Mitten in Hamburg

Die Alsterdorfer Anstalten 1945-1979
Ein Buch von Gerda Engelbracht und Andrea Häuser

Die Zeit von 1945 bis 1979 gilt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung wie den Alsterdorfer Anstalten als Zeit des Schweigens über die Vergangenheit,
des Stillstands und der Verwahrung hinter Mauern, Wie viel Gewalt und Zwang prägten diesen Alltag? Wie war das Leben dieser „Welt in der Welt“ wirklich, bis
1979 die Zustände in den Alsterdorfer Anstalten bundesweit zum Thema wurden und Reformen und letztlich die Auflösung der Anstalt auslösten? Eine beeindruckende, spannende Geschichtserzählung über eine fast vergessene
und doch so nahe Zeit. Viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, vor allem auch Menschen mit Behinderung, kommen zu Wort.
Inhaltsverzeichnis

Leseprobe

Arbeitsbedingungen und Arbeitsalltag des Pflegepersonals:
Zwischen Identifikation und Ãœberforderung

In der Diakonie herrschten bis in die 1970er Jahren äußerst unattraktive Arbeits­bedingungen mit ungeregelten Dienstzeiten und schlechter Bezahlung. War unter Herntrich noch unumstritten, dass man „für die Anstalt schafft“ und zurückstecken musste,364 konnte Jensen nicht umhin, eine Angleichung der Gehälter, die Anfang der 1950er Jahre in den Alsterdorfer Anstalten 25 % unter dem Tariflagen,365 an die öffentliche Tarifordnung vorzunehmen. Ansonsten hätte er weder das alte Personal halten, noch neues gewinnen können. 1957 wurden die volle tarifliche Besoldung der gesamten Mitarbeiterschaft und eine Beseitigung des Besoldungsunterschiedes zwi­schen Schwestern und Pflegern eingeführt.366 Drei Jahre später vereinbarte man mit der Mitarbeitervertretung „die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit – in der Pflege auf 48 Wochenstunden, in der Verwaltung und den Wirtschaftsbetrieben auf 45 Stun­den“, und führte damit die 5-Tage-Woche ein.367 1964 erfolgte eine Verkürzung der Arbeitszeit für die Pflegekräfte auf 47 Stunden.368 Allerdings war die Mitbestimmung zu dieser Zeit sehr begrenzt. Die „Ordnung für die Mitarbeiter-Vertretung in den Alsterdorfer Anstalten“ wurde nach Auskunft eines ehemaligen Mitarbeiters „nicht gelebt“.369 Ãœber die Höhe der Gehälter und eventuelle Zulagen entschieden Direk­tor und Stiftungsvorstand „nach Gutsherrenart“. Die Mitarbeitervertretung bekam Entscheidungen des Stiftungsvorstands nur zur Kenntnis und war nicht an der Ent­scheidungsfindung beteiligt.370 Erst 1968 wurde eine das Selbstbestimmungsrecht der Arbeitgeberseite berücksichtigende Mitarbeitervertretungsordnung erlassen.371

Auch wenn man sich offiziell der gesetzlich geregelten Arbeitszeit anglich,372 galt weiterhin das Leitbild des aufopferungsvollen Liebesdienstes. Einern „diakonischen Werk der christlichen Liebestätigkeit“ angemessen, regelte die Dienstordnung Ãœber­stunden, Vertretungen und die Einteilung des Dienstes und unterlief damit die tarifli­chen Regelungen.373 Die Mitarbeiter waren grundsätzlich zum Abend- und Sonntags­dienst verpflichtet,374 und es wurde „erwartet, daß sie im Bedarfsfalle auch über die normale Arbeitszeit hinaus unaufschiebbare dienstliche Aufgaben“ erfüllten.375 Dies führte nicht selten zu einer Wochenarbeitszeit von 70-80 Stunden. Auch in Alsterdorf war das Zwei-Schichtensystem mit einer Tag- und einer Nachtschicht üblich, wobei die Nachtschichten nicht nur vom Pflegepersonal, sondern auch von den Mitarbei­terinnen der Wirtschaftsbetriebe und Werkstätten übernommen werden mussten. Durch den geteilten Dienst der Tagschicht, von früh morgens bis spät abends, einzig unterbrochen von einer zwei- bis dreistündigen Mittagspause, waren die Arbeitstage unverhältnismäßig lang. ,,Diese Arbeitsorganisation setzte voraus, dass die Schwes­tern [und das übrige Pflegepersonal, d. V] in Unterkünften der Krankenanstalten lebten und auf ein eigenständiges Leben jenseits der Anstalt verzichteten.“376

Die unverhältnismäßig langen und nicht planbaren Arbeitszeiten durch Son­derdienste, eine im Vergleich zu anderen Arbeitsplätzen schlechte Bezahlung und auch die Abgeschlossenheit der Anstalt trugen somit nicht gerade zur Attraktivität der Arbeitsplätze in Alsterdorf bei. Zwar erfolgte in den 1950er und 1960er Jahren eine kontinuierliche Zunahme der Mitarbeiterschaft im Pflege- und Ausbildungs­bereich um fast 50 %377 – von 472 im Jahre 1955 auf 675 im Jahre 1967, und dies bei gleichbleibender Anzahl der „Pfleglinge“378 -, doch blieb der Personalmangel und damit die Arbeitsüberlastung nach wie vor aktuell. Eine 1974 entstandene Studie zum Thema „Zufriedenheit und die Wahrnehmung von Arbeitsbedingungen und Einstellungen zu Aspekten der Arbeit beim Pflegepersonal einer Anstalt für geistig Behinderte“ beleuchtete die Gründe für die hohe Fluktuation sowie die Motivation der Mitarbeiterschaft unter Einschluss der Bedeutung des christlichen Glaubens und die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals.379 Die Studie zeigt anschaulich sowohl den Umbruch in der Arbeitsmotivation um 1970, insbesondere bei den jüngeren Beschäftigten, und die Grundlagen für Zufriedenheit besonders bei längerer Zeit in Alsterdorf beschäftigten älteren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen.380

„Hier bleibst du nicht“ – hohe Fluktuation

Georg Mitterhuber ist einer von sechs ehemaligen Schwestern und Pflegern, die über ihre Erinnerungen an den Arbeitsalltag in der Anstalt berichteten.381 Nachdem er den Friseurberuf erlernt hatte, kam er über verwandtschaftliche Beziehungen nach Alsterdorf und fing 1958 im Alter von 24 Jahren im Haus Heinrichshöh, wo drei­ßig Männer mit zum Teil schweren Behinderungen lebten, als Hilfspfleger ohne jede Vorbereitung auf seine Arbeit an. Die Zustände in Haus Heinrichshöh empfand er als katastrophal, dreißig bis vierzig Bewohner in einem Schlafraum und aufgrund der Raumnot und mangelnder sanitärer Vorrichtungen ein unausstehlicher Geruch. Seine erste Reaktion war: ,,Hier bleibst du nicht! Wenn Sie da morgens reingegangen sind, das war katastrophal.“ Von einem Verwandten wurde er darauf hingewiesen, dass das „eine richtige Prüfung“ sei. ,,Wer da besteht, der kann weitermachen, darf dableiben. „382 Hier wird der Dienst als Prüfung geschildert. Die Ãœberwindung des an­fänglichen Schocks über die Zustände in Alsterdorf – Massenschlafsäle, Oberfüllung, mangelhafte sanitäre Einrichtungen -, der bei vielen Interviewpartnerlnnen noch lebendig ist, wurde zu einem Prüfstein dafür, ob man dieser Arbeit gewachsen war. Tatsächlich war es so, das zeigt ein stichprobenartiger Blick in die Personalbücher,383 dass in Alsterdorf eine hohe Fluktuation des Personals vorherrschte. Im „männlichen Bereich“ kündigten viele als Hilfspfleger Eingestellte bereits nach kurzer Zeit, vielfach schon zum nächsten Monat ihre Arbeit wieder auf.384 Andere wurden durch die Anstaltsleitung entlassen, wohl häufig, weil sie nicht geeignet waren (z. B. heißt es zur Begründung „da der Dienst zu schwer“) oder weil sie sich etwas zuschulden kommen ließen (,,Kündigung durch die Anstaltsleitung“, ,,Fristlos d. d. Anstaltsleitung“).385 Für die hohe Fluktuation spielte die Anwerbung des Personals keine unbedeutende Rolle.

Personalsuche 1957
Personalsuche 1957

Es wurde über das Arbeitsamt und über Inserate in Zeitungen akquiriert. Andere Vermittlungsquellen waren „das Amt für Gemeindedienst, Pastoren oder die Bahn­hofsmission. Von den beiden letzteren w[u]rden oft ehemalige Straffällige oder im Le­ben Gescheiterte vermittelt“. Diese Gruppe verließ am ehesten wieder die Anstalt.386 1974 bestätigten immerhin 77 % der Befragten, …

364 TDA ArESA DV, [vermutlich 6, 606. Vorstandssitzung 3.7.1953 „Die Gehälter liegen zur Zeit ca. 5-10 % unter TDA (vermutlich Tarif der Diakonischen Anstalten, d. V.] von 1952. Da die inzwischen eingetretene allgemeine Erhöhung um 20 % nicht eingeführt werden konnte, liegen sie zur Zeit ca. 25 % unter dem TDA. Die niedrigen Löhne und Gehälter haben bislang nicht zu Schwierigkeiten im Betrieb geführt. Es ist hoch anzurechnen, daß der Betriebsrat seit Monaten keine Forderungen gestellt hat.“
365 ArESA DV, 6, Vorstandssitzung 24.9.1954.
366 ArESA DV, 8, beschlossen Vorstandssitzung 7.2.1956.
367 35 Ebd., % S. des 14. Die GesamtaufkBesoldung stieg von 1955 bis 1967 um das Viereinhalbfache, sie betrug 1955 35% des Gesamtaufkommens, 1967 58 %. Diese Steigerung war nur durch die Steigerung der
staatlichen Kostgelder möglich. BuB 1967, Die Mitarbeiterschaft der Alsterdorfer Anstalten. Ein Rückblick auf 12 Jahre von J. Jensen, S. 16-18, hier S. 16.
368 ArESA DV, 296.
369 Erstellt Dienststellen, aufgrund die dder Richtlinien für Mitarbeiterausschüsse in den Einrichtungen, Anstalten und Dienstellen, die dem Werk der Inneren Mission und des Hilfswerks der EKD angeschlossen sind vom 23.11.1962 und aufgrund des Mitarbeitervertretungs-Gesetzes der Ev. luth. Kirche im Hamburgischen Staate vom 4.7.63. Wir danken Dieter Fenker für die telefonische Auskunft.
370 Ebd.
371 Einer Tarifbindung in trat Alsterdorf 1991 bei, allerdings als eine der ersten diakonischen Einrichtungen Deutschland. Ebd.
372 Kreutzer 2005, S. 26. 1956 54-Stunden-Woche, 1958 51 Stunden, 1960 48 Stunden, 1974 dann
40 Stunden.
373 BuB 1967, Die Mitarbeiterschaft der Alsterdorfer Anstalten. Ein Rückblick auf 12 Jahre von J.
Jensen, S. 16-18, hier S. 16.
374 ArESA DV, 697, Dienstordnung vom 15. Juni 1956 (§ 3, 4).
375 Ebd.
376 Kreutzer 2005, S. 18. Vgl. Ähnliches für die Rotenburger Anstalten, Kiss 2011, bes. S. 81.
377 1961/62 Gesamtpersonal 552, 164 Schwestern und Pflegerinnen, 69 Pfleger, 54 Krankenpflege­ und Kinderpflege-Schülerinnen, 8 Lernpfleger und 4 Kochlehrlinge. BuB 1961/62. 1965/66 bereits 661 Mitarbeiterinnen, darunter 262 im Pflegedienst. BuB 1965/66. Im Vergleich dazu fiel die Zahl der Bewohnerinnen leicht ab (1956/57: 1.238; 1961/62 1.208, 1965/66: 1.211).
378 BuB 1967, Die Mitarbeiterschaft der Alsterdorfer Anstalten. Ein Rückblick auf 12 Jahre von J.
Jensen, S. 16-18, hier S. 16.
379 Vgl. Horstmann 1974. Zielperspektive dieser Untersuchung sollte die Veränderung der Organisationsstruktur hin zu einer größeren Zufriedenheit sein. Grundlagen der Daten­erhebung war eine dreiwöchige teilnehmende Beobachtung Horstmanns als Pflegehelfer auf verschiedenen Stationen sowie zehn explorative Interviews und ein darauf aufbauender Fragebogen mit 139 Fragen. Dieser hatte einen Rücklauf von 47 %. Den Fragebogen erhielten insgesamt 304 im Pflegebereich Tätige.
380 Horstmann 1974, S. 36ff.
381 Es handelt sich um zwei Schwestern, die in dem Zeitraum l 940er/l 950er Jahre, zwei Schwestern, die in dem Zeitraum 1960/70er, und zwei Pfleger, die in dem Zeitraum 1950er bis 1970er Jahre ihre primären Erfahrungen gemacht haben.
382 Interview Georg Mitterhuber.
383 ArESA, Personalwesen, Mitarbeiter, weiblich und Mitarbeiter, männlich 1945-1979. Eine
statistische Gesamtauswertung wäre wünschenswert, war hier jedoch nicht zu leisten.
384 Die Vorbildung lässt sich anhand dieser Bücher nicht feststellen. Es kann jedoch davon
ausgegangen werden, dass nur wenige eine pflegerische Ausbildung mitbrachten.
385 ArESA, Personalwesen, Mitarbeiter, weiblich und Mitarbeiter, männlich 1945-1979, z. B. 960, S. 36. ,,Kündigung in gegenseitiger Ãœbereinkunft § 175″. Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches (§ 175 StGB-Deutschland) existierte vom 1. Januar 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe.
386 Horstmann 1974, S. 5.

Mitten in Hamburg
Gerda Engelbracht, Andrea Häuser
Gebundene Ausgabe, 326 Seiten
1. Aufl. Edition (5. September 2013)
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
ISBN-10: ‎ 3170233955
ISBN-13: ‎ 978-3170233959