Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr

Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus
Ein Buch von Michael Wunder, Ingrid Genkel und Harald Jenner

„Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr“ ist ein Satz aus dem Brief des Landesbischofs von Württemberg, D. Theophil Wurm, an den Reichsminister des Inneren, Dr. Frick, vom 19.7.1940. In diesem Brief protestiert Wurm gegen die „Euthanasie“­Maßnahmen.
Das Titelfoto wurde 1938 in den Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. Es zeigt Schwester Alwine Wagener (rechts im Bild) mit ihrer Gruppe (u.a. Frieda Fiebiger, zweite von links, siehe Seite 347). Ein Großteil der abgebildeten behinderten Mädchen wurde 1943 nach Wien deportiert und dort Opfer der „Euthanasie“.
Inhaltsverzeichnis

Leseprobe

Harald Jenner / Michael Wunder
Das Schicksal der jüdischen Bewohner der Alsterdorfer Anstalten

Die jüdischen Patienten und Bewohner von Anstalten und Heimen im Deutschen Reich waren die ersten Opfer dessen, was man im englischen Sprachraum „Holocaust“ nennt, auf Hebräisch „Shoah“, und wofür die Deutschen bezeichnenderweise kein geeignetes Wort gefunden haben.
Der Anteil jüdischer Anstaltsbewohner und Patienten an der jüdischen Bevölke­rung war seit jeher im Deutschen Reich überdurchschnittlich hoch.1 Auch innerhalb des Judentums gab es Erklärungen, die diesen Sachverhalt schuldhaft auf die beson­dere Lebensweise, bestimmte Berufe oder die Heirat innerhalb enger Familiengren­zen zurückführten. Stichhaltiger erscheint aus heutiger Sicht die Erklärung, wonach in der jüdischen Tradition sehr schnell Störungen des Wohlbefindens als Krankheit defi­niert werden und den Gang zum Arzt nach sich ziehen. Frühzeitig wurde ein eigenes System der Wohlfahrtspflege, insbesondere mit Pflegeanstalten und Altersheimen auf­gebaut. Für psychisch Kranke gab es die „Jüdischen Anstalten“ in Bendorf-Sayn und Berlin-Weißensee, außerdem spezielle Abteilungen in staatlichen Anstalten in Lohr am Main (Bayern) und Branitz (Schlesien). Die jüdischen Einrichtungen standen auch Menschen nicht jüdischer Herkunft zur Verfügung, ebenso wie sich viele jüdische Patienten in öffentlichen und privaten nicht jüdischen Einrichtungen befanden. Dies trifft besonders für Hamburg zu, da es im gesamten norddeutschen Raum keine eige­nen jüdischen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkran­kung gab. Jüdische Bürger, die behindert oder psychisch krank waren, wurden daher traditionell in den Alsterdorfer Anstalten oder in Langenhorn untergebracht.
Als ab August 1937 mit der Abschiebung der jüdischen Anstaltsbewohner aus den Alsterdorfer Anstalten systematisch begonnen wurde, war die Verfolgung der Juden im Deutschen Reich schon allgegenwärtig. Bis zum 1. September 1939 wurden 1.448 Gesetze und Verordnungen zur Aussonderung der Juden in Deutschland erlassen. Während sich in den Jahren 1933 bis 1939, ausgelöst durch die zahlreichen Diskrimi­nierungs- und Verfolgungsmaßnahmen, die Zahl der jüdischen Bürger im „Altreich“ durch Auswanderungen von etwa 500.000 auf etwa 214.000 reduzierte, blieb die Zahl der jüdischen Patienten in psychiatrischen Anstalten und Behindertenheimen nahezu konstant.2 War es schon schwierig, ein Einreisevisum beispielsweise für die USA oder Palästina zu bekommen, so war es gänzlich unmöglich, mit einem kranken oder be­hinderten Familienangehörigen zusammen auszuwandern. Statistisch gesehen wuchs damit die Zahl der jüdischen Anstaltsbewohner im Verhältnis zum gesamten jüdi­schen Bevölkerungsanteil und gab so einen zusätzlichen Angriffspunkt zur Hetze und zur Vorbereitung weiterer Verfolgungsmaßnahmen.

Urteil des Reichsfinanzhofes vom 18. März 1937 im Reichssteuerblatt vom April 1937

Ausgangspunkt der Aussonderung der jüdischen Anstaltsbewohner aus den Alsterdorfer Anstalten war ein Urteil des Reichsfinanzhofes vom 18. März 1937.

Dieses Gerichtsurteil bezog sich ausdrücklich auf eine Einrichtung, die der „Erhal­tung, Fortbildung und Verbreitung der Wissenschaft des Judentums“ diente, betraf also nicht die Anstalten der Inneren Mission. Daher war die Angst vor möglichen finan­ziellen Repressalien für die Alsterdorfer Anstalten sachlich unbegründet und für Pastor Friedrich Lensch wohl nur ein Vorwand, die weitere Aufnahme von Juden in den Alsterdorfer Anstalten abzulehnen und die Entlassung aller Juden, die bereits in den Alsterdorfer Anstalten lebten, vorzubereiten. Eine Aufforderung oder Emp­fehlung durch staatliche oder kirchliche Stellen dazu gab es nicht. Lensch handelte hierbei nur auf eigene Initiative. Dass das zitierte Urteil die Anstalten der Inneren Mission, also auch die Alsterdorfer Anstalten, nicht wirklich bedrohte, wird schon dadurch deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt keine andere Anstalt der Inneren Mission ähnlich wie Lensch vorging. Soweit bekannt, verweigerte später von den Anstalten der Inneren Mission nur der Tannenhof bei Remscheid ebenfalls die Aufnahme jüdi­scher Patienten und beschloss, die in der Anstalt befindlichen Juden zu verlegen.
Lensch überraschte mit seinem Vorgehen dann auch die Hamburger Behörden. Im August 1937 wollte die Hamburger Fürsorgebehörde wie gewohnt ein Mädchen in den Alsterdorfer Anstalten unterbringen. Da dieses zweijährige Kind jedoch nach den Nürnberger Gesetzen als „Jüdin“ eingestuft war, lehnte die Aufnahmeabteilung der Alsterdorfer Anstalten die Aufnahme ab. Erstaunt wandte sich der Leiter der ärzt­lichen Abteilung des Fürsorgeamtes an die Direktion der Alsterdorfer Anstalten:

„Bevor ich wegen zukünftig notwendig werdender Unterbringung anderer Patienten in anderen -auswärtigen jüdischen -Anstalten die erforderlichen Maßnahmen treffe und Verhandlungen führe, bitte ich nun um die dortige Stellungnahme, ob jüdische Patienten nur vorübergehend nicht oder überhaupt nicht mehr in Alsterdorf aufge­nommen werden sollen. „

ArESA, NS 2: Bl. 90.

Lensch erklärte nach 1945, man habe durch die Ablehnung die Behörden zu einer deutlichen Stellungnahme gegen die Anwendung des genannten Urteils auf Anstalten der Inneren Mission auffordern wollen. In seiner Antwort vom 21. August 1937 wies Lensch aber auf das Urteil hin und führte aus:

„Wir können es uns selbstverständlich nicht leisten, daß wegen einzelner jüdischer Pat., es befinden sich hier unter 1500 etwa 20, unserer Anstalt der Charakter der Gemeinnützigkeit und Mildtätigkeit abgesprochen wird. Es wäre uns sehr erwünscht, wenn auch seitens der Fürsorgebehörde versucht würde, eine genaue Klärung dieser Frage herbeizuführen. Wir haben bisher [. .. J zunächst noch nichts hinsichtlich der hier aufhältlichen Pat. unternommen, jedoch bis zur Klärung dieser Frage gebeten, uns jüdische Patienten nicht mehr zuzuweisen. Wir sind aber natürlich bereit, wenn wir eine Zusage erhalten, daß uns steuerliche Benachteiligungen nicht erwachsen und der Charakter unserer Anstalt nicht irgendwie in Frage gestellt wird, unter die­sem Vorbehalt weiter aufzunehmen.“

Ebd., Schreiben vom 21.8.1937

Lensch machte also zunächst einmal die Behörden auf die eventuellen Konsequenzen des Finanzhofurteils aufmerksam und bot dann unaufgefordert sogar die Entlassung aller jüdischen Bewohner an. Es ist unwahrscheinlich, dass er wirklich glaubte, von den Behörden der Stadt Hamburg Widerstand gegen ein Urteil erwarten zu können, …

1 Vgl. Hoss, Christiane (1987): Die jüdischen Patienten in den rheinischen Anstalten zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Leipert, Mattias; Styrnal, Rudolf; Schwarzer, Winfried (Hg.): Verlegt nach unbekannt. Sterilisation und Euthanasie in Galkhausen 1933-1945, Köln/Bonn, 60-76.

2 Zu Einschränkungen und Entrechtlichung jüdischer Bürger in der Sozialfürsorge und Betreuung in Hamburg vgl. Lohalm, Uwe (2010): Völkische Wohlfahrtsdiktatur. Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozialistischen Hamburg, München/Hamburg, 395-426.­

Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr
Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner
3. Auflage 2016
(1. Auflage 1987)
Alle Rechte vorbehalten
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Lektorat und Graphik: Matthias Meyer und Ralf Weißleder
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print: ISBN 978-3-17-031532-7
E-Book-Format pdf: ISBN 978-3-17-031533-4