01 / 1999 – Interview mit Axel Winkler

Teilnehmende

Axel Winckler

Reinhard Schulz

Monika Bödewadt

Transkription

Bödewadt: Ich begrüße Sie zum Interview. Mein Name ist Monika Bödewadt. Wenn Sie sich bitte einmal vorstellen mögen.

Winckler: Mein Name ist Axel Winckler. Ich habe seit 28 Jahren ein Architekturbüro mit einem Partner zusammen. Wir sind 15 Leute im Büro und beschäftigen uns in unterschiedlichster Weise mit Architektur und Stadtplanung, von Wohnungsbau über Kitas, Bahnhöfe bis hin zu Stadtentwicklungsprojekten wie z. B. für die Stiftung Alsterdorf seit 1997.

Schulz: Reinhard Schulz. Ich koordiniere das Dokumentationsprojekt „Vierzig Jahre Eingliederungshilfe in der Evangelischen Stiftung“ und freue mich in diesem Zusammenhang Axel Winckler hier begrüßen zu dürfen mit seiner Expertise und seinem Erfahrungswissen zu den Themen, die er hier gerade benannt hat. Es geht um den Konversionsprozess der Stiftung Alsterdorf, vor allen Dingen um das Alsterdorfer Gelände.

Das Stichwort, die Jahreszahl 1997, ist schon gefallen. Wie kam es zum ersten Kontakt mit der ESA bei dir?

Winckler: 1997 war ich tatsächlich noch im Büro Stabenow angestellt. Ein Jahr später war ich dann auch Partner in diesem Büro. 1997 kam ein Kontakt über die Landeskirche in Kiel, über Herrn Dr. Poser, zustande, der unserem Büro den Auftrag gab, uns die Planungen zum Stiftungsgelände der ESA anzugucken und zu schauen, ob wir dort vor allem unter städtebaulichen Gesichtspunkten beratend tätig sein könnten.

Schulz: Da gab es bestimmt eine erste Situation, als du das Gelände betreten hast. Kannst du dich noch erinnern, wie das damals war? Gibt es geprägte Bilder bei dir, die du abrufen kannst?

Winckler: Am Anfang war gar nicht das Gelände das Thema, sondern eine konkrete Aufgabe, und zwar die, einen Erweiterungsstandort der Bugenhagenschule vorzunehmen. Es gab einen schon fast festen, zentralen Standort dort, wo das abgerissene Carl-Koops-Haus stand, also zwischen Carl-Koops-Haus und alter Küche. Auf dem schönen grünen Gelände mittendrin sollte die Erweiterung der Schule durch eine Mensa passieren. Da man die alte Küche auch als zukünftige Küche andachte, war es ganz sinnvoll geplant, die Schule in die Nähe zu setzen. Das war genau der Punkt, an dem wir sagten: Also ehe ihr da jetzt eine Grünfläche überplant, überlegt noch mal: Ist es richtig, die Schule einfach in eine Freifläche zu bauen, oder macht es vielleicht viel mehr Sinn, zu überlegen, wie ihr euch auf dem Gelände entwickeln wollt, was ihr zukünftig vorhabt und welche Spielräume man sich verbaut oder ob man sie vielleicht einfach noch freilassen kann.

Das war der Auftakt dafür, zu sagen: Denkt mal städtebaulich über das Gesamtgelände nach! Was soll in Zukunft passieren?

Schulz: Die Stiftung war damals ein Sanierungsfall. Sie befand sich noch mitten in der Sanierung, auch was die finanzielle Absicherung anging. Wie hast du damals die verantwortlichen Planerinnen und Akteure erlebt im Umgang mit dem Thema Weiterentwicklung des Geländes? Wie war für dich die Idee: Wir setzen in den grünen Bereich einfach eine Schule? Dazu ist es ja nicht gekommen.

Winckler: Dazu ist es glücklicherweise nicht gekommen! Es gab einen Wettbewerb, der ganz woanders stattfand, bevor überhaupt dieser Geländeentwicklungsprozess startete. Erst dann kamen die Akteure und Akteurinnen nach und nach dazu. Ich erinnere mich, dass es am Anfang die Vereinbarung mit den Mitarbeitenden gab, auf die nächsten Gehaltserhöhungen zu verzichten – ich weiß nicht mehr, wie lange …

Schulz: Fünf Jahre.

Winckler: Fünf Jahre und damit waren nicht nur die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer oder die Geschäftsbereiche an Bord, sondern wir hatten auch immer wieder mit dem Betriebsrat und den Vertreterinnen und Vertretern der Mitarbeitenden zu tun. Aber das kam dann letztendlich auch später.

Auffällig war natürlich: Man kam auf ein Gelände, das durch einen gusseisernen Zaun begrenzt war, es gab einen Pförtner und eine Schranke. Das war schon noch eine geschlossene Anstalt! Als wir die ersten Rundgänge durch das Gelände machten, war auffällig, was für marode Gebäude dort standen. Ich erinnere mich an Namen wie Bismarck, Carlsruh, so kleine, fast barackenartige Gebäude, die auf dem ganzen Grundstück verteilt waren und auf alle Fälle nicht mehr zeitgemäß waren. Daraus entstand der Prozess. Man sagte: Okay, jetzt überlegen wir mal, wie sich das Ganze entwickeln kann!

Schulz: Wie hast du die Anfänge der strategischen Umwandlung dieses Geländes in Bezug auf die Akteurinnen und Akteure entwickelt? Du selbst warst ja Angestellter im Büro Stabenow.

Winckler: Damals war ich noch Angestellter, und als es mit der Geländeentwicklungsplanung losging, war ich Partner im Büro und hatte von Büroseite her die Aufgabe übernommen, diesen Prozess zu entwickeln.

Ich glaube, wir kamen relativ schnell zusammen – ich weiß nicht mehr so ganz genau, ob es 1998 war –, der starke Vorstand, so muss man das sagen, Herr Baumbach als Vorstandsvorsitzender und Herr Kraft als eine starke kaufmännische Kraft. Die beiden haben es relativ schnell verstanden, alle Geschäftsbereiche zu bündeln und die Entscheiderinnen und Entscheider in eine Lenkungsgruppe zu bringen, die wir, glaube ich, jeden Montagmorgen ab 8.00 Uhr oder 9.00 Uhr im Vorstandsbüro von Herrn Baumbach haben tagen lassen. Das war ein ganz wichtiger Schritt, weil alle Beteiligten dabei waren, die irgendwie mit der Entscheidung über die Entwicklung zu tun hatten.

Schulz: Herr Baumbach ist in der [Mitarbeiter-]Zeitung, die ich hier dabeihabe, Aufbruch 2005, noch mal zitiert als „Gestalter“ und „Motor“ der Veränderung, gerade was das Thema bauliche Veränderung angeht. Wie hast du vor allen Dingen den Vorstandsvorsitzenden, der eigentlich ursprünglich die Funktion eines Pastors hatte, in seiner Rolle erlebt?

Winckler: Er hat selbst immer gesagt, dass er gerne Architekt geworden wäre, wenn er nicht Pastor geworden wäre. Diese leidenschaftliche Rolle eines Gestalters lag ihm. Das ist das eine und das andere ist, dass er ein unglaublich starker Motor des Ganzen war, und wenn man so eine starke Kraft hat, kann man etwas verändern. Er übernahm die Verantwortung, ohne zu wissen: Geht es gut, geht es nicht gut? Er hat diese Verantwortung getragen und Entscheidungen getroffen, die heute teilweise zu sehen sind.

Schulz: Wie wichtig war es in der Phase, als ihr neue Pläne entwickelt habt – Stichwort Stadtplanung auf dem Gelände –, dort verständige Akteurinnen und Akteure zu haben, die für die Umsetzung von Prozessen auch verantwortlich sind? Wie war das Zusammenspiel an der Stelle?

Winckler: Ganz wichtig dabei war natürlich das Zusammenspiel mit der Stadt, mit dem Bezirk und mit der Stadtplanungsabteilung. Es gab dort keinen Bebauungsplan. Das Gebiet war eingezäunt und als „Sondergebiet“ ausgewiesen, für das die Stiftung Alsterdorf zuständig war. Wir haben relativ früh mit dem Stadtplanungsleiter abgestimmt, dass hier auch kein Bebauungsplan stattfinden musste. Bebauungsplan heißt, man definiert sehr genau, in welchem Maß, in welcher Größenordnung, wo genau welches Gebäude zukünftig stehen wird. Uns war aber klar, dass das ein Prozess werden würde, wo man das noch gar nicht definieren konnte. Wir waren völlig offen, weil wir gar nicht wussten, in welche Richtung es gehen sollte. Also wäre der Schritt, einen Bebauungsplan zu machen, nicht der richtige gewesen.

Wir haben uns sehr schnell entschieden. Das war in Hamburg sehr selten, das alles über einen Rahmenplan festzulegen oder zu definieren, ein Abkommen zwischen der Stiftung und dem Bezirk zu schließen, also eigentlich eher eine Vereinbarung darüber, in welche Richtung das gehen könnte. Das ist ein flexibles städtebauliches Mittel, dass nicht alles festgelegt, sondern ein Prozess ist, der sich auch wandeln kann. Es war ganz, ganz wichtig, diesen Schritt mit der Stadtplanungsabteilung vorzunehmen, denn sonst hätte man vermutlich den Plan schon 150 Mal geändert.

Schulz: Wie offensichtlich war es beziehungsweise wie sehr lag es auf der Hand, dass bei dieser Geländeöffnung am Ende so etwas wie ein, ich sag jetzt mal, kleines Stadtteilzentrum herauskommt? Gab es bei den Anfängen der Überlegungen schon diese Zielsetzung?

Winckler: Nein, die gab es noch nicht! Ich sagte ja schon, es ging um kleinere Projekte wie die Erweiterung der Schule; es gab weitere Projekte wie zum Beispiel, Gebäude wie z. B. Haus Bismarck, Haus Carlsruh und wie sie alle hießen abzureißen, weil sie überhaupt nicht mehr zeitgemäß für die damalige Art des Wohnens für Menschen mit Behinderung waren.

Man schaffte Wohngruppen, für die man die ersten Apartmenthäuser auf dem Gelände baute und für die man überlegte: Wo und wie könnten die Wohngruppen untergebracht werden, in welchen Größenordnungen könnten solche Wohngruppen sein, was ist angemessen für den aktuellen Zeitpunkt? Erst sehr viel später kam die Überlegung: Wenn wir immer mehr Leute aus dem Gelände rausziehen, also in Wohngruppen nicht nur auf dem Gelände, sondern vor allem außerhalb des Geländes in die Stadtteile verteilen, was passiert dann noch auf dem Gelände? Dann ist es nahezu leer? Es gibt zwar noch das Krankenhaus, es gibt noch die Schule, es gibt noch ein paar zentrale Einrichtungen, aber was passiert mit dem ganzen Gelände, wo Menschen mit Behinderung gelebt hatten? Erst in dem Moment war klar: Wir müssen ein Konzept dazu entwickeln, was mit diesen Leerflächen passieren soll.

Der entscheidende Gedanke war, dass ein eingezäuntes Gebiet, das man auflöst, erst mal Angst macht, überhaupt fremde Leute, die reingehen oder rausgehen. Also musste man überlegen: Wie schaffen wir es, das Ganze so einladend zu machen, dass Leute auf das Gelände kommen? Da kam dann dieser Prozess in Gang, eigentlich erst mal als die verrückte Idee: Wir machen ein Stadtteilzentrum, denn dann kommen die Leute, und wenn da auf einmal Läden sind, dann kommen sie automatisch, sie fahren ganz in das Gelände rein und gehen da ganz normal drauf. Das war aber erst mal so etwas wie eine Utopie.

Schulz: Erinnerst du dich noch an die Situation, als das zum ersten Mal Thema wurde? War das bei diesem berühmten Kreis um Herrn Baumbach oder in anderen Zusammenhängen?

Winckler: Das war diese Lenkungsgruppe, die tatsächlich jeden Montag stattfand, an der auch alle Planerinnen und Planer, alle Geschäftsbereiche teilnahmen, und irgendwann kam dieses Thema auf den Tisch. Es wurde uns klar, dass man das nicht mehr im kleinen Kreis lösen konnte. Daraufhin starteten wir einen Moderationsprozess mit verschiedensten Workshops mit verschiedensten Themen und in verschiedensten Zusammensetzungen. Alle Geschäftsbereiche waren noch mal separat in Workshops, um zu überlegen: Wie wollen wir uns strategisch entwickeln, wie soll sich alsterarbeit entwickeln, wie soll sich die Wohnsituation, das Krankenhaus verändern, gibt es Erweiterungsbedarf, gibt es keinen, gibt es bei der Schule noch mehr Erweiterungsbedarf oder werden die sich auch eher dezentralisieren in die Stadtteile hinein und so weiter?

All diese Ideen kamen auf und dann entstand tatsächlich irgendwann diese Utopie: Wir machen ein Stadtteilzentrum! Wir werden einen Platz schaffen, auf dem ganz viel stattfinden kann! Wir werden Aldi und Edeka dahinbringen! Alle sagten: Das kann nicht wahr sein, dass wir jetzt Aldi auf das Gelände bringen! Das war ein sehr spannender Prozess, darüber nachzudenken, wie man Öffentlichkeit auf dieses doch sonst nur als „geschlossen“ bekannte Gelände bringt.

Schulz: Du hast die Workshop-Prozesse angesprochen. Mindestens mit einem Teil deiner Arbeitszeit warst du auch Moderator in diesen Prozessen. Das heißt, du hast diese Workshop-Prozesse miterlebt, mitgestaltet, mitmoderiert. Wenn du das in Beziehung zu anderen Unternehmensentwicklungen setzt, hast du eine Entsprechung gefunden zu dem, was bei uns lief? Wie speziell war das, was da passierte?

Winckler: Das war schon sehr speziell, weil es eine Mischung war aus dem, was mein Beruf, meine Berufung ist, Architektur und Stadtplanung, und meiner Funktion im Moderationsprozess. Das war großartig und sehr spannend!

Schulz: Wie hast du die weiteren handelnden Akteurinnen und Akteure in diesen verschiedenen Bereichen erlebt? Du hast gerade angedeutet, dass es einerseits diese Geländeentwicklungsplanungsgruppe und andererseits diese Investitionsgruppe gab. Letzterewarparitätisch besetzt mit Mitarbeitenden, Mitarbeitervertretung und Arbeitgeberseite und sollte das eingesparte Geld für weitere Projekte verplanen, Stichwort Apartmenthäuser. Wie hast du diese Akteurinnen und Akteure in dieser Situation erlebt?

Winckler: Das war sehr spannend, denn es war erst einmal schwer, den Mitarbeitervertreter*innen zu verkaufen, dass sie auf einmal Geld ausgeben oder Geld einsparen sollten dafür, dass man Aldi und Edeka aufs Gelände bringen wollte. Das war erst mal sehr grotesk! Es war schon wichtig, dass man in diesem Prozess darstellte, wie sich das Ganze entwickeln würde, und dass dies die Stiftung, ich sag mal, nicht retten, aber zumindest für die Zukunft hilfreich unterstützen könnte. Die Mitarbeitervertreter*innen musste man natürlich mitnehmen. Die waren immer dabei.

Es gab sehr viele, ich sag mal, Querköpfe, die uns das Leben schwermachten und immer Bedenkenträger waren. Aber es war großartig, in diesem Fall den Vorstandsvorsitzenden oder dieses Team von Herrn Kraft und Herrn Baumbach zu haben, vor allem Herrn Baumbach, der ein starker Motor war und auch großartige Reden geschwungen hat, um so einen Aufbruch zu erzeugen, und der selbst anpackte. Ich erinnere mich an die Situation auf der ersten Baustelle: Er hat sich selbst in den Bagger gesetzt und dann selbst das erste Gebäude abgerissen. Er war so kraftvoll und voller Tatendrang. Er hat die Leute mitgerissen. Das war das Beeindruckende. Man schafft es nicht, bei so einer Wahnsinnsinvestition, bei diesen unglaublichen Veränderungsprozessen alle mitzunehmen und die Ängste wegzunehmen, wenn man nicht so einen starken Motor hat.

Schulz: Wann genau war der Hebel umgelegt auf die neue Richtung? Ich erinnere mich noch an die ersten Ideen dazu, wie das Gelände heißen könnte, zum Beispiel war Alsterkarree einer dieser Arbeitsbegriffe. Alsterdorfer Markt kam viel später als Begriff. Wann war der Hebel eindeutig umgelegt auf das konkrete Bemühen, einen Discounter und weitere Ladenbetreiber für den Markt zu suchen?

Winckler: Wir haben uns von der ECE-Gruppe beraten lassen, die letztendlich erfolgreich …

Schulz: ECE-Gruppe müsstest du für die Zuschauerinnen und Zuschauer noch mal erklären.

Winckler: Die ECE-Gruppe beschäftigt sich mit Einkaufszentren weltweit, eigentlich vor allem europaweit, aber natürlich auch in Deutschland. Beispiele dafür sind das Alsterdorfer Einkaufszentrum und das Elbeeinkaufszentrum. All das sind Konzeptionen, die von ECE gemacht wurden, die Spezialisten sind auf dem Gebiet, wie größere Shopping-Malls mit größeren Playern und kleineren Playern zusammen funktionieren.

Ich erinnere mich ganz genau, dass man von einem Knochen sprach. Das bedeutet: Man braucht zwei Ankermieter. Der eine ist das eine Ende des Knochens und der andere das andere Ende des Knochens. Diese Knochenenden müssen die Frequenztreiber sein. Ganz viele müssen dort hingehen, weil sie nur dort einkaufen. Die [Läden] dazwischen sind die, die zufällig mitbespielt werden und davon den Nutzen tragen, dass zwischen diesen Knochenenden die Läufe hin und her marschieren.

Damit war relativ klar: Wir brauchen ganz wichtige Player. Ein wichtiger Player war Edeka und der andere war Aldi. Dazwischen ist dann eine Zone, wo man eigene Aktivitäten der Stiftung Alsterdorf unterbringen kann oder eben auch externe. Einmal hatten wir einen dritten Player, der sich, glaube ich, mittlerweile sogar geändert hat, der Drogeriemarkt, der als drittes Knochenende dazwischen funktionierte. Aber das war natürlich ein großes Risiko! Keiner wusste: Wie gehen die Menschen mit Behinderung, die noch auf dem Gelände verblieben waren, mit der Situation Einkaufen bei Aldi um? Wir hatten dann solche Überlegungen wie: Kommen die mit Steinen und bezahlen dann ihre Aldi-Produkte mit Steinen? – Keine Ahnung! Es war eine Unsicherheit, die sich relativ schnell, als es dann realisiert war, nicht wirklich als schwierig darstellte.

Bödewadt: Was das Verkehrsmäßige angeht, haben sich da Ihre Vorstellungen erfüllt? Ich meine zum Beispiel die Verkehrsanbindung innerhalb von Hamburg. Ist da noch was zu machen?

Winckler: Das war ein großes Thema! In dem Moment, wo ich ein Stadtteilzentrum habe, wo fremde Leute auf das Gebiet kommen, braucht es natürlich unglaublich viele Stellplätze, die ich nachweisen muss. Das heißt, man würde von einer Hauptstraße wie der Sengelmannstraße einen Abzweiger machen müssen, der verkehrsmäßig diese Zufahrten und Abfahrten auch wirklich verkraften würde, und das auf einem Gelände, das letztendlich privat ist! Also in dem Punkt gab es eine große Problematik: Ich habe ein Privatgelände und führe da öffentlichen Verkehr drauf. Lange Diskussionen von Darf man in Privatstraßen eigentlich öffentliche Namen haben? bis hin zu Darf ich den Alsterdorf Markt Alsterdorfer Markt nennen, wenn es ein Privatgelände ist? Es hat sehr lange gedauert, bis wir dann auch eine Namensgebung für die einzelnen Straßen hatten. Vorher waren es immer nur die Häuser, Haus 1, Haus 2, oder die Häuser hatten Namen und nachher gab es einfach Straßen mit den Hausnummern dran.

Schulz: Wie konnte das gelöst werden? Gab’s da rechtliche Probleme?

Winckler: Da gab’s rechtliche Probleme. Aber das Positive war, die Stadtplanung immer im Boot zu haben und tatsächlich über diese Rahmenplangeschichte auch ein Vertrauen aufzubauen, die ersten Schritte auch realisiert zu haben. So hatten die das Gefühl: Da wird nicht nur etwas erzählt, sondern so umgesetzt, wie wir es gemeinsam abgestimmt haben.

Bödewadt: Können Sie sagen, inwieweit das Alsterdorfer Gelände, der Alsterdorfer Markt, so, wie er in der heutigen Form ist, in Deutschland oder in der Welt bekannt ist?

Winckler: Deutschland und der Welt! Also ich weiß, dass wir, ich glaube 2004, einen europäischen Städtebaupreis …

Schulz: Es gab eine Preiskrönung, genau.

Winckler: War das 2004/2005?

Schulz: Ja, ich vermute.

Winckler: Also, der Alsterdorer Markt wurde, glaube ich, 2003/2004 eröffnet und dann gab’s den DIVA-Award, der uns mit Herrn Baumbach zusammen in München verliehen wurde. Darüber gab es natürlich eine gewisse Publizität.

Schulz: Was für ein Preis war das?

Winckler: Das war ein städtebaulicher Preis. Damit wurde eine Bekanntheit bewirkt. Aber das war nicht das Entscheidende. Das Entscheidende war die Frage: Konnte man sich vorstellen, dass der Alsterdorfer Markt in dem Stadtteil überhaupt anschlagen und funktionieren und irgendwann Normalität in das Gelände kommen würde?

Zurückblickend, jetzt sind es bald über 20 Jahre, kann man sagen: Wer das früher nicht miterlebt hat, für den ist es völlig normal, dass das Stadtteilzentrum dort ist und dass der Alsterdorfer Markt vermutlich immer da war. Keiner kann sich vorstellen, wie das war, als es eingezäunt war.

Schulz: Genauso wenig, glaube ich, konnten sich die Menschen damals vorstellen, was daraus werden könnte. Insofern muss man da noch mal hinschauen: Wer war der Treiber bei dieser Vision, war das eine Mannschaftsleistung von vielen oder würdest du auch da sagen, es gab eine Person, die das wollte, und dann wurde das realisiert?

Winckler: Ich glaube schon, dass es ohne Rolf Baumbach nicht funktioniert hätte. Es gab so unglaublich viele Hürden, die man sich gar nicht mehr vorstellen kann, und was da alles für Themen aufkamen: Auf einmal wird ein Gelände geöffnet und auf einmal gibt es Wegeverbindungen, die von Süden nach Norden, von Westen nach Osten über ein Privatgelände geführt werden! Das barrierefrei und behindertengerecht zu lösen bei so vielen Dingen, die im Wege standen, dazu brauchte man einen starken Player, der diese Hindernisse einfach vom Tisch räumte.

Bödewadt: Ich bin ja Bergedorferin und in Bergedorf gibt es das so nicht. Können Sie sich vorstellen, dass man da vielleicht auch mal so etwas etablieren könnte und vielleicht auch in anderen Stadtteilen von Hamburg, denn Hamburg hat ja viele Stadtteile?

Winckler: Also, ich glaube, das ist immer gut, vielleicht ein gutes Beispiel dazu: Wir sind beauftragt und machen gerade die städtebauliche Entwicklung für das Hospital zum Heiligen Geist, eigentlich ein sehr ähnlicher Prozess. Es ist der größte Anbieter für Senioren mit allem, was dazugehört, die älteste Stiftung Hamburgs, in den 1960er- oder 1970er-Jahren gebaut. Da leben 1.100 Menschen und ähnlich wie in Alsterdorf sind die Wohnformen komplett veraltet. Die Idee: Alles wegschieben und überlegen, wie sieht denn eigentlich die Welt für die Senioren idealerweise aus? Es ist da genau dasselbe Thema: Die wollen nicht abgehängt sein, da soll Öffentlichkeit rein, da soll ein Kindergarten sein, da soll ein Stadtteilzentrum sein, da soll ein Edeka, ein Aldi usw. sein können, sodass ein normales Leben stattfindet und die Senioren auf diesem Gebiet nicht abgegrenzt sind. Ich glaube, es gibt in allen Bereichen Ansiedlungen, die sehr monolithisch sind.

Bödewadt: Jetzt werden Menschen mit Behinderung auch alt. Wenn ich alt werde, stelle ich mir vor, in einem Mehrgenerationenhaus zu leben. Was können Sie alten Menschen mit Behinderung für die Zukunft zum Wohnen anbieten?

Winckler: Wir gehen jetzt mal von Alsterdorf weg, denn das Tolle ist ja die Auflösung des Prozesses. Es geht generell nicht mehr um die Zentralisierung, dass nur die alten Menschen oder Menschen mit Behinderung zusammenleben, sondern der Prozess war die Auflösung in die Stadtteile: Jeder soll so leben können, wie er will. Mittlerweile ist Barrierefreiheit eine Pflicht im Wohnungsbau und diese [gesetzliche] Verankerung ist eine sehr glückliche Fügung. So und so viele Anteile von Wohneinheiten müssen barrierefrei und behindertengerecht sein. Das führt dazu, dass man sich inzwischen aussuchen kann, wo man wohnen möchte. Das gab es lange Zeit nicht, dass ich überhaupt so eine Auswahl hatte und überall barrierefrei wohnen kann.

Bödewadt: Ist es denn in Planung, für ältere Menschen mit Behinderung auch alternative Wohnformen zu stellen?

Winckler: Das hat natürlich immer etwas mit Förderung zu tun. Seniorenwohnen wird auch von der Stadt oder von der IFB, also von der Förderstelle für Wohnungsbau, unterstützt. Es gibt Förderung für Menschen mit Behinderung oder auch Förderung für besondere Menschengruppen. Es gibt natürlich auch Baugemeinschaften, die sich darauf spezialisieren oder die Integration von Menschen mit Behinderung in den Baugemeinschaften führen. Ich glaube, dass es mittlerweile ein Riesenspektrum gib. Es ist wirklich erfreulich, dass es das in Hamburg, aber eben nicht nur in Hamburg gibt.

Schulz: Wenn du dir die aktuelle Entwicklung auf dem Alsterdorfer Markt anschaust, wo gibt es Baustellen, die noch zu regeln sind, und wie erlebst du die neuen Ideen oder Konzepte zum Thema städtebauliches Wohnen auf dem Areal, wo ursprünglich mal die Bugenhagenschule hinsollte.

Winckler: Da stand, ich sag mal, das größte Hochhaus [gemeint ist das ehemalige Carl-Koops-Haus]. Wenn man von oben guckte, sah es eher aus wie ein Gefängnisbau, zentraler Punkt in der Mitte und dann sternförmig die Wohntrakte abgehend. Das war eine Architektur der Kontrolle. Relativ schnell hatte man damals schon entschieden, dass das abgerissen werden sollte. Natürlich ein Wahnsinnsvolumen an Baumasse, die da abgerissen werden musste! Das ist mittlerweile passiert und man denkt darüber nach, dort nicht nur Wohngruppen für Menschen mit Behinderung unterzubringen, sondern ganz normales Wohnen, also das Wohnen, das überall in Hamburg stattfindet. Da wird es dann Menschen mit Behinderung, ältere Menschen, jüngere Menschen, Studenten geben. Das soll ein Mix und nicht mehr ein spezielles Wohnen werden. Eigentlich sollen alle dort wohnen können. Für diese Idee gab es einen Wettbewerb. Das wird gerade realisiert, natürlich mit dem immer noch gültigen Rahmenplan, dass man auch den alten Grünzug behalten möchte, der letztendlich – das müsste man darstellen – von Süden nach Westen zur Kirche hin herüberläuft.

Schulz: Wie gut integriert ist das Konzept Straße der Inklusion? Das kennst du wahrscheinlich?

Winkler: Ja, das ist jetzt gerade ausgeschrieben worden.

Schulz: Wie gut ist das in die Gesamtentwicklung integriert?

Winckler: Das wird sich zeigen. Darin ist auch ein Teil, der sich mit der Landschaftsarchitektur beschäftigt und mit den vor allem alten Gebäuden, die saniert werden müssen. Ich glaube, wie sich das darstellen wird, hängt ganz stark von der Nutzung ab. Aber das, was Rolf Baumbach als starker Motor gemacht hat, ist natürlich heute schwer zu finden. In der heutigen Zeit jemanden zu finden, der den Mut hat, tatsächlich etwas zu riskieren, Wege zu gehen, die nicht ganz normal sind, dafür gibt es zu viele Ängste. Das ist im Moment noch ein bisschen der Fall. Viele denken darüber nach: Wenn ich etwas mache, was hat das für Auswirkungen und könnte das problematisch werden?

Bödewadt: Mir fällt noch etwas ein zum Thema Wohnen für Frauen. Es gibt Frauen, die würden gerne geschützter wohnen, auch Frauen mit Behinderung. Was machen Sie da? Ist da auch etwas geplant oder ist da schon was passiert?

Winckler: Also nicht auf dem Gelände. Ich weiß nicht, ob es für diese Form von Gruppen Baugemeinschaften gibt, aber es ist so, dass in Hamburg bei größeren Bauprojekten eigentlich immer ein Baugemeinschaftsprojekt mitgefördert werden soll. Da kann man sich mit einem Konzept bewerben. Da gibt es das Haus für Musiker, da gibt es das Haus für Menschen mit Behinderung, da gibt es das Haus für alle möglichen Themen.

Natürlich wäre das auch ein Thema, für das man sich bewerben könnte. Eine Gruppe schließt sich zusammen, möchte gerne zusammenwohnen und bewirbt sich dann auf ein Grundstück und hat dann die Chance, so etwas zu realisieren.

Bödewadt: Also, es gibt so etwas in Hamburg, ein Frauenprojekt. Ist das auch für die Zukunft für den Alsterdorfer Markt geplant?

Winckler: Es geht immer um Normalität. Normalität heißt, dass alles möglich ist. Alle Wohnformen sollen dargestellt sein und können sich da platzieren. Warum sollte das nicht auch ein Thema sein?

Schulz: Ich muss auf die Zeit schauen, möchte gerne noch eine Frage stellen. Wenn die Menschen in 20 Jahren auf den Alsterdorfer Markt schauen: Wie modern werden die das noch erleben oder wie veraltet wird das wohl sein?

Winckler: Ich hoffe, nicht veraltet! Aber ich gehe davon aus, es sieht komplett anders aus, als wir es jetzt denken. Ob sich der Edeka noch stärker erweitert, weil es gerade so gut läuft, und sich um 1.000 Quadratmeter vergrößert, und der Aldi es vielleicht auch möchte oder ob dieses Konzept Aldi und Edeka auch in 20 Jahren noch funktioniert, das wird keiner voraussehen können. Aber es muss so flexibel sein, dass man noch eine Nachnutzung finden kann, die diesen Markt belebt. Vielleicht gibt es auch ganz andere Konzepte. Das ist schwer zu beantworten.

Schulz: Was bräuchte die Stiftung, damit Akteure und Akteurinnen das proaktiv so betreiben, dass es modern bleibt oder immer wieder wird?

Winckler: Ich glaube, Mut, einfach Mut! Viel Mut, einfach jetzt schon zu denken, was man jetzt nicht denken kann, damit man gut für die Zukunft aufgestellt ist. Ich glaube, das ist das, was Rolf Baumbach in den Prozess eingebracht hat, den Mut, anders zu denken, als man vor 20 oder 25 Jahren denken konnte.

Schulz: Super!

Bödewadt: Herzlichen Dank fürs Mitmachen!

Schulz: Herzlichen Dank, das war ein schönes Schlusswort fürs Interview. Wir schauen mal, wie sich das weiterentwickelt.

Winckler: Hat mir Spaß gemacht!