der Eingliederungshilfe finanziert wird. Und gerade die Assistenzbereiche [aawest und aaost] und alsterarbeit fragen danach: Was haben wir eigentlich davon? Wo ist der unmittelbare Nutzen? Woran merke ich das eigentlich? Also es geht um diesen Grundkonflikt. Könntet ihr noch mal sagen, wo, aus eurer Sicht, wir heute stehen, an welcher Weichenstellung? Ein Dauerthema war es von Anfang an und ist es heute wieder.

Haubenreisser: Ich finde, vielleicht kann man sagen, es gibt deutliche Hinweise, dass das Arbeiten an Strukturen mittels des intermediären Formats bessere Strukturen und bessere Ressourcennutzung ermöglicht. Das ist sehr deutlich! Wir könnten jetzt mehrere einzelne Beispiele aufzählen, wo es unmittelbar der Eingliederungshilfe oder besser gesagt den Menschen mit Unterstützungsbedarf zugutekommt. Nehmen wir mal die inklusive Mitte Altona. Da sind barrierefreie öffentliche Räume, barrierearme Wohnungen entstanden und gleichzeitig ist es ermöglicht worden, dass Menschen mit Behinderungen dort eingezogen sind. Das wäre ohne so ein Format in der Weise nicht geschehen und gleichzeitig ist da noch richtig Luft nach oben. Ich glaube, dass wir da noch weiter miteinander im Dialog bleiben, uns weiterentwickeln, besser werden oder uns noch besser aufeinander zubewegen und uns verständigen sollten. Da geht noch mehr! Das ist der ganz normale Verlauf, dass wir, nachdem wir dieses Format entwickelt haben, jetzt an einer bestimmten Klarheit sind, noch mal in die nächste Runde gehen und gucken: Wie können wir uns noch systematischer aufeinander einstellen. Da ist aus meiner Sicht noch viel Land zu gewinnen, oder, was meinst du, Armin?

Oertel: Ich würde sagen, ich habe das von Anfang an so empfunden: Ich musste erst mal die ESA kennenlernen, aber ich habe für mich ziemlich schnell festgestellt, dass das kleine Projekt Q8 und die Assistenzgesellschaften der ESA eigentlich sehr stark getrennt und auch in einem gewissen Sinne eine Konkurrenz waren, wobei ich immer sagen würde: Wir sind so ein Miniprojekt verglichen mit den Riesenassistenzen mit ihren Hunderten von Mitarbeitenden und Tausenden von Menschen mit Handicap, für die sie Assistenz machen. Ich habe es so empfunden: Wir waren immer schon ein bisschen das ungeliebte Kind. Wir haben uns sogar – das kann ich jetzt für uns sagen – ein Stück von der Eingliederungshilfe wegbewegt, um eine Klarheit zum Format Intermediär und zur Unabhängigkeit zu haben. Das hat die Zusammenarbeit nicht überall blockiert, aber es hat sie auch nicht gerade befördert. Ich glaube, wir sind jetzt seit eineinhalb Jahren auf einem ganz guten Weg, dass wir uns wieder stärker aufeinander zubewegen und auch klarer formulieren können, was wir von der Eingliederungshilfe brauchen und umgekehrt natürlich genauso.

Stiefvater: Wir haben mit diesem Sozialraumzuschlag Q8 entwickelt und dann in der Rahmenvereinbarung mit der Behörde, die über vier Jahre lief, auch festgeschrieben. In der nächsten Rahmenvereinbarung ist aber die Perspektive auf das Individuum, den einzelnen Menschen, gerichtet und Qplus entwickelt worden. Wie ist das zustande gekommen, wie kam die Entscheidung dafür und was haben wir da auf den Weg gebracht?

Oertel: Ich finde, das mĂĽsstest du [zu Frau Stiefvater] sagen!

Haubenreisser: Genau, ganz genau. (lacht) Ja, Hanne, wie ist das zustande gekommen und wie haben wir das auf den Weg gebracht?

(Allgemeines Gelächter)

Stiefvater: Ja, so ist das. (lacht mit)

Oertel: Ich glaube, Herr Hinte weiĂź auch etwas dazu.

Stiefvater: Man kann es, glaube ich, ziemlich schlicht sagen. Wir haben gemerkt, wenn wir wirklich Inklusions- und Teilhabeprozesse mit dem Ansatz der Sozialraumorientierung und der Ressourcenorientierung in die Umsetzung bringen wollen, dann reicht es nicht, nur von den Strukturen her zu gucken, sondern dann muss man auch mit dem Menschen gemeinsam an seinen Möglichkeiten, an dem, was er selber will, arbeiten, ihn darin begleiten, auch die Ressourcen um sich herum nutzbar zu machen. Und im besten Fall kommt man sich dann sogar entgegen, wenn es in einem Quartier ist. Deswegen haben wir die Idee der sog. Quartierlotsinnen und -lotsen, heute in dem Modellprojekt Teilhabelotsinnen und -lotsen, entwickelt, die dem Menschen mit Behinderung an die Seite gegeben werden, um mit ihm zusammen trägerunabhängig zu gucken, dass er nicht zuerst die Forderung stellt Ich brauche die und die Hilfe, und dann kommt die professionelle Antwort, sondern erst mal schaut, was kann ich selber tun und was können andere womöglich tun. Das ist eine völlig andere Herangehensweise, eine ganz andere Arbeitsweise als die, in der wir bisher gearbeitet hatten. Wie lange machen wir das jetzt?

Haubenreisser: Seit 2014.

Hinte: Ich meine, ein entscheidender Punkt war, dass speziell Frau Schulz klar wurde, dass die Unabhängigkeit von solchen Leuten wie bei Q8 ein wesentliches Element ist. Bislang galt immer, jemand ist irgendwo angestellt, und wenn jemand angestellt ist, dann muss man auch in Diensten dieser Organisation stehen und im Sinne dieser Organisation arbeiten. Bei Q8 haben Sie und auch Frau Schulz festgestellt – Sie haben das gerade beschrieben –, dass die Unabhängigkeit wichtig ist und man nicht das Logo des Trägers überall draufstempeln muss, sondern dass man gleichsam als eine Instanz, die nicht verdächtig ist, die eigenen Leistungen verkaufen zu wollen oder noch mehr Knete zu baggern, an einen Stadtteil rangeht und versucht, dort den Menschen Unterstützung dabei zu geben, klarzukriegen, was sie wollen.

Das hat Frau Schulz auf die Einzelarbeit übertragen. Sie hat gesagt: Im Grunde machen wir in Alsterdorf den Fehler, dass wir ein großes Portfolio an ausgezeichneten Leistungen haben, und wir umstellen damit die Leute. Die kommen gar nicht dazu, nachzudenken, was sie wirklich wollen, sondern die kommen in die Situation rein, dass sie zwischen 37 hochwertigen Alsterdorfangeboten entscheiden sollen, und das erschlägt geradezu. Das ist genauso, wie wenn Sie ein Jackett brauchen, in ein Kaufhaus gehen und unter den 27 eins aussuchen sollen; aber da hängen 27 Jacketts, die alle irgendwie gut sind, und Sie übersehen dabei, dass Sie für sich noch gar nicht klarhaben, was Sie wirklich an Farbe und an Zuschnitt wollen. Das heißt, das Angebot erschlägt den eigenen inneren Radar. Und das hat sie auf die Einzelhilfe übertragen und gesagt: Wir müssen Menschen finden und mit denen daran arbeiten, bevor die möglicherweise leistungsberechtigten Klientinnen und Klienten – so heißen die dann – ins System reinkommen: Wie wollen wir leben, was ist uns wichtig im Leben, was bedeutet uns Leben, was sind die Dinge, an denen unser Herz hängt, unabhängig davon, welche Angebote anschließend die Evangelische Stiftung Alsterdorf oder wer auch immer hat? Dieser Gedanke ist im Grunde derselbe Kerngedanke wie bei Q8, nur von Quartieren auf Einzelpersonen übertragen. Und der Gedanke war zündend, der war klasse.

Bis heute ist der Gedanke klasse, auch wenn ebenso gilt: Man muss Umwege gehen. Man wusste noch nicht genau, wie das geht. Es wurde damals lange darüber debattiert: Sollen solche Lotsinnen und Lotsen bei Alsterdorf angestellt sein oder gründet man eine eigene kleine Firma, die solche Lotsinnen und Lotsen, wie sie damals noch hießen, in voller Unabhängigkeit einsetzt.

Frau Schulz war eher eine Verfechterin davon, zu sagen: Die müssen ganz unabhängig irgendwo in einer Instanz sein, die nichts mit Alsterdorf zu tun hat. Ich weiß noch um die Debatten, die ich mit Frau Schulz hatte. Ich hatte eine andere Meinung als sie, denn meine Befürchtung war, wenn man diese Lotsinnen und Lotsen außerhalb von Alsterdorf ansiedeln würde, dann würde das so etwas werden wie damals in der Gemeinwesenarbeit: Geachtet, jung und wild – gute Ideen, aber weil man keinen institutionellen Boden hatte, würde die ganze Nummer wieder versickern.

Ich würde heute sagen, es ist richtig, dass die Lotsinnen und Lotsen bei Alsterdorf oder möglicherweise da und dort auch anderswo angestellt sind, aber sie müssen innerhalb der Organisation Alsterdorf hohe Autonomie in ihrer Arbeit haben. Das kann man hinkriegen! Und das wiederum ist ein Verdienst von Alsterdorf – hallo Alsterdorf, das habt ihr gut gemacht! Ihr habt in Alsterdorf so etwas wie Nischen eingerichtet, in denen dann tatsächlich Menschen, und das ist die Abteilung, in der sie arbeiten, Lotsinnen und Lotsen unabhängig in der Form arbeiten können, wie das Konzept es vorsieht. Und seitdem sie das können, fließen die Erkenntnisse der Lotsinnen und Lotsen mehr und mehr tröpfchenweise in die Institution ein, die schon längere Jahre reine Einzelhilfe macht.

Stiefvater: Letztlich haben wir einen neuen Beruf kreiert, den es so in der Form in der Eingliederungshilfe bundesweit nicht gibt. Und damit sind wir auch durch unterschiedliche Phasen gegangen. In der ersten Phase der Einstellung der Lotsinnen und Lotsen waren diese tatsächlich übergreifend eingestellt. Teilweise hatte Frau Schulz als Vorstand direkt in der Praxis mit den Lotsinnen und Lotsen gearbeitet. Mittlerweile, jetzt seit drei Jahren, sind die Lotsinnen und Lotsen direkt bei den Gesellschaften angestellt und arbeiten dort integriert im Eingangsbereich. Also auch da haben wir verschiedene Lernkurven gemacht. Wir sind auf einem Weg, der noch lange nicht abgeschlossen ist! Und die weitere Entwicklung ist, dass wir Teilhabelotsinnen und -lotsen jetzt trägerunabhängig installiert haben. Das ist unser neues Projekt: Wir haben mit den anderen Trägern Leitplanken zur Sozialraumorientierung entwickelt und sind ehrlich gesagt mitten im Prozess.

Leider müssen wir zum Ende kommen. Ich würde jetzt gerne in der Abschlussrunde noch ein paar Fragen stellen: Wenn man jetzt noch mal zurückblickt auf die letzten 20 Jahre, als Herr Hinte das erste Mal in Alsterdorf war und die Meinung vorherrschte: Oh Gott, nein, das ist ja interessant für die Kinder- und Jugendhilfe, aber nicht für die Behindertenhilfe. Wo ist Alsterdorf heute bei der Durchdringung des Ansatzes Sozialraumorientierung und mit dem In-die-Praxis-Bringen, mit den Vereinbarungen, mit der Zusammenarbeit auch mit den Fachämtern, mit der Behörde, mit den anderen Trägern? Was kann man heute abschließend bewerten? Wenn wir eine Zwischenbewertung machen, wo stehen wir? Kann man damit zufrieden sein? Wo wird man aber auch unruhig und nervös und denkt: Nein, nein! Das reicht alles noch gar nicht! Vielleicht in dem Sinne noch mal eine Abschlussrunde. Wer fühlt sich aufgefordert, wer möchte? Du? [zu Frau Haubenreisser]

Haubenreisser: Ich finde, wir sind – und jetzt sage ich mal das große Wir – Alsterdorf und auch Wir – trägerübergreifende Eingliederungshilfe – ganz schön weit gekommen, auch mit der Sozialbehörde und dem Fachamt, und zwar in der Weise, dass wir wirkungsvoll sind, wenn wir uns gemeinsam auf ein Ziel und eine Vorgehensweise ausrichten. Das finde ich wirklich stark! Das finde ich stark in Hamburg! Und ich erlebe das auch so, dass die einzelnen Akteure an so einer wirkungsvollen Arbeitsweise richtig Spaß haben, an diesem Wechselspiel Wir setzen Modellprojekte auf und die machen wir, weil wir dann die Gelingensfaktoren identifizieren undder Frage Wie kriegen wir Gelingensfaktoren ins Allgemeine transferiert?

Stiefvater: Also im Sinne von Prototypen zu entwickeln und zu gucken: Ist es das jetzt oder mĂĽssen wir neue aufsetzen.

Haubenreisser: Genau, und nicht Wir machen Modellprojekte und jetzt gucken wir wieder nach einer Förderung für noch mal drei Jahre! Das ist ja nie unsere Arbeitsweise gewesen! Ich finde, das ist eine tolle Gelingensrichtung miteinander. Die andere Seite ist: Wir wollen alle zusammen so viel und nehmen jede Konstellation zum Anlass, um zu gucken, was wieder daraus erwächst, sodass wir auch, finde ich, mit allen Ressourcen, die wir haben, gut gucken müssen: Wie managen wir das alles? Wie kriegen wir das alles auch gut genug aufgegleist, dass es uns nicht selbst überholt?! Also ich finde, wir sind strukturell wieder an so einem Punkt, wo wir auch mal Nein sagen müssen. Das war lange Zeit nicht der Fall. Es kamen viele Leute, die gefragt haben, was macht ihr da? Und wir haben immer gesagt: Gerne tauschen wir uns mit allen aus. An so einer Stelle müssen wir noch mal qualitativ umstrukturieren und schauen: Entwickeln wir vielleicht irgendwelche systematischeren Fortbildungsformate oder entwickeln wir unsere Sozialraumtage weiter? Da sind wir wirklich gerade im Moment an einer Grenze der Innovation, vielleicht an einem qualitativen Umschlag. Es wäre toll, in ein paar Jahren noch mal zu lesen, zu hören, zu sehen, was geworden ist.

Oertel: Als Von-außen-Kommender finde ich, dass die letzten 20 Jahre in der ESA ein unglaublicher Umbruch waren, wenn ich daran denke, was ich von Leuten, die damals gearbeitet haben, noch erzählt bekommen habe, darüber, wie das auf dem Zentralgelände war, wo es ja heute keine zentrale Unterbringung mehr gibt. Ich finde das wirklich genial, was da gelungen ist und wie weit man gekommen ist. Da kann man wirklich nur sagen: Hut ab! Am Anfang gab es den Versuch, mit Community Care konzeptionell ein Rückgrat zu finden, und dann ist man Ende der Nuller-Jahre auf Sozialraumorientierung umgestiegen, was, wie ich finde, übrigens sehr gut zusammenpasst, weil das eine ähnliche Denke ist. Ich würde mal sagen, dass diese Sozialraumorientierung als Leitkonzept oder als Möglichkeit, wie man das aufstellen kann, für die ESA wahnsinnig nützlich ist, und gleichzeitig ist die ESA auf einem langen Marsch, den sie eigentlich, wenn man auf die nächsten 50 Jahre guckt, gerade erst angefangen hat.

Hinte: Ich finde, es ist Ihnen [gemeint sind die Anwesenden] gelungen, Kerngedanken des sozialräumlichen Ansatzes wachzuhalten und sie in einzelnen Feldern projekthaft zu installieren, sodass sie als Dauer-Irritation für die klassisch-traditionellen Systeme fungieren. Der Grundgedanke von Sozialraumorientierung ist, dazu beizutragen, dass die gut finanzierten Helfersysteme aus den jeweiligen Gesetzen nicht erschlagend für Menschen wirken, sondern unterstützend für den jeweiligen Lebensentwurf der Menschen.

Dieser Grundgedanke ist einer, der den deutschen Gesetzen fremd ist. Er ist ihnen fremd! Die deutschen Gesetze sind dafür da, Menschen in Not oder in schwierigen Lebenssituationen Unterstützung zu geben. Das ist aber ein betreuender Ansatz, der im Kern nicht beinhaltet, dass Menschen auf eigenen Beinen stehen können, um ihren oft schrägen, bedrohlichen, wilden, unberechenbaren, manchmal sogar leicht windigen Lebensentwurf zu realisieren.

Das hinzukriegen und den Reichtum der Organisationen auf die Welt der Menschen zu übertragen, damit die was haben von dem, was in der Welt der Bürokratie vorhanden ist, dafür haben Sie sowohl in Q8 wie auch Qplus den Weg aufgezeigt. Sie haben gezeigt, wie es geht, aber Sie sind immer noch die Aliens! Sie sind immer noch diejenigen, die mühsam darum ringen müssen, dass diese Gedanken in die klassischen Systeme einfließen, obwohl vom Wording alle dafür sind. Aber die Umbaunotwendigkeiten in den Systemen sind enorm und die sind widerständig, so wie damals die Behindertenhilfe sagte: Geht überall, aber nicht bei uns! Und so ist das bei den anderen Systemen auch. Sie stehen genau an dieser Stelle. Sie haben diesen Gedanken wachgehalten, Sie haben Rohlinge geschaffen, die etwas gezeigt haben. Und was das Einsickern in die Institutionen betrifft, da würde ich nicht riskieren, eine Prognose abzugeben, denn Institutionen sind sperrig, sind auf Beharrung gerichtet, finden das, was sie in den letzten Jahren gemacht haben, immer noch gut, und jede Irritation wird eher abgelehnt.

Ich bin gespannt, wie das sowohl in Alsterdorf als auch in Hamburg laufen wird. Sie haben gute Karten, denn zumindest die Konzeption wird von allen geliebt und da gibt es keine Widersprüche, aber gleichzeitig ist da auch ein Trick drin. Sie werden gelobt, gelobt, gelobt, gelobt, man wird totgelobt, man wird stillgelobt, man wird gelobt mit der Folge, dass man still stolz ist, aber wenn man lästig fällt, wird man nicht mehr gelobt. Und dieses Lästigfallen, das muss, meine ich, bleiben. Das sind Sie da und dort schon, aber darüber, ob das die Folgen hat, die wir uns manchmal auch gemeinsam in fröhlichen Stunden wünschen, würde ich keine Prognose abgeben.

Stiefvater: Ich finde, das ist ein super Schlusswort an dieser Stelle von Herrn Hinte. Vielen Dank noch mal! Das ist auch der Grund, warum wir es so gut finden, dass Sie uns begleiten, weil wir diesen Stachel im Fleisch unbedingt weiterhin brauchen, um wach zu bleiben. Also ich glaube, Lob ist das eine, aber der Ansporn, die Institution weiter umzubauen, der bleibt auf alle Fälle. Danke schön. Bis hierher!